1 Einleitung: Bildungswirtschaft

Unterricht scheint kaum ohne eine Vielzahl an Materialien mit mehr oder weniger starker didaktischer Aufladung denkbar. „Lehr- und Lernmittel“ bilden das „Rückgrat der Schule“ (Oelkers 2010, S. 18). Trotz ihrer unzweifelhaften Relevanz und Notwendigkeit, wurden sie lange Zeit von der Forschung vernachlässigt: „Über das Zustandekommen und die genaue Wirksamkeit von Lehrmitteln ist empirisch nur wenig bekannt […].“ (Oelkers 2010, S. 20; Herv. d. mich) Während zumindest gelegentlich didaktische Forschungen den Anspruch formulieren, einzelne Unterrichtsmaterialien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu untersuchen (vgl. z. B. Möller et al. 2008), ist in jüngster Zeit eine vermehrte Publikationstätigkeit zu verzeichnen, mit der Materialien nicht schlicht als effektive oder weniger effektive Werkzeuge zur Wissensvermittlung vermessen werden. Insbesondere soziologische Arbeiten stellen einen relevanten Bezug dar, wenn es gilt, die Partizipation der Materialien an Bildungsprozessen bzw. die Bedeutung von Dingen im sozialen Geschehen zu analysieren. Der „Material Turn“ hielt und hält Einzug in die Bildungswissenschaften (Sørensen 2009; Fetzer 2010; Kalthoff und Röhl 2011; Nohl 2011; Priem et al. 2012; Wiesemann und Lange 2014; Gebhard et al. 2015; Martens et al. 2015). Anhand der partizipierenden Dinge des Wissens wird dafür sensibilisiert, dass Unterricht mit seiner Ordnung mehr ist als ein moderiertes Sprachgeschehen. So stellt beispielsweise Röhl heraus, dass Dinge aus der schulischen Sammlung zunächst als passende Bestandteile des antizipierten Unterrichts durch die Lehrer(innen) ausgewählt werden müssen, indem sie Dinge auf einen Rollwagen verlegen und arrangieren: „Mit den auf den Rollwagen angeordneten Dingen nehmen die Lehrkräfte eine Ordnung des Unterrichthaltens vorweg und versuchen, den Verlauf des Unterrichts vorab zu gestalten.“ (Röhl 2015, S. 168) Per Rollwagen kann dann ein Raumwechsel vollzogen werden. Unterricht wird demnach bereits an einem dem Klassenraum vorgelagerten Ort (vor)konstituiert: innerhalb der schulischen Materialsammlung. Analog kann vermutet werden – so die Prämisse dieses Artikels –, dass auch an einem anderen, dem Unterricht noch weiter vorgelagertem Ort, versucht wird, über Materialien eine Ordnung des späteren Unterrichthaltens vorwegzunehmen. Denn bevor didaktische Dinge als Unterrichtsmaterialien überhaupt in die Schule gelangen, beginnt ihre Geschichte vielfach anderenorts: Als zu entwickelnde Produkte werden sie innerhalb der Bildungswirtschaft entworfen und produziert. Diese Bildungswirtschaft (so die Selbstbezeichnung der Branche) ist weder eine neue noch eine marginale Begleiterscheinung von modernem Unterricht. Ihre Geschichte und Institutionalisierung reicht weiter zurück. Schon 1920 gründete sich in Deutschland der „Verband der Lehrmittelverleger und -fabrikanten“, fast 100 Jahre später verweist der heutige „Didacta Verband e. V. der Bildungswirtschaft“ auf die Mitgliedschaft von 250 Unternehmen. Für das ökonomische Betreiben von Schule erscheinen kommerzielle Materialien derzeit unabdingbar. So verweist Oelkers auf den kaum vorstellbaren Aufwand der entstünde, wenn alle Lehrer(innen) ihre methodische Freiheit nutzen und eigene „Lehrmittel erfinden“ würden, statt sie anzukaufen (vgl. Oelkers 2010, S. 19). Das oben zitierte Forschungsdesiderat zum „Zustandekommen“ dieser „Lehrmittel“ (vgl. Oelkers 2010, S. 20) ist nach wie vor gravierend. Eben hier setzt die vorliegende Arbeit an: Die Herstellung von Materialien, die den späteren Unterricht beeinflussen, wird außerhalb der Schule beobachtbar (vgl. Kalthoff 2014, S. 876; Lange 2017). Insbesondere durch das Postulat der Akteur-Netzwerk-Theorie, dass es zu einem Anlegen von Handlungsprogrammen in Objekten (vgl. Latour 1996, S. 57) und zur materiellen Übersetzung von Gebrauchsintentionen der Gestalter(innen) kommt (vgl. Latour 2000, S. 226 ff.), stellt sich die Frage, ob die Akteure der Bildungswirtschaft nicht als außerschulische Akteure der schulischen Praxis verstanden werden müssen. Die Frage, was im Unterricht wie gelernt werden soll, wird in der Bildungswirtschaft zumindest vorverhandelt. Vor diesem Hintergrund ist es frappierend, dass der (ökonomischen) Entstehung von Unterrichtsmaterial bisher kaum ein empirisches Interesse zuteilwurde. Ein soziologisches Interesse an der Entstehung unterschiedlichster technischer Geräte ist hingegen tradiert und vermag Anschlüsse zu stiften. In starker Abgrenzung zu einer technikdeterministischen Sichtweise, postulierte eine neuorientierte Techniksoziologie der 1980er-Jahre die technikkonstituierende Rolle der agierenden Entwickler(innen) in sozialen Handlungszusammenhängen. In den empirischen Fokus geraten so Entscheidungsprozesse bei der Technikgenese. Die Analysen führen zu einer sozialkonstruktivistischen Sicht auf die Entstehung (das Machen) von Technik und soziotechnischen Systemen (vgl. z. B. Pinch und Bijker 1987; Rip und Schot 2002). Das empirische Interesse gilt den Aushandlungen, den Kontroversen, dem Grad an interpretativer Flexibilität der Entwürfe, der situativen und retrospektiven Bewertung von Kriterien sowie den Prozessen der „sozialen Schließungen“, mit denen sich Kompromisse realisieren und ein bestimmtes Design durchgesetzt wird (vgl. Rammert 2007, S. 28). Unternehmen werden dabei als Arenen begriffen, in denen unterschiedliche Wahrnehmungs- und Urteilsschemata, Handlungslogiken und Interessen aufeinandertreffen (vgl. Braun-Thürmann 2005, S. 25). Als eine der wenigen Arbeiten, die sich der Arena Bildungswirtschaft zuwendet, ist auf Macgilchrist (2011) und ihre ethnographischen Arbeiten zur Entstehung von schulischen Geschichtsbüchern zu verweisen:

Der hier vertretene analytische Blick auf Bildungsmedienverlage sieht diese nicht mehr als Organisationen der linearen Umsetzung, sondern als Organisationen der Diskursproduktion, deren Grenzen sich durch diskursive Verflechtungen mit anderen Räumen des Sozialen verflüssigen und verschwimmen. Dadurch eröffnen sich neue Möglichkeiten, Einsichten zu gewinnen über besonders brüchige Stellen in den heutigen Wissensordnungen und über Praktiken, durch die das ausgehandelt wird, was als autoritatives und legitimes (schulisches) Wissen gilt. (Macgilchrist 2011, S. 260 f.)

Verlage werden als Organisationen analysiert, „die offizielles (schulisches) Wissen reproduzieren und stabilisieren oder aber auch unterlaufen und destabilisieren.“ (Macgilchrist 2011, S. 248) Ferner geht es um die Frage, wie dieses Wissen Eingang in die Schulbücher findet und welche Akteurinnen und Akteure in welcher Weise in die Produktionsprozesse eingebunden sind (vgl. Macgilchrist 2011, S. 252). Auch der vorliegende Artikel wendet sich der Entstehung und Spezifik von schulischem Wissen zu, beforscht dabei aber nicht primär die Entstehung von Druckerzeugnissen. Vielmehr wird die hervorbringende Entwicklung von originär-haptischen Unterrichtsmaterialien fokussiert. Dabei wird beobachtbar, wie das antizipiert Schulische auf fachwissenschaftlichen „Stoff“ trifft, wie Fremdbilder der Entwickler(innen) – z. B. zu Schüler(inne)n und Bezugswissenschaften – diskutiert und materialisiert werden. Es wird analysierbar, wie unterschiedliche Lernziele als relevant markiert oder marginalisiert werden. In den Blick geraten die Vorstellungen, Entwürfe und Konzepte von schulischem Wissen, die in der Bildungswirtschaft beobachtbar werden, indem gefragt wird, wie diese bei der Materialgestaltung praktisch hervortreten. Wie wird im Alltag der Bildungswirtschaft schulisches Wissen materiell modelliert? Eben dieser Vorgeschichte von Unterrichtsmaterial wendet sich der Artikel zu, indem exemplarisch die Entwicklung eines sachunterrichtlichen Experimentierkoffers analysiert wird.

Mit dem Beitrag wird zunächst (2.) der Projektkontext beschrieben, aus dem die hier vorgestellten Forschungsergebnisse hervorgingen. Die methodische Vorgehensweise wird mit ihren methodologischen Hintergründen transparent gemacht. Die Forschung charakterisiert sich dabei als ethnographisch. Ferner wird das konkrete Forschungsfeld vorgestellt und in seiner Auswahl begründet. In diesem Zuge wird zudem die exemplarisch für die Forschung ausgewählte Produktfamilie beschrieben und mit ihren Konzepten kurz erläutert: Was ist ein schulischer Experimentierkoffer? Ein Einblick in das empirische Material und die zugehörigen Analysen bilden (3.) den Kern des Beitrags. Hierzu werden zwei empirische Situationsausschnitte in einen analytischen Kontrast gebracht. In der ersten Situation wird ein Experiment seitens der Entwickler(innen) letztlich als tendenziell untauglich für die Schule verworfen, in der zweiten Situation wird ein thematisch verwandtes Experiment entwickelt und von den Entwickler(inne)n als gelungen markiert. Die einhergehenden Analysen münden letztlich (4.) in ein Resümee.

2 Forschungskontext und forschungspraktisches Vorgehen

Die mit diesem Artikel vorgestellten empirischen Ergebnisse sind Teilprodukte aus dem DFG-Projekt „Die gewerbliche Entwicklung und Erprobung didaktischer Objekte“.Footnote 1 Das Forschungsprojekt setzt bei den eingangs skizzierten Forschungsdesideraten zur Genese von Unterrichtsmaterial an. Es widmet sich (auch in einem praxeologischen Sinn) der Hervorbringung dieser Materialien bzw. dem Wie ihrer Entstehung. Erforscht werden somit die situativen Herstellungs- und Gestaltungsprozesse innerhalb der Bildungswirtschaft. In seiner Entstehung begleitet und exemplarisch ausgewählt wurde ein Experimentierkoffer für den Sachunterricht. Schulische Lernkoffer existieren für die unterschiedlichsten Themen, Schulformen und Fächer. Besonders tradiert sind sie jedoch für das naturwissenschaftliche Lernen. Die Kofferinhalte spiegeln die Breite und Heterogenität von Unterrichtsmaterial, sie können als Micro-Sample schulischer Dinge verstanden werden: Die Koffer beheimaten vielfältige Dinge, teils sind sie sehr alltäglich, teils sehr speziell, fachwissenschaftlich oder didaktisch. Herstellerübergreifend ist es üblich, dass die Koffer mit zugehörigen Unterlagen für Lehrer(innen) und Kopiervorlagen für Schüler(innen) entwickelt werden. Damit wird ein unterrichtlicher Wirkzusammenhang zwischen haptischen Materialien, schriftsprachlichen Instruktionen, Lehrer(innen) und Schüler(innen) vorgeplant sowie zum Kauf angeboten.

Das Projekt orientiert sich an der neueren Wissenschaftsforschung (vgl. z. B. Knorr-Cetina 1981; Latour und Woolgar 1986), einer kulturanalytischen und akteursfokussierten Unterrichtsforschung (vgl. z. B. Kalthoff 1997; Breidenstein und Kelle 1998; Wiesemann 2000; Boer 2006) sowie der Technikgeneseforschung (vgl. Bijker et al. 1987; Rip und Schot 2002). Gemäß dieser Verortung und der Forschungsfrage wurde das Projekt primär ethnographisch ausgerichtet. Ethnographische Zugänge sind besonders geeignet, um innerhalb von Institutionen und Organisationen die situativen Besonderheiten, Ordnungen, Regelungen und Arbeitsweisen zu verstehen (vgl. Kelle 2011). Die teilnehmende Beobachtung und Partizipation an Situationen ist entscheidend, wenn es darum geht, das „Machen“ von Unterrichtsmaterial zu begreifen. Zentral ist somit die reflexive Präsenz im Feld (vgl. Hirschauer 2001), aus der letztlich dichte Beschreibungen (vgl. Geertz 1983) von Alltag hervorgehen. Orientiert an dieser Methodologie gestaltete sich das forschungspraktische Vorgehen. Als teilnehmender Beobachter war ich in der Produktentwicklung und -erprobung zugegen, nahm an vielfältigen Treffen teil, wurde in E‑Mail-Korrespondenzen sowie Telefonkonferenzen eingebunden und sammelte unterschiedlichste Felddokumente (z. B. Zeit- und Arbeitspläne, Manuskripte von Lehrer- und Schülerhandreichungen, Werbebroschüren, Kataloge). Zur Datengenerierung wurden im Feld durchgängig digitale Audioaufnahmen gespeichert, deren einzelne Zeitpunkte sich über einen Smart-Pen und seine Software den handschriftlichen Feldnotizen zuordnen ließen. Während der Wortlaut, die Betonung einzelner Sprechakte und verschiedene Geräusche so Eingang in eine Audiodatei fanden, wurde schriftlich das festgehalten, was ich zu den jeweiligen Zeitpunkten empfand, interpretierte, tat und sah. Auf diese Weise konnten z. B. auch skizzenhafte Zeichnungen verschiedener Experimentaufbauten präzise dem zugeordnet werden, was beim jeweiligen Experimentverlauf an sprachlichen Aushandlungen zu hören war. Zurück am Schreibtisch wurden die Audiodateien mehrfach gehört, zunächst transkribiert und in die Analysesoftware „MAXQDA“ übertragen. Unter Hinzuziehung der handschriftlichen Feldnotizen wurden die Transkripte verdichtet. Auch im Feld gemachte Fotos und kurze Videos von Experimentverläufen u. a. dienten dieser textlichen Verdichtung. Die so entstandenen Beschreibungen wurden mit Bezug zur Grounded Theory analysiert. Neben dem grundsätzlichen Postulat der Verwobenheit von Theorie und Empirie (vgl. Strauss 1994, S. 70), war das Zirkulieren von Schreibtisch- und Feldphasen ein bedeutendes Element für die Arbeit. Diese Forschungsstrategie kam den in punktuellen Meetings organisierten Arbeitsweisen des Feldes entgegen. Die Strategie baut darauf, dass durch erste Analysen relevant erscheinende Fragen und Phänomene entdeckt werden, die dann wiederum spezifischere und fokussiertere Beobachtungen ermöglichen. Die Suche nach Gegenüberstellungen, Varianten und Kontrasten hat für dieses „theoretical sampling“ eine große Relevanz (vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 150) und wurde auch im Projekt betrieben. Hierzu wurden in den Beschreibungen zunächst analytische Indikatoren ausgemacht. Durch das genaue Vergleichen von sich ähnelnden Indikatoren entstanden Gruppierungen, die auf Konzepte verwiesen und durch offenes Kodieren vorläufige Begriffe erhielten. Mit zunehmenden Indikatorvarianten, die sich in ihrer Bedeutung für ihr Konzept glichen, stärkten sich die Sättigungen der Eigenschaften von Konzepten (vgl. Strauss 1994, S. 55). Durch stetiges Wiederentdecken und ausdifferenzierendes Anpassen wurden die Merkmale und Grenzen der Konzepte zunehmend geschärft und weiter abstrahierend kategorisiert. Orientiert am axialen Kodieren wurden in einem folgenden Schritt die wechselseitigen Bezogenheiten der Kategorien aufeinander erschlossen (vgl. Strübing 2008, S. 288). Auf diese Weise entstand ein Netz aus Kategorien, das sich analytisch auf die praktische Arbeit der Akteurinnen und Akteure bezieht. Die selektive Suche nach der einen – im Zentrum stehenden – Schlüsselkategorie, um die sich aufzudeckende Kausalitäten und Ursachen zu gruppieren (vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 78 ff.), wäre den vielfältigen Praktiken und Interessen im Feld nicht gerecht geworden. Das kategoriale Netz beantwortet die Frage, worum es den Akteur(inn)en eigentlich in den Daten geht. Eben diese Frage ist es letztlich, auf die die Grounded Theory zielt (vgl. Strauss 1994, S. 66), und die mit dem vorliegenden Beitrag im Sinn des Geertz’schen „what the hell is going on here?“ verstanden wird. Bei der beschriebenen Analysearbeit galt es jedoch nicht nur das im Feld vermeintlich Vorgefundene zu rekonstruieren, sondern auch den konstitutiven Anteil der eigenen und zugehörigen Forscherrolle zu reflektieren: „Indikatoren aber können aus Phänomenen erst durch das aktive Zutun des Beobachters/Forschers werden, indem dieser Phänomene oder Aspekten von Phänomenen einen auf das theoretische Konzept verweisenden Sinn beimisst.“ (Strübing 2014, S. 53) Diese Konstruktion kann und soll nicht verhindert, wohl aber stetig hinterfragt und produktiv variiert werden – es galt sie offenzuhalten. Neben Forschungswerkstätten waren hierfür die zwischen den wiederkehrenden Feld- und Analysephasen liegenden Projekttreffen hilfreich. In diesen wurden Zwischenergebnisse präsentiert, mit Zweifeln konfrontiert und erörtert. Dabei wurden Anschlüsse des empirischen Materials an verschiedene Theorien diskutiert, die als mögliche und unterschiedlich fokussierte Linsen bzw. Optiken genutzt wurden. Dies geschah im Sinne einer empirischen Theorie: Zentral ist dabei das „(kreative) Aufeinander-Beziehen theoretischer Konzepte und empirischer Daten“ (Kalthoff 2014, S. 870). Wechselseitige Irritationspotentiale werden so ausgearbeitet und genutzt. „Diese Form des soziologischen Theoretisierens zielt auf Erklärung ohne Kausalität und Generalisierung ohne Vorhersage.“ (Kalthoff 2014, S. 870; Herv. i. Orig.).

Der Beitrag zeigt anhand von zwei kontrastiven (aber typischen) Situationsvarianten, wie die verdichteten Beschreibungen aussehen und wie sich beispielhafte Analysekategorien mit ihnen aufzeigen und aufgreifen lassen.

3 Empirisches Material: Unterrichtsplanung außerhalb der Schule

Die Akteurinnen und Akteure im Feld organisieren den Hauptteil ihrer Entwicklungsarbeit in Meetings, also regelmäßigen Arbeitstreffen, zu denen man am runden Tisch zusammenkommt. Diese Situationen sind zunächst sehr sprachlich geprägt, die hier verorteten Diskussionen gehen jedoch oft über in Situationen des probierend-entwerfenden Machens der Experimente: Es wird Hand angelegt, es werden unterschiedliche Materialien arrangiert und getestet. Dieses probierende Bewerten, Modifizieren und Selektieren kann als das Versuchen von Experimenten gefasst werden (Kategorie: Experimentversuch). Über diese Experimentversuche formte sich im Lauf der Entwicklung der Inhalt des Experimentierkoffers. Zwei Situationen dieser Art (die als prototypisch bezeichnet werden können) werden im Folgenden vorgestellt. An ihnen ist ein aus vier Personen bestehendes Kernteam beteiligt: der pensionierte Grundschullehrer Herr Hansmann, der vom Verlag als Herausgeber gewonnen wurde und seine Grundschulerfahrung einbringen soll; der Geschäftsführer des Verlags Herr Schmidt, der einen kaufmännischen Berufshintergrund hat; sowie die Chemikerinnen Frau Dr. Rabe und Frau Dr. Schleier, die die naturwissenschaftliche Expertise beisteuern sollen und für eine außerschulische Bildungseinrichtung arbeiten.

3.1 Experimentversuch 1: im Licht von Alltag und Physik

Mit Bezug auf die zuvor gesichteten Lehrpläne der Bundesländer bringt Frau Rabe nun eine mögliche Frage für Schüler(innen) ein: „Was kann mit Licht passieren?“. Hierzu schlägt sie vor, dass die Kinder unterschiedliche Materialproben mit einer Taschenlampe anleuchten sollen. Allerlei mögliche Gegenstände liegen hierzu auf dem Tisch: Pappe, eine durchsichtige Plexiglas- und eine trübe Milchglasscheibe, Metallfolie sowie einiges mehr. Frau Rabe demonstriert und kommentiert: „Hier wird’s verschluckt, es wird absorbiert … Schattenwerfer [hier] oder durchsichtig [hier].“ Herr Hansmann wendet ein: „Also ich möcht nochmal zurückkommen auf das Anliegen Grundschule. Also, sicherlich geht’s auch um Begriffe lernen: ‚durchsichtig‘, ‚durchscheinend‘ und was wir hier so alles so haben. (1) Ähm aber in welchen Zusammenhang stellen wir das dann? Und wie motivieren wir die Kinder dazu, ähh (1) das also als eine Erkenntnis äh auch zu erleben?“ Mit diesem kritischen Einwand wird klar, dass der Stand des derzeitigen Experiments noch zu schlicht sei, es fehle noch etwas Entscheidendes für die Schultauglichkeit. Frau Rabe bezieht sich mit ihrer Antwort auf die angemahnte Erkenntnis: „Also ich sag mal, einmal ganz wichtig unter der Erkenntnis ähm ‚Ich hab jetzt hier mein Licht (1) und was kann mit dem Licht passieren?‘ Das Licht kann einmal (1) ver-schluckt – absorbiert werden, es kann gestreut werden an der Milchglasscheibe (1) und es kann – das fehlte uns noch – mit nem Spiegel (1) es kann vom Spiegel zurückgeschickt werden.“ Hansmann antwortet lakonisch mit „gut“, das aber eher nach einem „O.K.“ oder „schon klar“ klingt, er führt weiter aus: „Ähm also, die drei Begriffe, so wie Sie mir die kindgemäß formuliert haben, sollen da rauskommen. (3) Da muss aber dann irgend ’nnn Umweltbezug her und dann muss irgendwas her, was ähm die Sache forschenswert macht, ne? Dass es also nicht nur ins Begriffslernen geht.“ Für dieses Forschenswert-Machen müssten entsprechende Aufgabenstellungen gefunden werden. Bei dem Anleuchten der unterschiedlichen Materialproben sei das Problem, so Hansmann, dass Kinder schon vorher wüssten, dass Licht z.B. durch eine Glasscheibe durchscheint.

Mit dem „Anliegen Grundschule“ wird die Schul(stufen)spezifik mahnend als notwendiges Kriterium hervorgehoben. Es dürfe nicht ausschließlich oder primär um die Vermittlung von Fachbegriffen gehen, die aus den Bezugswissenschaften extrahiert und mit einem zugehörigen Experiment gezeigt werden. Mit dieser Bedingung wird eine erste Zielsetzung von „gutem“ Schulwissen sichtbar, das die Entwickler(innen) verhandeln. Verknüpft und begründet wird die zugehörige (von Herrn Hansmann eingebrachte) Kritik mit Fremdbildern davon, wie Kinder wären: Da Kinder schon implizites Wissen und bestimmte Alltagserfahrungen zu der geplanten experimentellen Demonstration hätten, sei sie für die Schule besonders untauglich. Da Kinder schon wüssten, dass unterschiedliches Material unterschiedlich lichtdurchlässig sei, biete das vorgeschlagene Experiment keine neue Erkenntnis. Es würde Kinder daher kaum motivieren und mache „die Sache“ – aus antizipierter Schüler(innen)sicht – nicht „forschenswert“. Für die Schule fehle ein Heureka-Moment. Das skizzierte Experiment sei als schulische Aufgabe daher weder hinreichend reizvoll, noch unterrichtstauglich. Eine (neue!) Erkenntnis bzw. ein „Zusammenhang“ sollen durch Experimente „erlebbar“ gemacht werden, so der Anspruch. Letztlich deutet der In-Vivo-Code des „Erkenntnis Erlebens“ als Entwicklungsmaximen darauf hin, dass das fachliche Wissen, das z. B. in Lehrplänen erwähnt wird („Was kann mit Licht passieren?“), schulisch aufbereitet bzw. eingeschult werden muss. Die Kategorie der Einschulung verweist in diesem Sinn auf eine von den Entwickler(inne)n zu leistende Transformationsaufgabe, in dessen Zuge aus dem rein Physikalischen etwas Schulisches gemacht wird.

3.2 Experimentversuch 2: schulische Übersetzungen

Mit dem aktuellen Experiment soll es um gewölbte Spiegel gehen. Man hat ein ca. 20cm * 20cm großes Kunststoffquadrat, auf dem sich eine Spiegelfolie befindet. Dieser Plastikspiegel lässt sich verbiegen. Biegt man die obere und die untere Kante aufeinander zu, so kippt das Spiegelbild ab einem gewissen Punkt. Die mahnende Frage nach dem erklärenden Zusammenhang und dem Erkenntniserleben bei dem Experiment zum Licht liegt noch nicht lange zurück. Frau Rabe setzte an: „Was auch noch (2) jetzt zu gucken: ‚warum is das so?‘ Ähm (2) wie man ’s als Modell eigentlich ganz hübsch nachbauen kann is ja, wenn man auf, ich sag mal, Stäbe drauf macht, die die Lichtstrahlen sind und wenn ich das zusammenbieg, gehen die über[ei]nander und deshalb bin ich aufm Kopf. (1) Wobei, das is natürlich schwer da darzustellen. (1)“ Die Bedenken bezüglich der Darstellbarkeit beziehen sich auf die materielle Konstruktion, Herr Schmidt greift die Grundidee konkretisierend auf: „Also, wenn man sich jetzt vorstellt, man nimmt sich hier so ne (.) Schattenstabfigur (3), leimt die hier an (1) und jetzt biegt man das, ja?“ Frau Rabe stimmt zu und ergänzt: „Und dann sieht man, dass das nach unten geht und das andere nach oben. (3)“ Geplante sind also Lichtstrahlen als Stäbe, die sich beim Biegen kreuzen und in dem Moment in dem sie sich kreuzen, kippt das Bild – man steht im Spiegel auf dem Kopf. Herr Schmidt wirkt begeistert: „Cool, könnte man machen. Ja. (3)“ Herr Hansmann fragt hingegen etwas kritisch: „Is es damit schon hinreichend erklärt?“ Frau Rabe entwirft daraufhin eine Idee zur materiellen Modifikation, mit der die Erklärung noch einmal verdeutlicht werden soll: „W:ir machen so eine[n] Stab drauf, wo oben ’n Auge is und einer [unten] wo ’n Mund drauf is – kann man ja einfach ’n Pappding oder sowas dann draufmachen – und wenn ich das jetzt umbiege, seh ich, dass die Augen nach unten gehen und der Mund nach oben (1).“ Auge und Mund aus Pappe am Stab sowie (mehr oder weniger) deckungsgleich Auge und Mund des Kindes im Spiegel tauschen so synchron oben und unten. Die Stimmung im Raum ist zustimmend, man diskutiert die mögliche Materialkonkretisierung: Fahrradspeichen werden als zu gefährlich eingeschätzt, Trinkhalme werden für möglich gehalten, eine gewisse Länge der Stäbe wird als nötig angesehen (Frau Rabe: „Ich muss ja zeigen, dass Lichtstrahlen irgendwie überkreuz gehen und wenn ich da längere Stäbe hab …“). Herr Hansmann meint, dass sich da schon etwas Passendes finden wird: „Also, wir stecken irgendwas durch, um die Strahlen zu symbolisieren.“ Auch er wirkt inzwischen recht positiv gestimmt: „Also, das wäre wun-der-bar, (1) wenn es so funktionieren könnte. Ich geh mal davon aus: es kann funktionieren.“ Herr Schmidt bilanziert: „Wir probieren das auf jeden Fall aus.“ Hansmann resümiert, dass man damit auf das Thema „Ein- und Ausfallswinkel“ automatisch kommen würde, „ohne davon reden zu müssen und ohne die Begriffe nun (2) [sprachlich] äh füllen zu müssen (1).“

Für das spätere Arbeitsblatt zum Experiment wird die leitende Frage in der Überschrift formuliert: „Wie sehe ich mich im Löffel?“. Als „Lösungssatz“ wird am Ende der Seite vermerkt: „Wenn der Spiegel verbogen ist, wandert der Lichtstrahl in eine andere Richtung, das Spiegelbild verändert sich.“ Die Überschrift und der Lösungssatz klammern zudem verschiedene Vorgaben, Handlungsanweisungen, Zwischenfragen und Angaben, wie das Material zu arrangieren ist, damit das Experiment systematisch durchzuführen bzw. Schritt für Schritt im Unterricht zu reproduzieren ist.

Die Entwickler(innen) entwerfen situativ ein materielles Arrangement samt zugehörigem Arbeitsblatt, von dessen Schulfähigkeit sie sich überzeugt zeigen. Im Gegensatz zum ersten Experimentversuch leitet Frau Rabe damit ein, dass mit dem aktuellen Arrangement eine Warum-Erklärung als Erkenntnis für Schüler(innen) in Aussicht steht. Es wird angenommen, dass die als prototypisch konzipierten Schüler(innen) damit produktiv etwas Neues lernen können. Hierauf verweist die bewertende Begeisterung vom Verleger Schmidt („Cool, könnte man machen.“) ebenso wie die Frage von Herrn Hansmann: „Is es damit [im aktuellen Stadium] schon hinreichend erklärt?“ Diese Frage wäre beim ersten Experimentversuch kaum denkbar, da mit diesem nichts kausal erklärt werden sollte, der Versuch allenfalls zu Zwecken der Demonstration bzw. Erfahrungsvertiefung genutzt werden sollte und sich auf etwas bezog, das Schüler(innen) ohnehin schon wüssten. Die Frage von Hansmann mag zwar kritisch sein, verdeutlicht aber, dass man sich auf dem richtigen Weg befindet: Die Erklärung wirkt greifbar, ist derzeit eventuell noch nicht hinreichend, kann aber ergänzend ausgestaltet werden. Dieser Gestaltung wendet man sich im Anschluss weiter zu. Es wird eine materielle Modifikation des Arrangements entwickelt, die – so wird angenommen – den Schüler(inne)n beim Warum-Verständnis hilfreich sein wird. Die resultierende positive Stimmung im Raum versprachlicht der Grundschulpraktiker mit einer anerkennenden Einschätzung: „Ich geh mal davon aus: es kann funktionieren.“ Dies zeigt, dass der zweite Experimentversuch nach Ansicht der Entwickler(innen) den Merkmalen bzw. Anforderungen von Grundschule zu entsprechen scheint und für motiviertes Lernen sorgen kann. Das weitere Resümee von Hansmann schließt zudem den Bogen, indem eine kritische Kontrastierung zum ersten Experimentversuch impliziert wird. Hansmann sieht mit dem zweiten Experimentversuch einen Automatismus eingelöst, der zum Thema „Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel“ führt und dabei ohne dominante Fachbegriffe auskommt. Das Fehlen einer solchen „Erfahrung von Erkenntnis“ unter Überbetonung des Lernziels der sprachlichen Fachbegriffsexplikation, wurde von ihm zuvor am ersten Experimentversuch als für Grundschüler(innen) untauglich kritisiert. Daher mache der erste Experimentversuch die Sache für Schüler(innen) weder „reizvoll“ noch „forschenswert“. Der zweite Experimentversuch scheint sich hingegen diese Attribute verdient zu haben. Während die Diskussion um den ersten Experimentversuch ersichtlich machte, dass physikalische Wissensbestände, Begriffe und Experimente spezifisch eingeschult werden müssen, gibt der zweite Experimentversuch ein Beispiel dafür ab, wie diese Einschulung von Physik vollzogen wird. In vielen weiteren Situationen deuteten Konzepte wie „Erkenntnis erleben“ oder „Anliegen Grundschule“ auf die Zielsetzung der Wissenseinschulung. Zum Beispiel wurde während der Entwicklung ein Experimentversuch diskutiert, zu dem sich Schüler(innen) als Sonnenstrahlen stur geradlinig entlang eines Einfallswinkels durch den (Klassen)Raum bewegen sollten, um so die Erklärung am eigenen Leib zu erleben, warum Schattenformen hinter bestimmten materiellen Hindernissen entstehen:

Frau Rabe erklärt das mögliche Arbeitsblatt: „Das war das, was – wo ich vorhin so gesagt hab, ‚Lichtstrahlenspiel‘. Wenn man das als Spiel macht: Wir stellen hier ne Reihe Kinder neben[ei]nander auf (2) […] so, und die sollen – die sollen jetzt Lichtstrahlen sein. Die sollen ganz geradeaus LAUfen und sie laufen hier gegen den Tisch. Das heißt, da wo der Tisch steht da hinten kommen keine Kinder, sprich: kein Licht an.“ Schmidt entgegnet ein verstehendes „Mhmh“.

Die empirische Frage nach dem Wie der Einschulung von physikalischem Wissen folgt Latours Postulat zur Erforschung der wissens- und faktenschaffenden Arbeit: „Wir müssen […] die Art betrachten, in der jemand einen anderen davon überzeugt, eine Aussage aufzunehmen, sie weiterzugeben, sie wie eine Tatsache zu gestalten […].“ (Latour 2006, S. 264) Zur Beschreibung dieser Art und Weise arbeitet Latour Übersetzungsprozesse bzw. „Inskriptionen“ heraus. Diese machen Phänomene lesbar, überführen Mikroben in Zeichen oder eine Insel per Zeichnungen in eine Landkarte (vgl. Latour 2006, S. 264 ff.). Die damit einhergehenden Vorteile – z. B. Mobilität, Einbettbarkeit in einen Text – sind wichtig für das Überzeugen der Scientific Community, in der es gilt (verbundene) Verbündete zu gewinnen (vgl. Latour 2006, S. 285 ff.). Mit sehr ähnlichen Aufgaben und Herausforderungen sehen sich auch die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft konfrontiert. Die Schüler(innen) und Lehrer(innen) kommen nicht zu ihnen in den Besprechungsraum, die zur Behandlung vorgesehenen Phänomene müssen mobilisiert werden. So wie der schulische Rollwagen bei Röhl (2015, S. 168) für Mobilität steht, so tut es – geradezu symbolisch – auch der Experimentierkoffer. Für die schulische Behandlung sehen die Entwickler(innen) die Notwendigkeit, Warum-Erklärungen zu formulieren und die Richtigkeit, die Tatsächlichkeit dieser (materiell) zu plausibilisieren. Für den zweiten Experimentversuch wird der „Lösungssatz“ als Quintessenz auf dem zugehörigen Arbeitsblatt festgeschrieben: „Wenn der Spiegel verbogen ist, wandert der Lichtstrahl in eine andere Richtung, das Spiegelbild verändert sich.“ Bezogen auf diese Aussage, die Schüler(innen) aufnehmen sollen, gilt mit den Worten von Frau Rabe: „Ich muss ja [mit dem Material] zeigen, dass Lichtstrahlen irgendwie überkreuz gehen […].“ Dieses überzeugende Zeigen soll das Arrangement leisten. Merksatz und Material werden zu einem aufeinander abgestimmten Gesamtpaket. Das so forcierte „Erleben von Erkenntnis“ wird als schulische Tatsachengestaltung analysierbar. Dabei gehen die Entwickler(innen) nicht – wie die Wissenschaftler bei Latour – von Mikroben oder Küsten aus, sondern von einem (bereits stark übersetzten) abstrakt-mathematisierten Physikkonstrukt: (reflektierte) Lichtstrahlen. Dieses Konstrukt übersetzen sie wiederum in ein greifbares Ding, eine konkrete Materialität (Spiegel mit Stäben), die sie als Teil ihres Experimentierkoffers exportierend um die Welt schicken können. Der beobachtete Übersetzungsprozess ist mehr als eine schlichte Rückübersetzung des Abstrakten, zurück zur vermeintlich vorfindbaren Wirklichkeit in der Natur. Das Ergebnis der Bildungswirtschaft materialisiert ein spezifisches (Grund)Schulwissen, dessen Eigenständigkeit abschließend resümiert wird.

4 Resümee: schulisches Wissen

Mit einer normativen Perspektive auf Naturwissenschaften herrscht im fachdidaktischen Diskurs recht große Einigkeit darüber, was ein Experiment ist: „Das Experiment ist eine wissenschaftliche Methode zur Überprüfung einer Annahme oder einer Fragestellung.“ (Unglaube 2015, S. 495) Als zentrale charakterisierende Kriterien werden typischerweise Planmäßigkeit, Abänderbarkeit, Wiederholbarkeit und Kontrollierbarkeit des Experiments angeführt (Bäuml-Rossnagl 1979, S. 41). Das Experiment der Bildungswirtschaft folgt diesen Maximen zunächst weitläufig: Frage am Anfang, kontrolliert, detailliert geplant, wiederholbar. Dem Element der „Prüfung“ wird jedoch ein weiteres – für die Entwickler(innen) genuin schulisches – Element hinzugefügt: Um eine Warum-Erklärung erlebbar zu machen, wird diese materiell modelliert. Ein (wissenschaftliches) Modell wird häufig definiert „as a representation that abstracts and simplifies a system by focusing on key features to explain and predict scientific phenomena.“ (Schwarz et al. 2009, S. 633; Herv. d. mich.) Orientiert an einem solchen „explain and predict“ arbeiten die Entwickler(innen) des Experimentierkoffers daran, durch die materielle Modellierung eines theoretischen Modells der Physik dieses einzuschulen. Das Ungegenständliche soll greifbar werden um die Motivation der antizipierten Schüler(innen) zu sichern und sie letztlich plastisch zu überzeugen. Begriffe wie „Lichtstrahl“ oder „Ausfallswinkel“ sollen so praktisch nebenbei mit Materialien nachgestellt und fühlend „gefüllt“ werden, statt sie nur als Fachwörter einzuführen. Entworfen wird so das Format einer schulischen Aufgabe samt zugehöriger Tatsache als Merksatz: „Wenn der Spiegel verbogen ist wandert der Lichtstrahl in eine andere Richtung, das Spiegelbild verändert sich.“ Für die Grundschule soll der so formulierte Wissensbestand praktisch experimentell bewiesen werden: Durch handanlegendes Phänomenprüfen und gleichzeitiges Phänomenerklären. Doch zu der Modellvorstellung, in der der schulische Merksatz wurzelt, ist aus physikalischer Sicht anzumerken: Mit dem Modell des Lichtstrahls kommen wir „zur rein geometrischen Behandlung des Lichtweges. Einem einzelnen Lichtstrahl kann jedoch keine physikalische Realität zukommen. Allein die Tatsache, daß Licht eine Energieform darstellt, schließt die Konzentration längs irgendwelcher Strecken aus. Das Strahlenmodell kann deshalb über das reale Wesen des Lichtes nichts aussagen und hat nur eng begrenzte Gültigkeit.“ (Haferkorn 2003, S. 11) Weiter heißt es: „Das Strahlenmodell des Lichtes wirft noch eine weitere Frage auf, die seine Anwendbarkeit auf praktische Probleme betrifft. Ein einzelner Lichtstrahl und sein Verlauf lassen sich mathematisch abstrakt behandeln. Experimentell ist ein einzelner Lichtstrahl nicht zu realisieren.“ (Haferkorn 2003, S. 35) Für die Schule wird nun aber eine experimentelle Behandlung des Lichtstrahlenmodells angelegt, mit der zwei einzelne „Strahlen“ gekreuzt werden sollen. Aus der Maxime der Entwickler(innen), dass das Lernen nicht bei abstrakten Behandlungen von Begriffen stehenbleiben soll, ergibt sich das Handlungsproblem, dass der Lichtstrahl für die Physik genau dies ist: ein abstrakter Begriff, der vermeintlich nur zur mathematischen Behandlung taugt. Weil ein mathematisches Modellieren von Naturphänomenen aber noch kein Thema für die Grundschule ist, kommt es zu dem gemachten didaktischen Arrangement, mit dem die Übersetzungs- und Überzeugungsarbeit geleistet werden soll. Die Bildungswirtschaft nimmt Bezug auf das abstrahierte Lichtstrahlenmodell der Physik, entwickelt aber letztlich etwas ganz Eigenes: eine spezifische Symbiose aus Experiment und Modell. Bei diesem Experimentmodell wird eine kognitive Erklärung haptisch umgesetzt, von der sich eigentlich gar keine echte Entsprechung in der Welt aufzeigen oder erzeugen lässt – „echte“ Lichtstrahlen gibt es nicht. Über die materielle Modellierung eines kognitiven bzw. theoretisch-mathematischen Modells wird ein Modell zweiter Ordnung erzeugt, das zugleich – und im Wortsinn – Teil eines Experiments ist. Das so entstandene materielle Arrangement ist ein logischer Zirkel: Mit bzw. in dem Experiment werden modellhafte Anteile (materiell) angelegt bzw. eingebaut. Dabei zielt das Experiment darauf, diese/seine modellhaften Anteile zu plausibilisieren und die modellhaften Anteile konstituieren und legitimieren ihrerseits das Experiment – sie schaffen den Lernertrag. Die Voraussetzungen enthalten dabei das zu Beweisende bzw. das zu Zeigende (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

„Experimentmodell“ als haptische Umsetzung einer kognitiven Erklärung

Natürlich stoßen schulische Erklärungskonstrukte wie das Experimentmodell an Grenzen, aber das tut die Physik mit ihrem Lichtstrahlmodell auch. Die Gültigkeit ist in beiden Fällen eng begrenzt. Die Entwicklung der Bildungswirtschaft erscheint nicht illegitim, sondern lediglich eigenartig im eigentlichen Wortsinn. Somit soll den Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft nicht unterstellt werden, dass sie etwas falsch oder ungenau fabrizieren. Sie greifen jedoch auf eigene werkzeughafte Vorstellungshilfen und Konstruktionen zurück. Dabei ähneln sich die prozessierten Vorgehensweisen und allgemeinen Herausforderungen in Naturwissenschaft und Bildungswirtschaft (z. B. Mobilisierung durch Übersetzungsprozesse). Zudem liegt eine Gemeinsamkeit insofern vor, als dass weder eine geometrische Linie noch ein Plastikstab viel mit dem Licht der kindlichen Erfahrungswelt gemein haben. Doch entgegen einer Lebensweltorientierung im Sinn akademischer Diskurse der Fachdidaktik (vgl. z. B. Kahlert 2002) wird eben hier die didaktische Stärke gesehen: Das alltägliche Licht in der Welt sei den Kindern über ihr implizites Wissen in einem Maß bekannt, dass es für schulische Lernaufgaben nicht unmittelbar tauge (siehe Experimentversuch 1). Ebenso wenig erscheinen das Wissen, die Begriffe, Materialien und Inskriptionen der Physik unmittelbar grundschultauglich. Mit den Analysen wird die in der Bildungswirtschaft entworfene Spezifik des schulischen Wissens gegenüber Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen sichtbar. Die beobachtete Praxis ist mehr als eine Reproduktion oder ein Duplizieren von bereits entstandenen Wissensbeständen. Während z. B. der in der Kritik stehende erste Experimentversuch eher ein klassisches Experiment im Sinn der Physik ist, mit dem es um ein Prüfen geht, ohne dass modellhafte Gedanken materialisiert werden, ist der zweite Versuch, der einen schulischen Reiz anbieten würde, eben durch die materielle Symbiose aus Modell und Experiment gekennzeichnet. Durch die bei der Entwicklung aufgezeigte schulische Übersetzung von Physikwissen kommt es zu Transformationen und einhergehenden Bedeutungsverschiebungen. Aus dem Lichtstrahlmodell als mathematisch-operativem Werkzeug wird eine hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft optimierte haptische Beweisführung, deren Präsentation sich mit dem Anspruch auf alleinige Tatsächlichkeit zu einem schulisch-erklärenden Merksatz zuspitzt. So zeigt sich am empirischen Beispiel, wie Wissen von den Entwickler(inne)n geformt und mit Objekten verknüpft wird. Fremdbilder davon, was Schüler(innen) in der Schule wie lernen sollen, was sie in welcher Weise interessiert, schon wissen oder überzeugt, figurieren das Arrangement ebenso wie ausgewählte (und zu transformierende) Wissensbestände der Physik. Als Endprodukt der analysierten Situation wird dabei das Experimentmodell materiell geformt, dessen aufgezeigte Spezifik darin liegt, dass es einen Wissensbestand sowohl schulisch prüfbar als auch gleichzeitig erklärbar zu machen versucht. Mit dem damit einhergehenden Ineinanderfließen von experimentellen und modellhaften Anteilen, sehen die Entwickler(innen) in der Situation ihren unterrichtlichen Anspruch eingelöst: Sie markieren das Produkt als schulfähig.