1 Die Allgegenwart des Begleitens in beruflichen- und institutionellen Selbstbeschreibungen sowie deren Nichtthematisierung in der Erziehungswissenschaft

Im Datenkorpus der diesem Beitrag zugrunde liegtFootnote 1, zeichnet sich ein bemerkenswertes Phänomen ab: Im Elementarbereich, in der Grundschule, der Sekundarstufe I und II, der Sozialpädagogik, der Erwachsenenbildung und den Hochschulen – also in den verschiedensten pädagogischen Arbeitsfeldern – rekurrieren die Träger pädagogischer Leistungsrollen immer wieder auf den Begriff der Begleitung.

Die Bedeutung dieser Wendung für die pädagogisch Tätigen kann an einigen beispielhaften Sequenzen illustriert werden. Die Leiterin einer Kindertagesstätte wählt den Terminus Begleitung, um mit Blick auf die Zielgruppe die Spannweite ihrer Klientenbezüge anzudeuten: „Wir begleiten sie im Grunde vom ersten Lebensjahr an. In der Beratung teilweise früher bis zum Erwachsenendasein und zwar in allen Lebenssituationen, in denen sie Kontakt mit uns haben möchten oder müssen.“ Eine Grundschullehrerin sieht die Begleitung als eine natürliche Folge im zeitlichen Vollzug des Unterrichts und als Konkretisierung des Unterstützungsauftrags der Schule: Neben der Wissensvermittlung sei ihre Aufgabe auch, „die Kinder zu begleiten vier Jahre lang in ihrem Lernprozess und ihnen natürlich möglichst viel Unterstützung zu geben“. Auch Akteure der Erwachsenenbildung greifen auf den Begriff zurück, wenn es etwa um die Etablierung eines qualitativ hochwertigen Arbeitsbündnisses und einer Anerkennungskultur im Zuge einer durch persönliche Nähe gekennzeichneten Lehr-Lernsituationen geht: „Wertschätzend sein, dass ist glaub ich ein absolutes Muss für jeden Trainer, weil Menschen in einem Lernprozess zu begleiten ist ja doch durchaus zu weilen doch was sehr intimes.“

Wenn Erzieherinnen, (Hochschul‑)Lehrer, Sozial- und Erwachsenenpädagogen von Begleiten (als Substantivierung des Verbs „begleiten“) oder von Begleitung (als Suffix) sprechen, so reden sie nicht als Alltagsmenschen, sie artikulieren sich nicht privat. Vielmehr äußern sie sich als Angehörige einer spezifischen sozialen Welt (vgl. Nittel 2011), und zwar im Medium beruflicher Selbstbeschreibungen (vgl. Nittel 2002). Diese haben als kollektiv geteilte, in der Regel mündlich ventilierte Wissensform, die Aufgabe, dass pädagogische Praktiker im Spannungsverhältnis von Routine und Krise elementare Phänomene im Zusammenhang mit ihrem beruflichen Auftrag (Mandat) und ihrer beruflichen Erlaubnis (Lizenz) sprachlich kommunizieren (vgl. Nittel 2002). Sowohl gegenüber Angehörigen der eigenen sozialen Welt als auch gegenüber der Öffentlichkeit teilen sie mit dem Sachverhaltsschemata des Erzählens oder der Beschreibung mit, „was man tut“, in welcher Kombination die pädagogischen Praktiken zur Geltung kommen, „wie man es tut und welche Qualifikationen dazu notwendig sind“ (vgl. Nittel 2002). Gleichzeitig liefern sie im Medium des Sachverhaltsschemas der Argumentation eine Begründung dafür, „warum man etwas tut“, mit welchem Ziel dies geschieht und welche Sinnquellen dabei wichtig sind.

Während berufliche Selbstbeschreibungen primär die Sinnwelt des Berufs betreffen, bieten institutionelle Selbstbeschreibungen einen Zugang zur Sphäre der Organisation (vgl. Luhmann 2000). Institutionelle Selbstbeschreibungen verstehen wir als kommunikative Gattung, mit der „die Organisation sich selbst identifiziert“ (Luhmann 2000, S. 417). Konzepte, Leitbilder und Konzeptionen lassen sich als eine Art einheitsstiftendes Gedächtnis der jeweiligen Einrichtung begreifen. In ihr kann der organisationale Auftrag, zentrale Wertvorstellungen, die Historie oder zentrale Kooperationspartner festgehalten werden. Der Überraschungseffekt im Hinblick auf Begleitung setzt sich auch auf dieser Organisationsebene fort. Denn auch in den, zumeist im Internet verfügbaren, Texten von Einrichtungen des Erziehungs- und Bildungswesen wird bildungsbereichsübergreifend von Begleitung und Begleiten geredet. Begleitung wird thematisiert, wenn in einer von Sozialpädagogen geleiteten Einrichtung für Jugendliche die normative Dimension in der Grundhaltung der prozessorientierten Arbeit entfaltet wird: „Annahme und Akzeptanz, Wertschätzung und Vertrauen sind die Grundlage in der Begleitung junger Menschen“ (Heilhaus Kassel, 1–4). Viele Einrichtungen neigen dazu, Beratung und Begleitung in einem Atemzug zu nennen (kafa 1–8). Wenn eine Einrichtung für Sehbehinderte ihr institutionelles Mandat auf den Punkt zu bringen versucht, so ist dabei ebenfalls von Begleitung die Rede: „Wir begleiten sehbehinderte und blinde Menschen auf ihrem Weg, eigene Fähigkeiten zu entdecken, Persönlichkeit zu entfalten und Verantwortung zu übernehmen“ (Blista 8–06). In der Erwachsenenbildung wird im Leitbild der KVHS Kassel festgehalten, dass die Volkshochschule „Lebensbegleitendes Lernen ermöglichen und organisieren … [soll, A. d. A.]. Die Volkshochschule begleitet gesellschaftliche Entwicklungen und wirkt sozialen Ungleichheiten im Bildungsbereich entgegen.“ (KVHS Kassel 2016).

Aus dem Umstand, dass Begleiten und Begleitung in den Datensammlungen verschiedenster Forschungsprojekte (s. Fußnote 1) omnipräsent sind, leiten wir den Schluss ab, mit einer gewissen Sicherheit auf ein verallgemeinerbares Phänomen gestoßen zu sein. Nun steht die hier formulierte Entdeckung der strategisch wichtigen Rolle des Begriffs Begleitung in einem auffälligen Kontrast zum Schweigen der Disziplin.Footnote 2 Die Erziehungswissenschaft hat sich bislang offenbar noch nicht veranlasst gesehen, zu der hier angedeuteten Thematik allgemeiner Stellung zu beziehen, d. h., die Handlungslogik dieser Praktik aus einer grundsätzlichen Perspektive zu erschließen.Footnote 3 Zwar wird der Begriff der Begleitung in unterschiedlichen pädagogischen Subwelten (vgl. Giesecke 2015; Grieshammer 2016; Helsper 2016; Smolka 2016) thematisiert, so beispielsweise in der Literatur zur Berufsbildung (vgl. Westhoff und Ernst 2016), der pädagogischen Fachberatung von Kindertagesstätten (vgl. Nolte 2016) oder im Kontext der Gestaltung diverser Übergängen im Lebenslauf (vgl. Fränzel 2011; Bylinski 2014). Entscheidend für uns ist aber: In diesen Publikationen zeigt sich eine tendenziell intuitive Nutzung der Begriffe begleiten und Begleitung und das Fehlen einer jeglichen theoriegeleiteten Definition.

2 Begleitung als Handlungsform: ein Phänomen pädagogischer Berufskulturen

Bei der handlungstheoretischen Erschließung von Begleitung erscheint es sinnvoll, auf den semantischen Gehalt des Begriffs einzugehen. Hier zeichnen sich Anschlüsse zur Pädagogik ab: Aus etymologischer Sicht werden Begleitung und begleiten seit dem 14. Jahrhundert genutzt. Abgeleitet wird es von „be-geleiten ‚das Geleit geben‘“ (Kluge und Seebold 2011, S. 103). Das Deutsche Wörterbuch nennt dann die höchst unterschiedlichen Facetten dieses Begriffs (Grimm und Grimm 2010, S. 587), wobei für diesen Beitrag zwei Dimensionen von besonderer Relevanz sind, die man zweifelsohne der sozialen Welt pädagogisch Tätiger zuschreiben könnte: jemanden zu einem Ziel führen oder unterstützend an jemandes Seite sein (vgl. Grimm und Grimm 2010). Begleitung lenkt damit den Blick auch in etymologischer Hinsicht auf die moderne Pädagogik. Denn immerhin entsteht der Begriff der Pädagogik im Rahmen der Begleitung des Knaben (pais) durch den Paidagogos zu den Lehrern, wobei Begleitung hier bereits eine doppelte Dimension aufweist: Einerseits das räumliche Geleiten von zu Hause in die Schule sowie andererseits den bildungsbezogenen Auftrag an den Paidagogos den pais zu Anstand zu geleiten (vgl. Platon 2006, S. 183c; Plutarch 2012, S. 439 ff.).

Das Begleiten/die Begleitung stellt einen Reflex auf den basalen Tatbestand dar, dass sich das pädagogische Handeln in der Zeit vollzieht, demnach einen prozesshaften Charakter aufweist und die mehr oder weniger kontinuierliche Verfügbarkeit eines pädagogischen Praktikers im jeweiligen institutionellen Ablauf- und Erwartungsmuster einer personenbezogenen Dienstleistung mit einer Ausrichtung auf Erziehung und/oder Bildung voraussetzt.Footnote 4 Begleitung stellt eine Antwort auf das Problem der doppelten Kontingenz im pädagogischen Bezug dar. Sie kann als eine von erkennbaren Zumutungen befreite reine Anwesenheit im Kontext eines pädagogischen Arbeitsbündnisses im Sinne einer potentiellen Adressierbarkeit definiert werden, wobei offen ist, ob sich der Bewährungscharakter der Begleitung eher nach der Seite des Adressaten/Klienten oder nach der der pädagogischen Fachkraft auflöst. Begleitung in der Sinnwelt des pädagogisch-professionellen Handelns gehorcht dabei einer anderen Rationalität als die unserer Lebens- und Alltagswelt. Begleitung scheint so in erster Linie auf die Gestaltung von Übergängen abzuzielen: Der Inhaber einer pädagogischen Leistungsrolle (z. B. Lehrer, Sozialpädagogen) begleitet ein Kind, einen Jugendlichen oder einen Erwachsenen im praktischen Vollzug einer Statuspassage oder einer anderen Transition entweder von einem Segment des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens ins nächste oder vom pädagogisch organisierten System in einem nicht-pädagogischen Handlungskontext, wie etwa beim Übergang ins Berufsleben im Zuge der beruflichen Erstausbildung. Nicht auszuschließen ist dabei, dass die pädagogischen Tätigen in Ermangelung eines anderen Sprachbildes dieses zum Zwecke der Legitimation nutzen.

Die hier in den Blick genommene Kernaktivität der Begleitung bildet bei genauem Hinsehen einen integralen Bestandteil der pädagogischen Routinepraxis sui generis und ist keineswegs den zuvor angedeuteten Übergängen vorbehalten. Begleitung setzt unter Maßgabe hoher Professionalität die Mobilisierung einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit unter Wahrung des pädagogischen Blicks voraus.Footnote 5 Dieser sieht in der Regel zwingend eine spezifische, d. h. im Kern außeralltägliche und wissenschaftsbasierte Diagnose- und Beobachtungskapazität im Sinne einer ethnographischen Kompetenz und die Nutzung von Fremdheit als Erkenntnisquelle vor. Die hier thematisierte Kernaktivität impliziert die Herstellung eines Interaktionsraumes (vgl. Kraus und Meyer 2015), in dem Beziehungen gestiftet und Vertrauensüberschüsse gezielt vergeben werden können. Begleitung erweist sich immer dort als funktional, wo zielgerichtete Beziehungsarbeit geleistet wird, ohne dass die Sachdimension des pädagogischen Mandats dabei ins Hintertreffen geraten darf. In der konkreten Art und Weise der Begleitung wird in der Regel die Sorge um das Wohl des pädagogischen Anderen direkt oder indirekt ausgedrückt. Pädagogisch-professionelle Sorge beruht auf dem obligatorischen Mehrwissen des Praktikers über mögliche Fallentwicklungen und die damit verbundenen Risiken. Auch an dieser Stelle scheint erneut eine klare Distanz zur Sinnwelt des Alltags und der hier vorherrschenden diffusen Beziehungsstruktur (Oevermann 1996) auf. Manchmal ist mit Begleitung auch die Herstellung einer besonders intensiven Interaktionsbeziehung verbunden, die aus der subjektiven Perspektive der pädagogisch Anderen eine biografische Prägekraft haben kann, ohne dass die pädagogischen Praktiker dies vermuten. In solchen Fällen avancieren bestimmte Lehrer, Hochschullehrer oder Sozialpädagogen zu Schlüsselfiguren in der Bildungsbiographie. So darf es nicht verwundern, dass in den beruflichen Selbstbeschreibungen nahezu aller pädagogisch Tätiger sich immer wieder entsprechende Erzählungen von Treffen und Begegnungen mit ehemaligen Schülern, Teilnehmern und Studierenden finden lassen.

Welche weiteren grundlegenden Dimensionen weist die pädagogische Kernaktivität der Begleitung auf? Eine erste wesentliche Differenz liegt in der situationsspezifischen oder der biografischen Begleitung, z. B. Pausenaufsicht vs. Übergangsgestaltung in der Bildungskarriere. Die Interventionstiefe der Begleitung oszilliert dabei zwischen bloßem „Da-Sein“ als scheinbar passiver Dimension bis hin zur Akutintervention im Sinne einer praktisch wirksamen aktiven Hilfe. Dabei gilt es den bereits genannten Aspekt in Rechnung zu stellen, dass sich erst im Zuge der Begleitung zeigt, ob die situationsbezogenen Herausforderungen und Krisen eine Bewährung für den pädagogischen Anderen oder die Fachkraft – oder für beide – darstellt. Begleitung findet statt, wenn ein Lehrer eine Klasse auf einer Freizeit begleitet, Sozialpädagogen eine Art Bereitschaftsdienst verrichten oder Hochschullehrer besonders selbstständig agierende Studierende ohne ausdrücklichen Beratungsbedarf im Prozess der Erstellung einer Abschlussarbeit an der „langen Leine“ gewähren lassen und durch verschiedene Phasen des Schreibens begleiten. In allen drei Fällen signalisieren die pädagogischen Akteure, dass sie da sind und mit konkreten Anliegen ansprechbar bzw. adressierbar sind. Die aktive Seite und eine stark ausgeprägte Interventionstiefe werden manifest, wenn einer Intervention die Abwägung von Handlungsoptionen vorausgeht oder auch wenn ein Notfall schnelles Handeln evoziert, welches über das eigentliche berufliche Mandat hinausreicht. Während das bloße „Da-Sein“ in der Regel die Form eines Routinehandelns annimmt, zeichnet sich die Akutintervention eher durch einen krisenhaften Kontext aus. Der Ausnahmecharakter der Situation verlangt dann eine unkonventionelle, schnelle und manchmal auch nicht immer regelgeleitete Reaktion.

Im uns vorliegenden Datenmaterial zeichnen sich neben „aktiv – passiv“ weitere Dimensionen von Begleitung ab: Sichtbare bzw. offensichtliche Varianten der Begleitung stehen unsichtbaren bzw. subtilen Formen gegenüber. Im folgenden Zitat spricht eine Mitarbeiterin Begleitung sowohl unter der Bedingung einer körperlichen Anwesenheit als auch unter der von Abwesenheit an:

„AH: Und ähm genau, und dann hab ich ähm heute Morgen einen DAF-Kurs gehabt. Die haben heute aber im Selbstlernzentrum gearbeitet und ich hatte damit keinen Kurs. Is natürlich klar, dass ich trotzdem im Büro war und dort ansprechbar war. Ich habe zwischendurch auch immer mal wieder reingeschaut, das kann man bei uns ganz gut. Da sehen die Teilnehmer einen nich sofort und man selber sie aber schon. Klar würde ich helfen, wenn sie fragen. (0.2) ABER eine selbständige Phase beim Lernen ist einfach wichtig. Ich schaue aber trotzdem immer (0.3) Einfach um für später zu wissen, wo stehen die. Wie intensiv haben die gearbeitet.“ (M_EB_EI5, S. 2 Z. 50–56)

Während zu Beginn von der hauptberuflich pädagogisch Tätigen die passive Dimension der Begleitung angesprochen wird: Obwohl eine räumliche Trennung zu ihren Teilnehmenden vorliegt, weiß die Praktikerin letztlich um die Notwendigkeit, jederzeit die eigentlich dominierenden Verwaltungsaktivitäten zugunsten einer direkten Lernbegleitung zu unterbrechen. Daran schließt sie die Erwähnung einer Art aufsuchenden Lernbegleitung an, welche im Vergleich zum davor angesprochenen Interaktionsmodus eine deutlich aktivere Qualität aufweist. In diesem Fall verändert sie, neben der erhöhten Aufmerksamkeit für die Sorgen der Teilnehmenden, auch die Räumlichkeit. Trotz der „Versorgung“ der Teilnehmenden im Selbstlernzentrum setzt die Vermittlungsarbeit im DAF die personenbezogene Begleitung einer „sichtbaren“ Pädagogin voraus. Die hier zitierte Pädagogin scheint zu wissen, was sie tut und erfüllt damit das Kriterium der Professionalität: Sie ist sich darüber im Klaren, wann sie „da“ sein muss und sie besitzt ein Gespür dafür, wann sie die Teilnehmer sich selbst überlassen kann.

Auch die Dauer von Prozessen der Begleitung als weitere Dimension variiert stark in den Selbstbeschreibungen der pädagogischen Praktiker: Wird bei elementarpädagogisch Tätigen sowohl eine kurze Phase der Begleitung im Hinblick auf ein konkretes Vorhaben des Kindes berichtet, stehen solchen Aussagen auch Hinweise einer mehrjährigen Begleitung des kindlichen Lern- und Bildungsprozesses vom ersten Geburtstag oder früher bis zum Übergang in die Schule gegenüber. Mit langfristigen Formen gehen der Aufbau einer bestimmten Interaktionsgeschichte und Phänomene des „gemeinsam-alt-Werdens“ einher. Auch muss auf die Differenz zwischen einer punktuellen und prozessualen Form der Begleitung aufmerksam gemacht werden, die durchaus mit der Intensität der Begleitung korrespondieren kann, ohne dass dies zwangsläufig eine enge Kopplung darstellen muss.

Welche weiteren Dimensionen zeichnen sich unter Berücksichtigung des empirischen Materials ab? Im Kontext der Fallarbeit kann sich die Begleitung auf einen individuellen oder auf einen kollektiven Fall beziehen, so dass deutlich wird, dass die Begleitung keineswegs „persönlichen“ oder „zwischenmenschlichen“ Beziehungen vorbehalten, sondern auch auf Gruppen übertragbar ist. So begleiten Organisationspädagogen ganze Einrichtungen auf dem Weg der Einführung von Qualitätssicherungssystemen, aber sie begleiten auch Individuen, wie etwa Führungskräfte. Begleitung markiert interaktionslogisch den nur schwer via Beobachtung einsehbaren Raum zwischen dem informellen Lernen in pädagogischen Einrichtungen – manche sprechen hier auch vom heimlichen Lehrplan – einerseits und den formalen bzw. nonformalen Qualitäten der jeweiligen pädagogischen Dienstleistung andererseits.

Die Dimensionalisierung der Begleitung lenkt den Fokus auch auf eine strukturelle Paradoxie, die bei sozialpädagogisch ausgebildeten Mitarbeiterinnen des Sozialdienstes in Einrichtungen der stationären Altenhilfe beobachtet werden kann. Hier berichtet in einem Experteninterview eine langjährige Mitarbeiterin (O_SD_EI2, S. 14) am Fall des Einzugs eines Heimbewohners von der widersprüchlichen Erwartung, zwischen der Notwendigkeit des geduldigen Zuwartens und der schnellen Intervention zu changieren (vgl. Schütze 2000, S. 78). Konkreter formuliert: Während es für die Eingewöhnung einerseits notwendig ist, dass der künftige Bewohner Zeit mit anderen Bewohnern verbringt und dies einen Rückzug des pädagogisch Tätigen nach sich zieht, ist es andererseits (im nicht unwahrscheinlichen Fall der psychischen Verschlechterung des Gesundheitsbefindens) notwendig, dass die pädagogisch Tätigen dies bemerken und durch gezielte Ansprache und eine stärkere Einbindung den Prozess der Integration positiv beeinflussen. Das ist im Kern die dialektische Figur des „Führens oder Wachsenlassens“ (Litt 1967). In diesem schmalen Grad der Entscheidung vordergründig nichts zu tun oder einzugreifen formiert sich die Bedingung für die Entstehung eines Arbeitsbündnisses, das auch zu einem späteren Zeitpunkt trotz massiver Irritationen belastbar und tragfähig bleiben muss. Gerade weil mit der Begleitung, wie unscheinbar sie auch immer daher kommen mag, auch berufliche Paradoxien verbunden sind, also ambivalente oder sich ausschließende Erwartungen abgeglichen und „versöhnt“ werden müssen, zeigt dies, dass diese Praxis eine zentrale Herausforderung an die pädagogische Professionalität darstellt.

Eine zentrale Funktion der Kategorie Begleitung in den beruflichen Selbstverständigungen besteht darin, dass die pädagogisch Tätigen immer dann auf diesen Begriff rekurrieren, wenn ihnen im Katalog der sonstigen Kernaktivitäten (Beraten, Organisieren, Sanktionieren, Unterrichten) einerseits kein Terminus passend erscheint, sie andererseits den nicht trivialen Charakter ihres Tun unterstreichen wollen. Das notorische Problem der pädagogischen Kernaktivität Begleitung, nämlich ihre Unsichtbarkeit und das scheinbar Selbstverständliche, ruft in den beruflichen Selbstbeschreibungen die Neigung zu metaphorischen Ausdrucksweisen oder auch echten Wortschöpfungen hervor. So findet sich im Material etwa der Terminus des „beduddelns“. Damit sind die Gefahren der nicht legitimen Erweiterung des Mandats (im Sinne einer Grenzüberschreitung) und die gleichzeitige Transformation des Klienten zu einem infantilisierten signifikanten Anderen gemeint. In einem anderen Interview wird davon gesprochen, dass die Bewohner nach einer Phase der Eingewöhnung „Wurzeln schlagen“ könnten. In dieser Wendung werden die Konsequenzen einer umsichtigen und dezenten Form der Begleitung im Sinne einer Integration in die neue Lebenswelt Pflegeheim angesprochen, und zwar in diesem Fall durch die gezielte Zuführung der Betroffenen durch das Personal zu Bewohnern mit ähnlichen Interessenslagen und sozialen Milieuzugehörigkeiten. Die metaphorischen Ausdrucksweisen beziehen sich zum Teil auch auf die Paraphrasierung der eigenen Rolle als Pädagogen: „In unserer Arbeit sind wir ja so ziemlich alles für die Teilnehmer (0.3) In meinem Fall Mutter, Wegbegleiterin und manchma auch sowas ganz Komisches (.) ich weiß gar net wie man da sagen soll, so so (0.2) eine Art unsichtbarer Superheld.“ (M_EB_GD3, S. 24 Z. 796–799).

Wir halten es abschließend für geboten, die pädagogische Kernaktivität der Begleitung der Kategorie des Helfens/der Hilfe überzuordnen (vgl. Merten und Scherr 2004). Hilfe bezeichnet aus professionstheoretischer Perspektive die aktive, uneigennützige und weitreichende Variante einer Begleitung, genauer: die temporäre Außerkraftsetzung der Autonomie des pädagogischen Anderen unter Maßgabe einer fachlich begründbaren Entscheidung und unter weitgehendem Verzicht auf eine Gegenleistung. Begleitung ist im Gegensatz zur Hilfe wesentlich neutraler und damit voraussetzungsärmer: Während die Begleitung nicht explizit eine Zustimmung des Klienten verlangt, verhält es sich bei der Hilfe anders, da hier Alter Ego das Hilfsangebot zwingend ratifizieren muss (vgl. Gängler 2011). Begleitung ist dagegen die Bedingung zur Möglichkeit der Hilfe und dieser damit vorausgesetzt. Damit kann Hilfe eine mögliche Dimension pädagogischer Begleitung darstellen, ebenso wie keine aktive Unterstützung des Klienten erfolgen und trotzdem pädagogisch durch die Akteure gehandelt wurde („Hilfe zur Selbsthilfe“).

3 Das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens in statu nascendi?

Die vorliegenden empirischen Daten (vgl. Fußnote 1) evozieren aufgrund des breiten Spektrums der in den Blick genommenen Erziehungs- und Bildungsorganisationen neben der handlungstheoretischen auch eine systemtheoretische Auseinandersetzung.Footnote 6 Nur so kann die makrotheoretische Relevanz von Begleitung transparent gemacht werden.

Ebenso wie Dieter Lenzen (vgl. 1997) gehen wir davon aus, dass die Einheit des pädagogischen Systems langfristig nicht mehr durch die Kategorien Erziehung (= Erziehungssystem) oder Bildung (= Bildungssystem) allein begründbar ist (vgl. Nittel 2017). Eine neue Realität evoziert neue Begriffe. Wir halten den Begriff des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens für besonders gut geeignet, um eine klare Grenze gegenüber naturwüchsigen Formen des informellen Lernens in der Lebenspraxis (Sozialisation) zu markieren und dabei aber die Ähnlichkeiten zwischen nonformalem sowie formalem Lernen zu unterstreichen (vgl. Nittel 2010, 2011; Nittel et al. 2014). Als ein sich formierendes pädagogisch organisiertes System des lebenslangen Lernens wird in diesem Beitrag folgendes verstanden: „Pädagogische Praktikerinnen verrichten an ‚pädagogisch Anderen‘ (Kinder, Schülerinnen, Studierende, Auszubildende, Klienten, Teilnehmerinnen usw.) adressierte Erziehungs- und Bildungsarbeit in Einrichtungen, die sich selbst als pädagogisch definieren“ (Nittel et al. 2014, S. 22). Diese tautologisch klingende Definition soll den zirkulären Charakter zentraler Operationen darstellen, von denen im weiteren Darstellungsverlauf noch die Rede sein wird. Wichtige Akteure im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens im Sinne von Elementen sind die haupt-, neben- und freiberuflich sowie ehrenamtlich tätigen Praktikerinnen als Inhaber der Leistungsrollen. Hier sprechen wir von Angehörigen der sozialen Welt pädagogisch Tätiger (Strauss 1990; Nittel 2011; Meyer 2017), die weder per se aus Professionen noch durchgängig aus klassischen Berufen bestehen. Diese unterhalten und pflegen Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbündnisse zu den bereits genannten pädagogisch Anderen im Kontext individueller oder kollektiver Fallarbeit (vgl. Nittel et al. 2014). Die hier adressierten und realisierten Dienstleistungen der Bildung, Erziehung und der Hilfe werden in Einrichtungen realisiert, die über entwickelte Technologien, wie Programme (Studiengänge), Veranstaltungsformen (Vorlesungen, Seminare), Methoden (Gruppenarbeit) und Medien (Tafel, Beamer) verfügen (vgl. Kipper 2014). Flankiert werden diese Technologien durch die einschlägigen pädagogischen Kernaktivitäten (Unterrichten, Beraten usw.) (vgl. Nittel et al. 2014). Die Einrichtungen der Elementarpädagogik, des Schulwesens, des tertiären Bereichs usw. begreifen sich deshalb als pädagogische soziale Einheiten, weil sie in ihren Absichtserklärungen und in ihrem beruflichen Auftrag eine Intentionalität der rollenspezifischen Veränderung im Horizont des Lebenslaufs zur Geltung bringen: Mit ihren auf ganz bestimmten beruflichen Lizenzen beruhenden personenbezogenen Dienstleistungen verfolgen sie moralisch begründete Intentionen, die von Organisationen anderer Funktionssysteme so nicht artikuliert werden (vgl. Nittel 2000). Eine zentrale Leistung des Systems ist die Schaffung von Bedingungen, um Möglichkeiten der Integration in andere Funktionssysteme zu schaffen. Die spezifische Leistung des Systems bezieht sich auf die Herstellung und Bewahrung der Lernfähigkeit und Lernbereitschaft über die gesamte Lebensspanne. Entscheidend ist nicht, ob faktisch gelernt wird, ausschlaggebend ist, dass die Erwartung zu lernen als Erwartungserwartung kommuniziert wird. Dabei findet im günstigsten Fall gesamtgesellschaftlich eine Synchronisierung in der beschleunigten Entwicklung der gesellschaftlichen Funktionssysteme und sozialer Milieus einerseits sowie der biografischen Erfahrungs- und Wissensaufschichtung andererseits statt. Die Autonomie des Subjekts wird gesichert, da auf der individuellen Ebene der Aufbau, die Veränderung, Restitution und Aufrechterhaltung von Identitätsformationen unter Maßgabe universeller Maxime und Zwecke immer nur als Aneignungsoption kommuniziert werden kann.

3.1 Die arbeitsteilige Gestaltung der Humanontogenese und die Transformation des dominanten Codes: Von der Vorbereitung hin zur Begleitung

Die sich anbahnende Veränderung des traditionellen Erziehungs‑/Bildungssystems drückt sich in einer spezifischen Verschränkung von Phylogenese und Ontogenese aus. Mit den damit verbundenen Konsequenzen ist unweigerlich die Diversifizierung von Begleitung als faktischem Handlungsphänomen und als rhetorische Figur verbunden. In keiner Etappe der Menschheitsgeschichte neben der unsrigen wurde ein so großer logistischer und materieller Aufwand betrieben, um lebenspraktische Probleme und Herausforderungen, insbesondere sensible Übergänge in der Lebensspanne, als Themen von Erziehung und Bildung in speziellen Einrichtungen bzw. Organisationen zu bearbeiten. Auf der Ebene der Ontogenese findet das so geschaffene institutionelle Szenario in Gestalt von Organisationen mit einem expliziten pädagogischen Mandat und der damit verknüpften Arbeitsteilung sein Pendant in der Pädagogisierung der biografischen Lebensführung. Die Folgen sind evident: In Erziehungs- und Bildungsfragen begleiten speziell ausgebildete Fachkräfte mit einer bestimmten beruflichen Lizenz die Gesellschaftsmitglieder von der Kindheit, über die Jugend bis hin zum späten Erwachsenenleben im Prozess des Älterwerdens (vgl. Nittel et al. 2014). Diese eigentümliche Verknüpfung von Phylogenese und Ontogenese korrespondiert mit Phänomenen, die die Erziehungswissenschaft hinreichend beschrieben hat: nämlich mit der Universalisierung des Pädagogischen (vgl. Kade und Seitter 2007), der Substitution von naturwüchsigen Formen der Sozialisation durch formales und nonformales Lernen und schließlich mit der teilweisen Umkehrung des sonst üblichen Verhältnisses zwischen Generationen, indem Angehörige der älteren Generation zunehmend von Jüngeren lernen und nicht umgekehrt.

Es zeichnen sich also gute Gründe ab, von einem System im Stadium nascendi zu sprechen. Offen ist, welche weitreichenden grundlagentheoretischen Konsequenzen daraus erwachsen, denn in keiner anderen Gesellschaftsformation existiert ein so dichtes Geflecht von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen über den gesamten Lebenslauf. Dieser Befund tangiert nicht nur das Innere des Systems, also die stetige Expansion pädagogischer Kernaktivitäten und Technologien in Organisationen mit einem expliziten pädagogischen Mandat und pädagogisch ausgebildetem Personal, sondern auch die Umwelt und damit die Überformung nicht-pädagogischer Handlungsbereiche durch didaktisch gerahmte Vermittlungs- und Aneignungssettings. Schließlich lösen viele andere Funktionssysteme einen Teil ihrer Probleme und Herausforderungen pädagogisch: So wird die Organisation militärischer Laufbahnen und Karrieren ganz eng mit der nahezu zwingenden Partizipation an Lehrgängen verbunden; die Diversifikation präventiver Ansätze in der Medizin sind an gesundheitliche Aufklärung und Gesundheitsbildung gebunden. Die Wissenschaft hat durch § 2 Abs. 1 im Hochschulrahmengesetz den Universitäten das Mandat erteilt, neben ihren Kernaufgaben der Forschung und Lehre auch wissenschaftliche Weiterbildung, also Erwachsenenbildung zu betreiben.Footnote 7

Inwieweit stehen aber diese Phänomene in Verbindung mit Begleitung? Das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens hat seinen bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts dominanten Operationsmodus der Vorbereitung aufgegeben, ohne ihn gänzlich fallen zu lassen und etabliert peu à peu einen neuen Modus, und zwar den der (biografischen) Begleitung. Vor dem hier angedeuteten Strukturbruch war Bildung mit dem Versprechen auf sozialen Aufstieg verbunden; heute scheint Bildung viel eher als Vehikel zur Verhinderung von sozialem Abstieg zu fungieren. Diese von vielen Menschen in ihren Alltagserfahrungen wahrgenommene Funktionsverschiebung stellt nur den Vorboten eines ganzen Spektrums neuer Phänomene dar. „Vorbereitung“ baute auf der Vorstellung einer sachlichen, personellen und zeitlichen Konzentration des Lernens in ganz bestimmten lebenszyklischen Phasen auf, nämlich der Kindheit, Jugend und des frühen Erwachsenenlebens. In jungen Jahren, so die Prämisse, werde man von den einschlägigen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen in die Lage versetzt, auf die Herausforderungen im späteren Leben präpariert zu sein. Die dahinter stehenden Erwartungserwartungen korrespondieren mit dem Bild einer Batterie, die aufgeladen wird und deren Energie langsam verbraucht wird, aber ein ganzes Leben ausreicht. Schon der common sense sagt uns, dass dieses Modell heute längst obsolet geworden ist. Die zunehmende Vermehrung des Wissens in der Gesellschaft und die beschleunigte Wissensproduktion überfordern den Modus der Vorbereitung zusehens, denn dieser vermag keineswegs mehr das Wissen für den Zeitraum eines Lebens bereitzustellen (vgl. Bell 1975, S. 356). Der damit diagnostizierte kontinuierliche Ausbau des Bildungsbereichs (vgl. Machlup 1962; Bell 1975) erstreckt sich aber eben nicht nur auf Schule und Universitäten, sondern vielmehr auf das gesamte Spektrum pädagogischer Interventionsmöglichkeiten über die Lebensspanne. Insofern stellt der Modus der Vorbereitung auf das Leben ein den tatsächlichen Bedürfnissen der Gesellschaft nicht mehr zeitgemäßes Formprinzip dar. Ein beispielhafter Beleg für diese Diagnose ist das Feld der pädagogischen Beratung (vgl. Gieseke und Nittel 2016). Die Vermessung der für pädagogische Beratung zuständigen Institutionen zeigt, dass das lebenslange Lernen bereits vor der Geburt beginnen kann: Sozialpädagogen sind in der pränatalen Beratung tätig und außerschulisch tätige Erwachsenenbildner in Schwangerschafts- und Elternkursen. Neben den vielfältigen schulischen, sozialpädagogischen, erwachsenenbildnerischen und sonderpädagogischen Beratungsangeboten gibt es eine Vielzahl von Beratungssettings, die vordergründig keine pädagogischen Akzente haben, letztlich aber doch unter dem Fokus Erziehung, Bildung und Lernen betrachtet werden müssen (vgl. Gieseke und Nittel 2016). Die pädagogische Beratung über die gesamte Lebensspanne hinweg illustriert den hier behaupteten Wechsel von der Vorbereitung auf das Leben in Richtung seiner Begleitung. Mit dem Wechsel vom Operationsmodus der Vorbereitung auf den der Begleitung geht die Tendenz einher, dass frühere Bildungsentscheidungen und Abschlüsse zunehmend als reversibel betrachtet werden.

3.2 Funktionale Differenzierung und Inklusion

Während im vorangegangenen Darstellungsschritt das Systemmerkmal der Begleitung mit Hinweisen auf das arbeitsteilige Zusammenwirken einschlägiger Organisationen und sozialer Welten pädagogisch Tätiger beschrieben wurde, erscheint nun die Beantwortung der Frage vordringlich zu sein, auf welchem Wirkmechanismus die Neujustierung des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens zurückzuführen ist. Die Antwort erscheint auf den ersten Blick recht unspektakulär: Die Beobachtung, dass die Handlungsform der Begleitung in den beruflichen und in den institutionellen Selbstbeschreibungen als ubiquitär zu betrachten ist, ist im Kern darauf zurück zu führen, dass das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens eine der zentralen Signaturen des Gesellschaftssystems – nämlich das der Inklusion – gleichsam kopiert (vgl. Luhmann 1997) und im eigenen Zuständigkeitsbereich durchgehend implementiert. Begleitung ist sowohl Ausdruck der Generalisierung der Rolle des pädagogischen Anderen (Kinder, Jugendliche, Schülerinnen und Schüler, Studierende, Auszubildende, Klienten, Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Hilfesuchende usw.) als auch der Temporalisierung des Lernens über die Lebensspanne.

Ganz generell gilt: Inklusion ist die Form der Partizipation, Adressierung und Berücksichtigung von Individuen in Sozialsystemen. Während wir in unserer Alltagspraxis fortlaufend von Situation zu Situation in wechselnde, extrem flüchtige Interaktionssysteme involviert sind und damit in allen anderen, in Milliardengröße gleichzeitig ablaufenden Interaktionssystemen auf diesem Erdball „draußen“ bleiben (was mit Blick auf Organisationen in ähnlicher Weise zutrifft), „gilt […] für das Gesellschaftssystem genau das Gegenteil. Hier ist der Normalfall Zulassung zur Kommunikation, also Inklusion im anerkannten Status als Person“ (Luhmann 2000, S. 390). Bei den großen Funktionssystemen ist die Inklusion in vier Formen wirksam, nämlich entweder über „exit/voice Optionen (Politik, Wirtschaft)“ (Stichweh 2016, S. 26 f.), Leistungs- und Publikumsrollen (ebd., S. 28 f.) oder indirekte Inklusion (Wissenschaft) (Stichweh 2016, S. 31). Stichweh (2016, S. 62) korrigiert die Vorstellung, „dass die Unterscheidung Inklusion/Exklusion eine binäre Alternative verkörpert“ mit der These einer „hierarchischen Opposition“. Den von Exklusionsinstanzen vollzogenen „Ausschluss beschreiben sie prinzipiell als temporär; sie wollen Wiedereingliederung erreichen. Auch dort, wo die Inklusion in Exklusion nicht durch die Organisationen gesichert wird, lassen sich vergleichbare Dynamiken beobachten“ (Stichweh 2016, S. 63).

Im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens realisiert sich Inklusion – hier kommt die vierte Form zum Zuge – als professionelle Betreuung. Wie Stichweh (2014) mit Verweis auf Erziehung betont hat, gibt es sehr verschiedene Formen der Inklusion und Exklusion, z. B. wenn Schüler im Schulsystem wie „lebende Tote“ behandelt und somit ausgeschlossen werden, weil sie im Klassenverband von einem Lehrer nicht mehr adressiert werden. Gerade im Erziehungssystem zeige sich seiner Meinung, dass Exklusion nur als Abwandlung von Inklusion möglich sei: „Separierende Inklusion“ bedeutet in diesem Sinne beispielsweise die Beteiligung von Menschen mit Behinderung in speziell dafür eingerichteten Wettbewerben. Stichweh, dem wir hier mit kritischen Vorbehalten folgenFootnote 8, scheint in einem wesentlichen Punkt einen eher selektiven Blick auf das hier umrissene System an den Tag zu legen. Da er unter Erziehungssystem primär Familie und Schule subsumiert, wohingegen er den Bereich der Weiterbildung, der Sozialen Arbeit usw. schlicht außer Acht lässt, vermag er den Zusammenhang zwischen Humanontogenese und Systembildung nicht angemessen zu erfassen. Das von ihm in Anschlag gebrachte „Postulat der Vollinklusion“ mag mit Blick auf alle anderen Funktionssysteme instruktiv sein, stellt sich im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens als wenig zielführend dar, sofern die Programmatik und die Selbstbeschreibung nicht mit der Realität der statistisch objektivierbaren PartizipationsfälleFootnote 9 abgeglichen wird. In einem Punkt unterscheidet sich das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens als Funktionssystem von anderen ganz explizit: Die sozialen Welten pädagogisch Tätiger und die jeweiligen Organisationen folgen einer sowohl auf die einzelnen Phasen („Kindheit als Schonraum“) als auch auf die Totalität des Lebenslauf der Gesellschaftsmitglieder bezogene Teleologie („autonome Lebensführung“), die das Publikum per se zu potentiellen Klienten avancieren lässt. Die Erreichung des Ziels im Durchlaufen einer Erziehungs- und Bildungskarriere ist in der Logik des Systems der Beginn einer neuen Partizipationsform. Aus der Perspektive des Systems ist Nicht-Partizipation nur situationsbedingte Exklusion, aus der dann folgerichtig wieder Inklusion erwachsen könnte. Die Unstrittigkeit der Maxime, dass Exklusion per se nur vorübergehende Exklusion ist, hängt mit der behaupteten Natur von Bildungsprozessen zusammen. So gehört zum Credo der griechischen Antike die Annahme, dass die Aneignung von Wissen zugleich den Korpus an Nichtwissen vergrößert. Die Einsicht in Nichtwissen aufgrund einer vergangenen Bildungserfahrung evoziert die Wahrscheinlichkeit weiterer Vermittlungs- und Aneignungssequenzen im Prozess des organisierten Lernens. Dies scheint die empirische Bildungsforschung durch einen zentralen Befund zu bestätigen; die Wahrscheinlichkeit der Partizipation an Weiterbildung ist vom Grad des Abschlusses abhängig. Bildung munitioniert also neue Bildung (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016).

Vollends evident wird das hier skizzierte Strukturmuster der Applizierung von Inklusion als Signatur des Gesellschaftssystems in das Erziehungs- und Bildungswesen auch dann, wenn wir uns das Verhältnis von pädagogischer und sozialer Exklusion vergegenwärtigen. Jede Form der pädagogischen Selektion (z. B. Nichtversetzung, Schulausschluss) verstrickt das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens in den Zugzwang, auf der Ebene des faktischen Handelns und nicht der Selbstbeschreibung an einer anderen Stelle nach einer alternativen Inklusionsoption zu suchen (vgl. Nittel 2017, S. 151 f.). Das bedeutet, dass eine Exklusion im Voranschreiten der Bildungsbiographie gleichzeitig mit der Inklusion in ein anderes Segment im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens verbunden ist. Die Selektionsprozesse im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens sind also nicht unweigerlich mit sozialen Exklusionsprozessen in allen anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen verbunden, sondern zunächst einmal mit neuen Inklusionsprozessen im System der organisierten Erziehung und Bildung. Prozesse der Selektion im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens tragen – empirisch betrachtet – in den seltensten Fällen sofort zur vollständigen Exklusion aus dem pädagogischen System selbst bei. Gleichwohl haben solche Prozesse der Exklusion und der erneuten Inklusion auch negative Folgen für die Beteiligung in anderen Funktionssystemen.

Zur Illustration dieser These greifen wir auf Datenanalysen verschiedener, anonymisierter Fallakten eines bundesdeutschen Jugend- und Sozialamtes zurück. Zur Herausstellung idealtypischer Verläufe wurden diese anschließend zu einem Beispiel verdichtet:

Der betroffene junge Mann wurde von seinem alleinerziehenden Vater im Alter von 19 Jahren der Wohnung verwiesen, woraufhin der Sohn den Schulbesuch ohne Abschluss beendet. Den ersten Berührungspunkt mit dem organisierten pädagogischen System des lebenslangen Lernens hatte er als Obdachloser in einer Männerunterkunft. Die Beratung durch die sozialpädagogisch Tätigen dort führt ihn dann selbstständig zum Jugend- und Sozialamt, wo verschiedene Maßnahmen erwogen wurden, so aufgrund des damaligen Alters (19 Jahre) eine Maßnahme der Jugendhilfe (Einzelfallhilfe mit eigener Wohnung) zur Stützung des Klienten und der „Begleitung in die Selbstständigkeit“. Parallel erfolgt die Implementierung weiterer schulpädagogischer Interventionen, um die Erreichung eines Abschlusses als formalem Zeichen der gesellschaftlichen Eigenständigkeit zu ermöglichen. Im Verlauf des ersten Jahres verschlechtert sich die Beteiligung des Klienten so stark, dass die pädagogischen Sanktionen des Jugend- und Sozialamtes in der Beendigung der Maßnahme gipfeln und der junge Erwachsene aufgrund des Lebensalters auf die Straße entlassen wird. Doch auch trotz der in diesem Fall scheinbaren Exklusion aus dem organisierten pädagogischen System des lebenslangen Lernens steht der junge Erwachsene in regelmäßigem Kontakt mit städtischen Streetworkern, den sozialpädagogisch Tätigen des Männerwohnheims sowie des Caritas-Kältebusses. Flankiert durch deren Begleitung sowie durch die Beratung von SozialpädagogInnen einer spezifischen Abteilung des Jugend- und Sozialamtes zur Verhinderung von Obdachlosigkeit, gelingt die Anbindung an das Jobcenter und es besteht damit die Voraussetzung für eine Wohnung. Er nutzt im weiteren Verlauf schulpädagogische Maßnahmen zur Erreichung eines Abschlusses und im Anschluss erwachsenenpädagogische Qualifizierungsmaßnahmen. Parallel wird er durch therapeutische Hilfen unterstützt.

Setzen wir zur weiteren Illustration voraus, dass keinerlei Wunsch nach Änderung der eigenen Lebenssituation bei dem jungen Mann bestünde. Vielmehr würden die schwierigen Lebenssituationen auf der Straße zu einer weiteren Verschärfung ökonomischer und psychischer Bedingungen wie auch des juristischen Status führen (vgl. Thelen 2006). So kann der junge Mann in dieser Zeit möglicherweise straffällig werden, was je nach Schwere des Urteils sowohl Kontakt zu verschiedenen sozialpädagogischen Beratungsstellen wie auch die Begleitung des jungen Mann in der Phase einer möglichen Haft durch Sozialpädagogen des JVA-Sozialdienstes. Auch in einer solch drastischen Eskalation der Lebenssituation des Volljährigen, wird er also von pädagogisch Tätigen begleitet.

Selbstverständlich kann dieses Beispiel nur holzschnittartig die komplexe Ablaufstruktur solcher Negativ-Karrieren aufzeigen. Dennoch kann so verdeutlicht werden, dass eine formale Exklusion aus dem pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens unter Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Arbeitsbündnisses ausgesprochen schwierig, höchstens temporär und unter Maßgabe minimaler pädagogischer Erfolge letztlich doch unwahrscheinlich ist. Obwohl auch spürbare institutionelle Ab- und Rückstufungen, zum Teil auch mit schmerzhaften Einschnitten und dem Gefühl der Stigmatisierung, zu beobachten sind, wird die Person unter formalen Aspekten nicht exkludiert.

Gleichwohl können Fallkonstellationen entstehen, die ein „Halten“ im organisierten System des lebenslangen Lernens unmöglich machen. Idealtypisch können hier zwei Abzweigungen bestehen, in denen tatsächlich eine Exklusion stattfindet. So ist ein vollständiges Herausfallen aus dem pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens einerseits als Übergang in das Medizinsystem und andererseits im Zuge einer vollständigen Abtretung von Zuständigkeiten an das Rechtssystem möglich und empirisch millionenfach zu beobachten. Die erste Konstellation tritt bei existentiellen Krisen wie im Falle von sehr schwerwiegenden körperlichen oder geistigen Erkrankungen, dem Verlust der Integrität und Handlungsfähigkeit auf. Im zweiten Fall findet bei gravierenden sozialen Abweichungen eine Einweisung in geschlossene Einrichtungen des Justizwesens statt. Gleichwohl bestehen trotz der eben skizzierten extremen Krisenkonstellationen sehr häufig pädagogisch flankierte Integrationsprogramme als inkludierendes Mittel, um Langzeitpatienten oder mehrfach verurteilte Straftäter dann sukzessive wieder einen Austritt aus den totalen Institutionen des Rechts- und Medizinsystems zu ermöglichen.

Im Tatbestand, dass die Übergänge aus juristischen Institutionen der sozialen Kontrolle bzw. der Behandlung von Krankheit pädagogisch gerahmt und begleitet sind, offenbart das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens quasi sein wahres Gesicht: Genau besehen kopiert es das Gesellschaftssystem, denn trotz der Selektionsfunktion ist Inklusion in das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens die Normalität und Exklusion die Ausnahme. Die generelle Neigung zur Inklusion drückt sich nicht zuletzt in bestimmten universellen Werten (Freiheit und Gleichheit) und beruflichen Handlungsmaximen aus, wie etwa dem Grundsatz ‚Wir lassen kein Kind zurück‘, die in den beruflichen Selbstbeschreibungen der Akteure stark zur Geltung kommen. Die auf die Herstellung ‚normaler‘ Identitätsformationen ausgerichtete Standardoperation des Systems sieht das Herausfallen aus dem pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens nicht vor.

4 Fazit

Begleitung als Systemmerkmal leitet sich aus dem Gefüge der arbeitsteiligen Gestaltung der Humanontogenese und der sequentiellen Staffelung der Kooperation zwischen Erziehungs- und Bildungsorganisationen als Bedingung für die Prozessierung von Bildungskarrieren ab. Die Formierung dieses Systemmerkmals und die Generalisierung der Rolle des pädagogischen Anderen im Lebenslauf müssen als Reaktion auf den Mechanismus verstanden werden, dass das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens eine zentrale Signatur moderner Gesellschaften – nämlich die Vollinklusion – gleichsam dupliziert. Begleitung als professionalisiertes Handlungsmerkmal fußt auf der Notwendigkeit einer von expliziten Zumutungen befreiten Präsenz im Kontext eines pädagogischen Arbeitsbündnisses mit einer potentiellen Adressierbarkeit. Begleitung als Handlungsphänomen ist prinzipiell in allen Varianten pädagogischer Arbeit über die gesamte Lebensspanne präsent. Erst aus dieser Allgegenwart leitet sich die Systemrelevanz ab. Begleitung ist aber auch noch mehr: Im vorliegenden Beitrag wurde die Bedeutung der Kategorie pädagogische Begleitung unter den zwei eben genannten Foki diskutiert. Diskursanalytische sowie histografische Implikationen konnten an dieser Stelle nicht angemessen entfaltet werden – sie verweisen auf zukünftige Forschungsbedarfe.

Der Umstand, dass pädagogische Begleitung sowohl als Systemmerkmal als auch als Handlungsform analysiert werden konnte, korrespondiert aus unserer Sicht mit der Verschränkung von Ontogenese und Phylogenese: Individualbiografische und gattungsgeschichtliche Konstellationen bilden eine spezifische Gemengelage. Die Ausdehnung pädagogischer Einrichtungen, Instanzen und die Expansion pädagogischer Berufsgruppen einerseits und die Pädagogisierung der biografischen Lebensführung andererseits bedingen sich wechselseitig und gehen ein zirkuläres Verhältnis ein. Biografische Begleitung substituiert den Modus der Vorbereitung nicht vollständig, ergänzt diesen aber sehr nachdrücklich.

Mit dem Vordringen der Einheitsformel vom lebenslangen Lernen und dem Ausweis, dass das System als Ort der arbeitsteiligen Gestaltung der Humanontogenese im Modus der biografischen Begleitung operiert, sind weitreichende Konsequenzen verbunden. Das zentrale Ordnungsprinzip der funktionalen Differenzierung auf der Ebene des Verhältnisses der Funktionssysteme, also die Gleichwertigkeit von Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Wissenschaft, Religion, hält nun mehr und mehr Einzug ins pädagogische System. Das bedeutet unter Zugrundelegung des hier relevanten Zentralwertbezugs eines intentionalen Aufbaus, der Gestaltung und der Veränderung von Identitätsformationen, dass kein Segment, kein Element im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens priorisiert werden kann oder gar eine Art Vorherrschaft genießen darf. Oder anders formuliert: der Kindergarten ist aus grundlagentheoretischer Sicht genauso viel wert wie die Eliteuniversität! Unter Maßgabe dieser Perspektive verliert die Schule endgültig ihren früher akzeptierten Status als Nukleus des Erziehungs- und Bildungswesens. Die hier entwickelte Denkfigur entspricht allerdings in gar keiner Weise den Mentalitäts- und Bewusstseinsstrukturen der Mehrheit jener, die der sozialen Welt pädagogisch Tätiger angehören. Die pädagogischen Praktiker reproduzieren das gesellschaftliche Relevanzsystem im Hinblick auf die vorherrschende moralische Arbeitsteilung (vgl. Schütz 2017), wonach jene Pädagogen, die hochwertige, d. h. wissenschaftsaffine Abschlüsse vergeben, eine hohe gesellschaftliche Anerkennung besitzen. Sollte die hier entworfene Diagnose zutreffend sein, dass die arbeitsteilige Gestaltung der menschlichen Humanontogenese den Operationsmodus der Begleitung stärkt, ja dass sogar die Vollinklusion von einem programmatischen in einen faktischen Aggregatzustand überführt wird, so wird das System in der Relation der Elemente und der Kooperation der Organisationen in Zukunft mit deutlich mehr Gleichheit rechnen müssen. Man darf gespannt sein, wie das System mit dieser unerwarteten Zumutung von mehr Gleichheit umgehen wird.