1 Einleitung

Die videobasierte Lehr-Lernforschung ist in hohem Maße abhängig von methodischen und technischen Entwicklungen. Eine zentrale Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren ist die Weiterentwicklung von Speichermedien, die insbesondere für die Videografie enorme Möglichkeiten eröffnet hat (Krammer und Reusser 2005). Während noch vor 20 Jahren die Speicherkapazitäten für Filmaufnahmen sehr begrenzt waren (man musste z. B. während des Filmens einer Unterrichtsstunde das Speichermedium austauschen), ganz zu schweigen von den Möglichkeiten bei der Weiterverarbeitung des Datenmaterials (z. B. langfristige Speicherung, Analysesoftware), sind heute Videoaufnahmen mit benutzerfreundlichem Equipment und umfangreichen Speicherkapazitäten leicht möglich.

In der Lehr-Lernforschung ist die Nutzung von Videografie seit langem etabliert und hat sich in ihrer Entwicklung immer auch an den jeweils vorhandenen technischen Möglichkeiten orientiert. Die beschriebenen Weiterentwicklungen wurden daher in diesem Forschungszweig intensiv aufgenommen und nutzbar gemacht. Es wird zwar betont, dass Video auch nur eines von vielen möglichen Forschungswerkzeugen darstellt und es an sich kein ‚Selbstläufer‘ (Seago 2004) für die Umsetzung empirischer Lehr-Lernforschung ist. Im Gegenteil: Auch heute noch gibt es unzählige Aspekte zu bedenken, insbesondere die hohen Kosten und die lange Dauer für die Durchführung solcher Datenerhebungen, aber auch die juristischen Vorgaben, die es aus datenschutztechnischen Gründen zu berücksichtigen gilt.

Trotzdem ist es bemerkenswert, wie intensiv diese technische und methodische Weiterentwicklung in der Lehr-Lernforschung aufgegriffen wurde. Videos kommen heute in der Lehr-Lernforschung in sehr vielfältiger Weise zum Einsatz (vgl. Gläser-Zikuda und Seifried 2008; Janik und Seidel 2009): als Medium zur Dokumentation von Lehr-Lernprozessen im Unterricht mit dem Anspruch, auf diese Weise möglichst valide und zuverlässig Messungen vornehmen zu können; als Lernmaterial im Rahmen von Instruktionen an der Hochschule (in der Lehrerbildung), um den Aufbau handlungsnaher Kompetenzen zu unterstützen; oder als Itemstimuli im Kontext standardisierter Tests, um professionsbezogene Kompetenzen bei Lehrenden zu erfassen.

Für alle genannten Bereiche des Einsatzes von Video in der Lehr-Lernforschung haben sich grundlegende Annahmen zum Lernen und Kompetenzerwerb bei Lehrenden durchgesetzt. Für den Lehrberuf geht man davon aus, dass das professionelle Wissen situiert und praxisorientiert erworben wird (vgl. Borko 2006; Brouwer und Korthagen 2005; Cochran-Smith und Zeichner 2005; Hiebert et al. 2002). Professionelles Wissen, z. B. in Form wichtiger Konzepte und Begriffe über Lehren und Lernen, wird verbunden mit Beispielen bzw. Repräsentationen relevanter Praxis. Da es sich beim Lehrberuf meist um recht komplexe Wissensbestände handelt, besteht eine wichtige Aufgabe im Lernprozess der Lehrenden darin, diese komplexen Einheiten in kleinere Bestandteile aufzuspalten und für jeden dieser Bestandteile konkrete Praxisrepräsentationen zu verbinden (Grossman et al. 2009; Grossman und McDonald 2008). Das Konzept Klassenmanagement umfasst beispielsweise sowohl den Umgang mit konkreten Störungen als auch die Aufgabe, den Unterrichtsfluss zu gewährleisten (Thiel 2016). Für jede dieser Facetten müssen Lehrende konkrete Fälle und Beispiele von Praxis repräsentiert haben. Diese Verknüpfungen mit Praxis können mithilfe unterschiedlicher sog. ‚Annäherungen‘ („approximations of practice“) erfolgen, die in unterschiedlichem Grad die tatsächlichen komplexen Anforderungssituationen im Beruf abbilden (Grossman et al. 2009). Diese reichen von weniger komplexen Annäherungen, wie schriftliche Fallanalysen oder Vignetten, Beobachtung und Analyse videografierter Unterrichtssequenzen, Durchführung von Lehrhandlungen im Mikro-Teaching, bis hin zum Unterrichten in realen Lehr-Lern-Settings (Seidel et al. 2015).

Neben diesen gemeinsam geteilten Annahmen zum Prozess des Kompetenzerwerbs bei Lehrenden gibt es übereinstimmend auch Auffassungen über die Struktur professionellen Wissens im Lehrberuf. Durchgesetzt hat sich dabei die Differenzierung professionellen Wissens in die Facetten des fachlichem, fachdidaktischen und pädagogisch-psychologischen Wissens (Baumert und Kunter 2006; Bromme 1997; Shulman 1987). Das professionelle Wissen Lehrender wiederum steht nicht losgelöst von motivational-affektiven Kompetenzen, über die Lehrende verfügen müssen (z. B. entsprechende Überzeugungen zum Lernen bei Kindern, Motivation für den Lehrberuf) (Dicke et al. 2015; Holzberger et al. 2013, 2014). In der Verbindung kognitiver (z. B. Wissen) wie motivational-affektiver Komponenten (z. B. Überzeugungen, Motivation) ist es professionellen Lehrenden möglich, flexibel und angemessen auf variable berufliche Anforderungssituationen zu reagieren bzw. in diesen Situationen zu agieren (Weinert 2001). Gleichzeitig geht man davon aus, dass diese Kompetenzen durch eine professionelle Ausbildung erworben werden können (Harr et al. 2015; Holzberger und Kunter 2016; Kunter et al. 2011; Terhart et al. 2012).

Diese weitgehend in der videobasierten Lehr-Lernforschung geteilten Grundannahmen sind wichtig, um die Einbettung und die Nutzung von Videografie in der Forschung nachvollziehen zu können. Denn in diesem theoretischen Kontext erfüllt das Medium Videografie viele Charakteristika, die einen empirischen Zugang ermöglichen und so eine Prüfung der Tragfähigkeit dieser Ansätze erlauben. Erstens erlauben Videografien von Unterricht es, die professionellen Handlungsweisen im dynamischen Interaktionsgeschehen zwischen Lehrenden und Lernenden (verbal, nonverbal) zu dokumentieren (A. Helmke 2012; Helmke und Helmke 2004). Diese Dokumentationen können dann wiederholt und aus verschiedenen professionellen Perspektiven (fachlich, fachdidaktisch, pädagogisch-psychologisch) analysiert werden (Krammer und Reusser 2005; Seidel und Prenzel 2010). Videografien stellen zweitens aber auch eine Form dar, relevante Repräsentationen von Praxis festzuhalten. Damit sind sie ein wichtiges Medium bzw. Lernmaterial für die Hochschulbildung, insbesondere in der universitären Lehrerbildung. Videosequenzen dienen hier als Beispiele für Praxisrepräsentationen und unterstützen in bestimmten instruktionalen Lehr-Lernarrangements den Erwerb professioneller Kompetenzen (Hellermann et al. 2014; Piwowar et al., in Vorbereitung; Seidel et al. 2010). Dabei ist insbesondere die Auswahl von Videosequenzen relevant, da es entscheidend ist, dass im Video sowohl professionsrelevante Anforderungssituationen dargestellt sind (z. B. typische Szenen von Störungen im Unterricht), als auch die Videosequenzen gute Beispiele für konzeptuelles Wissen im Lehrerberuf (z. B. über Klassenmanagement) repräsentieren. Um zu erfassen, ob Lehrende über professionelles Wissen verfügen, werden in der Lehrerforschung seit einiger Zeit auch standardisierte Assessments in Form von Tests durchgeführt (Baumert et al. 1997; Blömeke et al. 2015; Hill, Rowan und Ball 2005; Kunina-Habenicht et al. 2012; Kunter et al. 2011; Voss et al. 2015). In der Entwicklung von Testitems zur Erfassung professioneller Kompetenzen ist es dabei relevant, Teststimuli zu verwenden, anhand derer die professionellen Wissensstrukturen aktiviert bzw. in der Lösung der Aufgabenstellungen auf der Basis der Stimuli zur Anwendung kommen. Auch in diesem Bereich werden insbesondere zur Messung fachdidaktischen und pädagogisch-psychologischen Wissens Videosequenzen als Stimuli eingesetzt (z. B. Kersting 2008; Lindmeier 2011; Seidel und Stürmer 2014) und die oben angeführten konzeptuellen Annahmen kommen zum Tragen. Durch die videobasierte Präsentation von authentischen Lehr-Lern-Sequenzen soll so die Anwendbarkeit professionellen Wissens bei der Lösung der mit dem Video verknüpften Aufgabenstellung valide erfasst werden.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass sich die videobasierte Lehr-Lernforschung die technischen und methodischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu eigen gemacht und sich sehr dynamisch weiterentwickelt hat. Analysiert man die international im Web-of-Science gelisteten Publikationen seit der Durchführung der ersten größer angelegten TIMS (Third International Mathematics and Science) Videostudie 1995 (Stigler et al. 1996), lässt sich eine deutliche Steigerung der Publikationsaktivitäten feststellen. Während unter dem Stichwort ‚Video in Kombination mit Instruktion‘ (‚instruction‘) bzw. Unterricht (‚teaching‘) im Bereich erziehungswissenschaftlicher und pädagogisch-psychologischer Artikel und Reviews in den Anfängen 98 (1995–1999) Veröffentlichungen registriert sind, steigen diese auf 233 (2005–2009), 646 (2010–2014) und 330 (2015 bis 2016) (Stand: 14.11.2016). Darüber hinaus dokumentieren Reviews und Meta-Analysen die positiven Wirkungen des Einsatzes von Video in den genannten Bereichen (z. B. Fukkink et al. 2011; Gaudin und Chaliès 2015). In der internationalen videobasierten Lehr-Lernforschung nehmen dabei auch Publikationen von Autorinnen und Autoren aus Deutschland mit 7 % der Publikationen (Rang 1: USA 40 %; Rang 2: England 9 %) einen durchaus nennenswerten Anteil ein. Auch für diese Publikationen zeigt sich eine ähnliche, positive Entwicklung über die Zeit.

Eine wichtige Rolle hierfür dürfte unter anderem die 1997 veröffentlichte TIMS-Videostudie gespielt haben, in der erstmalig international vergleichend eine umfangreich angelegte Videostudie durchgeführt wurde (Stigler et al. 1996) und die im Kontext unterschiedlicher Förderprogramme (z. B. DFG-Schwerpunktprogramme Bildungsqualität von Schule) wichtiger Impulsgeber für umfangreiche Forschungsprogramme im deutschsprachigen Raum war (Prenzel und Allolio-Näcke 2006). Auch in der derzeit laufenden Qualitätsoffensive Lehrerbildung, mit der das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung die Qualität der Lehrerbildung an Universitäten nachhaltig verbessern will, spielen videobasierte Elemente eine zentrale Rolle. Fast die Hälfte aller geförderten Universitäten haben sich in diesem Zusammenhang zum Ziel gesetzt, videobasierte Lernarrangements in ihre Ausbildung zu integrieren (BMBF 2016).

Auch wenn sich videobasierte Lehr-Lernforschung international wie auch in Deutschland etabliert hat, bleibt sie dennoch ein sehr kostenintensives und aufwendiges Verfahren. Vor diesem Hintergrund wird derzeit erforscht, ob und wie der Einsatz ökonomisch zu rechtfertigen ist. Welche Vor- und Nachteile bieten sie gegenüber anderen Medien bzw. Erfassungsmethoden? Wie viele Aufzeichnungen werden benötigt, um reliabel und valide Aussagen über Unterrichtsqualität treffen zu können? Aus welcher Perspektive sollen Aufnahmen erstellt werden (z. B. aus der Perspektive der Schüler, der Klasse, des einzelnen Lehrenden)?

Auch im Bereich der Nutzung von Videosequenzen als Lernmaterialien stellen sich viele konkrete Fragen: Für welche Lernziele bieten sich Videosequenzen an? Welche Vorteile haben sie gegenüber anderen Medien und Materialien als Repräsentationen von Praxis? Wie repräsentativ sind ausgewählte Videosequenzen für den Gegenstandsbereich, den sie darstellen sollen? Welche Selektionskriterien sind relevant und welche filmische Qualität ist notwendig?

Oder im Bereich der Nutzung von Video als Teststimuli: Was sind wichtige Kennzeichen für einen optimalen Video-Stimulus? Wie kurz oder lang soll er sein? Welche Art von Wissen kann darüber zugänglich gemacht werden?

Betrachtet man diese aktuellen Fragestellungen der videobasierten Lehr-Lernforschung, stellt man fest: Es hat sich ein konturiertes Forschungsprogramm entwickelt, das auf gemeinsamen Standards gründet und wichtige Forschungstrends erkennen lässt. Viele derzeitige Studien prüfen sehr fokussiert die oben aufgeworfenen Fragen und liefern dabei Antworten, die nicht nur wissenschaftlich von hohem Interesse sind, sondern auch eine erkennbare praktische Relevanz haben. Sie tragen so dazu bei, die Qualität der videobasierten Lehr-Lernforschung weiter zu optimieren und gleichzeitig die Lehrerbildung zu verbessern. Dies wird umso bedeutsamer, weil derzeit im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung viele Universitäten auf den Einsatz von Video zur Optimierung der Lehrerbildung setzen.

In diesem Sonderheft werden einige aktuelle Studien der videobasierten Lehr-Lernforschung vorgestellt. Sie repräsentieren dabei die drei bereits genannten Trends:

  1. 1.

    Optimierung der prozessbezogenen Erfassung des Lehr-Lern-Geschehens,

  2. 2.

    Effekte videobasierter Interventionen zur Verbesserung der Lehrerbildung,

  3. 3.

    Entwicklung von videobasierten Tests in der Erfassung von Lehrerkompetenzen.

2 Optimierung der prozessbezogenen Erfassung des Lehr-Lern-Geschehens

Für die prozessbezogene Erfassung des Lehr-Lerngeschehens im Unterricht auf der Basis umfangreicher Stichproben und in Form sog. Videosurveys spielte die TIMS 1997 Videostudie eine wichtige Rolle (Stigler et al. 1996). Bei dieser international vergleichend angelegten Videostudie gelang es erstmalig, auf der Basis systematischer Stichprobenziehungen und vergleichbar angelegter Datenerhebungen den methodischen Ansatz einer Survey-Studie auf den Bereich der Videostudien zu übertragen (Pauli und Reusser 2006). Der Aufwand in der Durchführung dieser Studie war enorm (Jacobs et al. 1999; Knoll und Stigler 1999): Genehmigungen für die Durchführung der Studie mussten in unterschiedlichen Ländern, Bundesländern, Schuldistrikten bei den Behörden, Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern, Schülerinnen und Schülern eingeholt werden. Kamerateams mussten auf der Basis eines geteilten Kameraskripts trainiert und in der Umsetzung vergleichbarer Videoaufnahmen geprüft werden. Internationale Forschungsteams wurden zusammengesetzt, um gemeinsam geteilte und für die unterschiedlichen Kontexte anwendbare Kodiermanuale zu entwickeln. Kodierer wurden in der reliablen Umsetzung der Manuale bei der Analyse und Auswertung geschult und trainiert. Neue Software wurde entwickelt, um diese Analysen möglichst effektiv und kostengünstig umzusetzen. Der Ertrag war aber ebenfalls von hohem Wert (Baumert et al. 1997; Klieme und Baumert 2001; Klieme et al. 1999; Reusser 2005; Stigler et al. 1996): Erstmalig konnten vergleichend Unterrichtsskripts und typische Herangehensweisen im deutschen, japanischen und US-amerikanischen Unterricht beschrieben werden. Gleichzeitig entstanden vielfältige Videomaterialien, die auf unterschiedliche Weise als Repräsentationen von Praxis in den unterschiedlichen Ländern für die Lehrerbildung genutzt werden (z. B. www.unterrichtsvideos.ch). Fachdidaktische, vertiefende Analysen halfen, fachspezifische Besonderheiten des Unterrichts und weitere Beispiele herauszuarbeiten (z. B. Drollinger-Vetter 2011; Linsner et al. 2007; Widodo 2004). In Folge dieser Studie wurden viele weitere Videosurveys in unterschiedlichen Ländern und für verschiedene Unterrichtsfächer (die TIMSS Videostudie bezog sich zuerst nur auf den Mathematikunterricht der Sekundarstufe I) durchgeführt und so wurde ein breiteres Basiswissen über typische Unterrichtsansätze und -skripts aufgebaut (T. Helmke et al. 2008; Linsner et al. 2007; Lipowsky et al. 2009; Pauli et al. 2008; Reusser et al. 2010; Seidel et al. 2007).

In der Weiterentwicklung dieser Videosurveys wurde zunehmend Wert darauf gelegt, die Videoaufnahmen von Unterricht als methodische Basis für die Erfassung der Außensicht auf Unterricht und des sichtbaren Lehr-Lern-Geschehens zu verwenden (Seidel 2003a). Diese Datenquelle wurde aber ergänzt um weitere Erfassungsmethoden, die beispielsweise die Innensicht der Lehrenden (z. B. zu ihren Intentionen) oder der Lernenden (z. B. zu ihrer empfundenen Lernmotivation) betrafen. Darüber hinaus sind Videosurveys häufig eingebettet in längsschnittliche Forschungsdesigns, um so auch direkt Effekte der über Video erfassten Lehr-Lernprozesse auf weitere Bildungsentwicklungen der Lernenden zu prüfen (Seidel 2014). Deutlich wird dabei, dass zur Untersuchung komplexer Lehr-Lernprozesse, wie sie im Unterricht in den zeitlich dichten und dynamischen Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden vorkommen, auch komplexe ‚Mixed-Method‘ Forschungsdesigns erforderlich sind (Gläser-Zikuda et al. 2011).

Bei all dem Aufwand stellt sich daher immer wieder die Frage, wie viele Instrumente, Erfassungsmethoden, Analyseformen notwendig sind, um dem Anspruch der validen Erfassung eines sehr komplexen Lehr-Lern-Geschehens gerecht werden zu können. In dieser Hinsicht wird in der aktuellen videobasierten Lehr-Lernforschung beispielsweise untersucht, wie viele Aufnahmen von Unterricht notwendig sind, um eine valide und über den Messzeitpunkt generalisierbare Aussage über bestimmte Aspekte der Unterrichtsqualität treffen zu können (Praetorius et al. 2012, 2014). Hierbei zeigt sich, dass bestimmte Aspekte von Unterrichtsqualität, die mit hohen Routinen und einer stabilen Häufigkeit der Handlungsdurchführung pro Unterrichtsstunde verbunden sind (z. B. Klassenmanagement, Frage-Antwort-Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden), mit nur wenigen Aufzeichnungen erfassbar sind (Praetorius et al. 2014; Seidel und Prenzel 2006). Andere Aspekte, wie z. B. die kognitive Aktivierung von Lernenden, sind in höherem Maße von dem jeweiligen Fachinhalt abhängig und erfordern zur validen, generalisierbaren Erfassung die Berücksichtigung mehrerer Messzeitpunkte (Praetorius et al. 2014). Diese methodisch-orientierten Forschungsarbeiten helfen, die videobasierte Lehr-Lernforschung hinsichtlich einer validen Erfassung unterschiedlicher Unterrichtsmerkmale zu präzisieren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Durchführung von Videokodierungen, die ebenfalls sehr zeit- und kostenaufwendig sein kann (Seidel und Prenzel 2010). Auch hier werden unterschiedliche Analyseansätze erprobt. Eine wesentliche Differenzierung stellt dabei die Unterscheidung zwischen hoch- und niedrig-inferenten Analyseverfahren dar (Seidel 2003b). Mit Inferenz ist dabei gemeint, wie hoch der Grad an Schlussfolgerungen ist, die man bei der Einschätzung bzw. Kodierung des beobachteten Videomaterials zu treffen hat. Niedrig-inferente Schlussfolgerungen stellen Aspekte des Lehr-Lern-Geschehens dar, die offensichtlich beobachtbar sind. Dazu zählen beispielsweise die Form der Klassenorganisation (Klassenöffentlich, Gruppenarbeiten, Einzelarbeiten) oder die für den Unterricht genutzte Lernzeit. Hoch-inferente Kodierungen beinhalten Schlussfolgerungen, bei denen beobachtete Ereignisse in Bezug auf bestimmte konzeptuelle Überlegungen eingeordnet werden müssen, beispielsweise die Entscheidung, ob es sich bei einer verbalen Reaktion eines Lehrenden um eine Rückmeldung an den Schüler handelt und wenn ja, um welche Art von Rückmeldung (sachlich-konstruktiv, positiv-unterstützend, negativ, prozessorientiert, etc.). Häufig werden niedrig-inferente Analyseverfahren zur Erfassung sogenannter „Sichtstrukturen“ von Unterricht angewandt, während man hoch-inferente Verfahren mit der Erfassung von „Tiefenstrukturen“ verbindet (Seidel 2003b; Seidel und Prenzel 2010). Die Forschungsergebnisse der videobasierten Unterrichtsforschung zeigen dabei, dass es vorrangig die über Video erfassten Tiefenstrukturen von Unterricht sind, die unterschiedliche Lernentwicklungen bei Schülerinnen und Schülern erklären können (Holzberger und Kunter 2016; Seidel et al. 2007). Trotzdem ist die Erfassung der Sichtstrukturen hilfreich, um einordnen zu können, in welche Aktivitätsformen die Tiefenstrukturen eingebettet sind. In dieser Hinsicht scheint sich der Einsatz von Video in der validen Erfassung der Unterrichtsqualität zu lohnen, trotzdem bleibt er aber mit einem sehr hohen Zeit- und Kostenaufwand verbunden. Vor diesem Hintergrund stellt sich so die Frage, ob und wie diese Analysemethoden weiter optimiert werden können.

Die Durchführung dieser Formen von Videoanalysen hängt in hohem Maße von der Qualität und Vergleichbarkeit der Videoaufzeichnungen in unterschiedlichen Klassenzimmern ab. Im Zuge der ersten TIMS Videostudie hat sich dabei ein Kameraskript etabliert, bei dem die Kamera so im Raum platziert wird, dass vorrangig die Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden dokumentiert werden. Zur Anwendung kommt dabei die Perspektive eines ‚idealen‘ Schülers. Das bedeutet, die Kamera fängt in der Regel das Geschehen ein, auf das sich ein idealer Schüler konzentriert. Wenn die Lehrperson spricht, würde dieser Schüler auf diese Person achten, oder wenn Aufgaben zu bearbeiten sind, dann ginge die Aufmerksamkeit dahin. In jüngerer Zeit wird in der videobasierten Lehr-Lernforschung die Optimierung dieser Perspektive geprüft (Cortina et al. 2015; van den Bogert et al. 2014; van Es et al. 2015; Wolff et al. 2015). Beispielsweise stellt sich die Frage, ob sie auch idealerweise die Perspektive der Lehrenden und ihre Wahrnehmung des Unterrichtsgeschehens erfasst. Hinzu kommen nun neuere technische Entwicklungen, wie z. B. die Videografie mit Kopfkameras oder die Erfassung von Aufmerksamkeitsprozessen bei Lehrenden mittels mobilem Eyetracking. Im Einsatz dieser neuen Verfahren gilt es aber auch, einige zentrale Fragen zu klären: Beeinflusst der Einsatz dieses technischen Equipments in der Forschung die Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden? Werden diese davon abgelenkt und können sich weniger gut auf den Unterricht konzentrieren? Welche Art von Daten wird mit diesen Verfahren generiert? Welche Aussagekraft haben diese im Verhältnis zu bisherigen Methoden für die Unterrichtsforschung?

Die weitere Ökonomisierung der Durchführung von Videoanalysen sowie die Weiterentwicklung der Aufnahmeperspektiven stellen zwei zentrale aktuelle Strömungen in der videobasierten, prozessbezogenen Erfassung des Lehr-Lern-Geschehens dar. In diesem Sonderheft greifen drei Beiträge diese Fragestellungen auf und liefern interessante Antworten: Im Beitrag von Begrich, Fauth, Kunter und Klieme (2017) wurde der Versuch unternommen, erstmalig das Thin-Slices Verfahren aus der Einstellungsforschung auf den Bereich der Unterrichtsforschung zu übertragen und zu prüfen, ob mit diesem sehr ökonomischen Verfahren ähnlich valide Einschätzungen von Unterrichtsqualität getroffen werden können wie mit bisherigen systematischen Einschätzungen ganzer Unterrichtsstunden. Die Autorinnen und Autoren zeigen, dass dieses Verfahren durchaus Potential hat, einige Aspekte von Unterrichtsqualität valide zu erfassen. Beispielsweise korrelieren die schnellen Eindruckseinschätzungen mittels Thin-Slices signifikant mit den systematischen Einschätzungen. Darüber hinaus erklären die Thin-Slices Einschätzungen für Aspekte wie Klassenmanagement systematisch Lernentwicklungen der Schülerinnen und Schüler. In dieser Hinsicht ist es spannend, weiter zu prüfen, welche Aspekte von Unterrichtsqualität besser über eine schnelle, intuitive Einschätzung erfasst werden können und welche Aspekte der Unterrichtsqualität eine systematisch-analytische Erfassung erfordern.

Im zweiten Beitrag von Praetorius, McIntyre und Klassen (2017) wird untersucht, ob und wenn ja, welche Reaktivitätseffekte beim Einsatz von Videoaufnahmen im Klassenzimmer entstehen können. Dabei wurden zwei Untersuchungsbedingungen variiert: In einer Kontrollgruppe wurde eine Unterrichtsstunde ohne Videografie von Lehrenden und Lernenden hinsichtlich der Unterrichtsqualität, der Lehrhandlungen, der wahrgenommenen inneren Lernhandlungen (Emotionen, Kognitionen, Motivation) eingeschätzt. In einer zweiten Gruppe dagegen wurde der Unterricht videografiert. Die Ergebnisse beim Vergleich dieser beiden Bedingungen (ohne Video, mit Video) deuten darauf hin, dass sich in Bezug auf die allgemeine Unterrichtqualität und die Lehrhandlungen keine Reaktivitätseffekte nachweisen ließen. Allerdings fanden sich Reaktivitätseffekte in der Videobedingung hinsichtlich erhöhter negativer Emotionen und geringerem Verhaltensengagement. Weiterhin würde geprüft, ob die Lehrenden durch die Videokamera in ihren Aufmerksamkeitsprozessen abgelenkt wurden. Dazu wurden in einer zweiten Teilstudie die Blickbewegungen der Lehrenden mittels einer mobilen Eye-tracking Brille erfasst. Die Auswertungen dieser Studie deuten an, dass die Lehrkräfte in den ersten ein bis zwei Minuten des Unterrichtens häufiger auf das Kameraequipment blickten. Danach war dieser Reaktivitätseffekt nicht mehr erkennbar. Insofern kann man davon ausgehen, dass nach sehr kurzer Zeit keine größere Beeinflussung durch das Kameraequipment stattfindet.

Der dritte Beitrag von Stürmer, Seidel, Müller, Häusler & Cortina (2017) stellt eine erste Studie im deutschsprachigen Raum zum Einsatz von mobilem Eye-Tracking und zur Erfassung von Aufmerksamkeitsprozessen aus der Perspektive von Lehrenden vor. Dabei werden die Blickbewegungen von Lehramtsstudierenden in einer Micro-Teaching Situation an der Universität und in einer Praktikumsschulklasse analysiert. Die Ergebnisse replizieren mittels Eye-Tracking Technologie bisherige Befunde aus der Expertiseforschung zum Aufmerksamkeitsverhalten von Novizen, die vorrangig die Aufmerksamkeit auf einzelne Lernende lenken und eine hohe interindividuelle Varianz aufweisen. Dabei sind diese Muster zwischen beiden Settings (Micro-Teaching, Schulklasse) durchaus vergleichbar. Die Studie zeigt zudem, ähnlich zum gegenwärtigen internationalen Trend (Cortina et al. 2015; van den Bogert et al. 2014; Wolff et al. 2015), dass diese Technologie mittlerweile praktikabel auf den Unterrichtskontext angewendet werden kann. Darüber hinaus liefert sie wichtiges Basiswissen für die Nutzung von Micro-Teaching für den Kompetenzerwerb in der universitären Lehrerbildung.

3 Videobasierte Interventionen zur Verbesserung der Lehrerbildung

Seit den späten 1990er-Jahren, im Anschluss an die bereits genannte TIMS Videostudie, werden videobasierte Interventionen systematisch zur Unterstützung des Erwerbs bzw. der (Weiter-) Entwicklung spezifischer Kompetenzen von Lehrpersonen genutzt (Brophy 2004; Sherin 2004; Wang und Hartley 2003). Videos sind wie kaum ein anderes didaktisches Medium in der Lage, „Flexibilität im Nachdenken über alternative didaktische Handlungsmöglichkeiten“ zu fördern und damit „differenziertes und bewegliches Wissen“ zu entwickeln (Krammer und Reusser 2005, S. 36). Bislang kommen in der Lehreraus- und -weiterbildung vor allem authentische Videos zum Einsatz. Geskriptete, oder sog. staged-videos, sind hier im Unterschied zur Medizin bislang noch wenig verbreitet (vgl. Gartmeier 2014; Piwowar et al., in Vorbereitung). Dies hat damit zu tun, dass man im Anschluss an die Video-Surveys vorrangig diese Datenquellen für den Einsatz in Interventionen genutzt hat.

Mit dem Einsatz von Videos in der Lehrerbildung werden unterschiedliche Ziele verbunden:

Ein Ziel ist die Modellierung von Best-Practice (Kurz und Batarelo 2010) im Sinne des Vicarios Learning (vgl. im Überblick: Moreno und Valdez 2007). Videos, die zu Modeling von Best-Practice eingesetzt werden, zeigen Experten, die einen, meist innovativen, didaktischen Ansatz demonstrieren (z. B. für Literaturunterricht: Eilam und Poyas 2006). Ein prominentes Beispiel sind die in Japan im Rahmen von Lesson Studies eingesetzten Videos, die quasi Musterstunden eines schülerorientierten kognitiv aktivierenden Mathematikunterrichts dokumentieren (A. Helmke und Helmke 2004).

Ein ganz anderes Ziel wird mit der Verwendung von Videos als Werkzeuge für problembasiertes Lernen (Derry und Hmelo-Silver 2005; A. Helmke und Helmke 2004; Krammer und Reusser 2005; Schrader et al. 2010) verbunden. In der problembasierten Arbeit mit Videos soll praxisorientiertes Wissen erworben werden. Dazu zählen einerseits praxisrelevantes, flexibel anwendbares Wissen, andererseits spezifische Kompetenzen der professional vision oder professionellen Wahrnehmung (Barth 2016; Seidel et al. 2010; Seidel und Stürmer 2014; Sherin 2004; Sherin et al. 2011). Professionelle Wahrnehmung umfasst Kompetenzen der Wahrnehmung und Beurteilung komplexer Unterrichtssituationen sowie Kompetenzen der Vorhersage von Unterrichtsverläufen und die Generierung von Handlungsstrategien. Unterrichtsvideos haben beispielsweise gegenüber textbasierten Fällen (als eine weitere Form von Praxisannäherungen) ein besonderes, medienspezifisches Potential (Krammer und Reusser 2005). Im Unterschied zum Text erfolgt die Präsentation von Informationen simultan und in hohem Maße verdichtet (Kleinknecht und Schneider 2013). Unterrichtsmitschnitte stellen darüber hinaus authentische Instruktionsszenarien dar (Hewitt et al. 2003): Die Filme zeigen Protagonisten in realen Situationen, sie codieren Informationen gleichzeitig in mehreren Symbolsystemen und bilden Prozessverläufe und Dynamiken in einer Weise ab, wie es textbasierte Fallanalysen nicht leisten können (vgl. Krammer und Reusser 2005).

Die Entwicklung videobasierter Interventionen zur Unterstützung des Erwerbs praxisorientierten Wissens ist somit eng verbunden mit der Entwicklung entsprechender Lernmaterialien und an die Lernziele angepasster instruktionaler Rahmen. Als Beispiele können genannt werden: die „Video Analysis Support Tools (VAST)“ (Sherin und van Es 2005), das Konzept der Prompts (Goeze et al. 2013) oder der Lesson Analysis Framework Ansatz (Santagata und Guarino 2011).

Empirische Studien zum Einsatz von Videos in der Lehrerbildung belegen positive Effekte auf Kompetenzen zur Analyse und Beurteilung von Unterrichtssituationen (Blomberg et al. 2013b; Boling 2007; Dolk et al. 2002; Santagata et al. 2007; Seidel et al. 2013; Zhang et al. 2011), auf das Verständnis der Denkprozesse von Schülern (Franke et al. 2001; Santagata und Guarino 2011; Santagata et al. 2007) oder auf die Übernahme der Schülerperspektive (Kumschick, Piwowar und Thiel, under review).

Ein weiterer Ansatz zur Nutzung der Videotechnologie in der Lehrerbildung, der vor allem in der Lehrerfortbildung erfolgreich implementiert wurde, stellen Videoclubs oder Videozirkel dar (Gröschner et al. 2014, 2015; Piwowar et al. 2013a; Sherin et al. 2011). Lehrpersonen tauschen sich hier in kleinen Gruppen, teilweise unterstützt durch Kooperationsskripts, Checklisten und Facilitators, über ausgewählte Mitschnitte des eigenen Unterrichts aus. Die Befundlage zum Einsatz fremder und eigener bzw. authentischer oder simulierter Videos in der Lehrerausbildung ist bislang allerdings unklar (Cannings und Talley 2002; A. Helmke und Helmke 2004; Seidel et al. 2011). Vorteile von Mitschnitten eigenen Unterrichts liegen offensichtlich darin, dass das Vorwissen der Probanden besser aktiviert wird. Mögliche Nachteile bestehen darin, dass Mitschnitte eigenen Unterrichts weniger kritisch kommentiert und weniger Handlungskonsequenzen identifiziert werden (Goeze 2010; Schwindt 2008; Seidel et al. 2011).

Der Einsatz von Videos in der Lehrerbildung erfährt gegenwärtig eine hohe Aufmerksamkeit. Ob die im Rahmen unterschiedlicher Förderprogramme bereitgestellten Ressourcen für die Entwicklung wirksamer Lernformate genutzt werden, ist neben einer sorgfältigen, evidenzbasierten Entwicklung der Lernarrangements auch von einer belastbaren Evaluation der entwickelten Interventionen abhängig. Bei der evidenzbasierten Entwicklung von videobasierten Interventionen stellt sich zunächst die Frage nach den spezifischen Zielen (Blomberg et al. 2013a). So stellen etwa die Modellierung von Best-Practice, die Reflexion über eingeschliffene, dysfunktionale Aspekte der eigenen Unterrichtspraxis oder die Förderung professioneller Wahrnehmung ganz unterschiedliche Anforderungen an die Entwicklung einer videobasierten Intervention. Eine zweite zentrale Frage ist die Herstellung bzw. Auswahl geeigneten Videomaterials. Für die Herstellung von Videomaterial liegen inzwischen Manuale vor, die professionelle Standards für die Anordnung der Kameras, die Aufnahme des Tons oder den Schnitt definieren; dies gilt sowohl für die Videografie authentischen Unterrichts (Seidel et al. 2003) als auch für die Produktion von staged-videos (Piwowar et al., eingereicht). Für die Auswahl bereits existierender Videos müssen vor dem Hintergrund (fach-)didaktischer Modelle differenzierte Kriterien entwickelt werden. Expertenratings, anhand derer die gezeigte Praxis im Hinblick auf ihre Qualität oder ihren Problemgehalt eingeschätzt wird, können ein hilfreiches Verfahren zur Validierung der Auswahl von Unterrichtsausschnitten sein (Seidel und Stürmer 2014). Eine weitere Frage betrifft die Einbettung der Videos in ein Lernarrangement. Ob problembasiertes Lernen in Gruppen oder ein Online-Tool zum Selbstlernen implementiert werden soll, bedarf ebenso der Begründung wie die Auswahl von Materialien oder „didaktisch aufbereitete Anreicherungen“ (Goeze 2010, S. 139). Hier kann an die bestehenden Frameworks (Santagata und Guarino 2011) sowie an allgemeine lernpsychologische Befunde zur Unterstützung von Lernprozessen angeknüpft werden (Blomberg et al. 2013b).

Ein großes Potential für die Weiterentwicklung videobasierter Interventionen besteht auch in ihrer Kombination mit Microteaching (Seidel et al. 2015) sowie mit Videoclubs oder -zirkeln zur Bearbeitung eigener Videos (Kleinknecht und Gröschner 2016; Piwowar et al. 2013b).

Im Sonderheft werden drei Beiträge vorgestellt, die sich drei zentralen Fragen der Forschung zu videobasierten Interventionen widmen: der Frage nach der Unterstützung der Lernenden beim videobasierten Lernen, der Frage, welchen Unterschied die Arbeit mit eigenen im Vergleich zur Arbeit mit fremden Videos macht, und der Frage, ob das Medium Video einen Vorteil im Vergleich mit dem Medium Text hat.

Irina Kumschick, Valentina Piwowar, Diemut Ophardt, Victoria Barth, Katharina Krysmanski und Felicitas Thiel (2017) stellen eine Studie zur Optimierung von Videofallarbeit bei Lehramtsstudierenden durch den Einsatz von kognitiven Tools vor. Bei den Videos handelt es sich um staged videos, die Störungssituationen im Unterricht darstellen. Die Autorinnen können zeigen, dass Lehramtsstudierende, die mit kognitiven Tools lernen, einen signifikant höheren Wissenszuwachs im Bereich Klassenmanagement erreichen als Studierende, die die Videos im klassischen problembasierten Lernformat (problem-based learning, PBL) analysieren. Die PBL-Gruppe weist allerdings eine höhere identifizierte Motivation auf als die Kontrollgruppe.

Bernadette Gold, Christina Hellermann und Manfred Holodynski (2017) untersuchen in ihrer Studie, ob sich Selbstwirksamkeitserwartungen von Lehramtsstudierenden über Klassenführung sowie die professionelle Wahrnehmung der Klassenführung durch videobasierte Interventionen fördern lassen. In einem Prä-Post-Kontrollgruppendesign arbeitete eine Experimentalgruppe mit Unterrichtsmitschnitten des eigenen Unterrichts, die andere Experimentalgruppe analysierte fremde Unterrichtsvideos. Beide Experimentalgruppen verbessern ihre Selbstwirksamkeitserwartungen sowie ihre professionelle Wahrnehmung infolge des Trainings im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant.

Charlotte Kramer, Johannes König, Gabriele Kaiser, Rudy Ligtvoet und Sigrid Blömeke (2017) untersuchen die Wirksamkeit videogestützter Seminare zur Klassenführung im Vergleich mit transkriptbasierten Seminaren hinsichtlich des pädagogischen Wissens sowie situationsspezifischer Fähigkeiten von Lehrkräften. Die Autoren und Autorinnen zeigen, dass im Vergleich mit einer Kontrollgruppe sowohl die Teilnehmenden der video- als auch der transkriptbasierten Interventionsgruppe einen signifikanten Wissens- und Fähigkeitszuwachs erreichen. Nur was die kognitive Aktivierung betrifft, werden die beiden Medien unterschiedlich eingeschätzt. Die Studierenden beurteilen das videogestützte Seminar im Unterschied zum transkriptbasierten Seminar als kognitiv aktivierender.

4 Entwicklung videobasierter Tests zur Erfassung von Lehrerkompetenzen

Bei den Bemühungen um eine Optimierung der Lehrerbildung muss man auch prüfen können, ob Studierende von den neuen Fördermaßnahmen in ihrem Lernen und ihren Entwicklungen profitieren. Diese Prüfung setzt voraus, dass entsprechende Messinstrumente vorliegen, mit denen Veränderungen im Kompetenzerwerb abgebildet werden können. In der Lehrerforschung wurden hierzu lange Zeit vorrangig ‚weiche‘ Verfahren, wie Selbstauskünfte und Erfahrungsberichte oder die Angabe von Zertifikaten, verwendet (Frey 2006). Mit der Entwicklung standardisierter Testverfahren, beispielsweise in der Erfassung professionellen Wissens bei Lehrkräften (fachlich, fachdidaktisch), erfolgte ein zentraler Durchbruch in diesem Forschungsbereich. Für die Entwicklung von Tests zur Erfassung pädagogisch-psychologischen Wissens, aber zu Teilen auch für bestimmte fachdidaktische Wissensaspekte, blieb die Entwicklung standardisierter Tests anfänglich etwas zurück. Für die Erfassung dieser Wissensbestände spielt es eine wesentliche Rolle, durch welche Testaufgaben und -stimuli das professionelle Wissen von Lehrenden, die sich in unterschiedlichen Ausbildungsphasen (Studierende, Referendare, erfahrene Lehrpersonen) befinden und damit über unterschiedlich ausgeprägte Wissensbestände verfügen, aktiviert und messbar wird. Es handelt sich dabei vorrangig um solches Wissen, mit dem Aspekte der Wissensanwendung, bezogen auf den Prozess des Unterrichtens, erfasst werden sollen (Blomberg et al. 2011; Harr et al. 2015). Für diese Aspekte in der Erfassung professionellen pädagogisch-psychologischen, aber auch fachdidaktischen Wissens bietet sich der Einsatz von Videosequenzen an (Kersting 2008; Lindmeier 2011; Voss et al. 2011). Videografierte Beispiele von Unterricht, die Repräsentationen von Praxis mit Bezug zu den genannten Wissensbeständen darstellen, dienen dabei als Stimuli, anhand derer bei Lehrenden geprüft werden kann, ob sie auf der Basis dieses Wissens Situationen beschreiben, erklären und tragfähige Vorhersagen oder Handlungsalternativen benennen können. Somit erfüllt die Videografie hier den Zweck, authentische und für die Anforderungen im Lehrberuf relevante Kontexte darzustellen, anhand derer situiert das Wissen von Lehrenden geprüft werden kann.

Bei der Entwicklung und Prüfung dieser Art von Tests stellen sich wiederum eine Reihe von Fragen: Wie genau ist die Art des Wissens beschaffen, welches über diese Art von Testkonstruktion erfasst werden soll? Handelt es sich dabei um Wissen, das fachspezifisch gebunden ist oder um Wissen (wie häufig gerade für den pädagogisch-psychologischen Bereich angenommen), welches generisch (fachübergreifend) zur Anwendung kommen soll? Und was meinen wir dabei mit generisch? Ist dieses generische Wissen begrenzt auf eine Gruppe professioneller Akteure, die sich speziell mit Unterricht in der Schule beschäftigt (z. B. Lehramtsstudierende) oder ist dieses Wissen auch für breitere Professionsgruppen zu erwarten und damit auch für unterschiedliche Zielgruppen an Lernenden (z. B. Erwachsenenbildnerinnen)? Welche Konsequenzen hat dies für die Anzahl, Auswahl und Zusammenstellung von Videosequenzen als Teststimuli?

Diese Fragen sind eine Auswahl einer Reihe von Herausforderungen, denen sich die videobasierte Lehr-Lernforschung im Bereich der Testentwicklung und der Bereitstellung von Instrumenten für die Evaluation von Lehrerbildung und für die Beschreibung von Kompetenzentwicklungen derzeit stellt. Exemplarisch für diesen dritten Trend in der videobasierten Lehr-Lernforschung steht der Beitrag von Marx, Goeze, Voss, Hoehne, Klotz und Schrader (2017). In ihrem Beitrag greifen die Autorinnen und Autoren die Frage auf, inwiefern pädagogisch-psychologisches professionelles Wissen von Lehrenden als generisch betrachtet werden kann. Ein spezieller Fokus wird dabei darauf gelegt, ob man davon ausgehen kann, dass dieses Wissen von unterschiedlichen professionellen Gruppen (z. B. Lehrenden an Schulen bzw. in der Erwachsenenbildung) erworben wurde. Auf der Basis eines videobasierten Tests werden hierzu erste Ergebnisse vorgestellt und gezeigt, dass man auf der Basis von Expertenurteilen und Analysen zu den Testeigenschaften (Faktorenstrukturen, Itemschwierigkeiten etc.) davon ausgehen kann, dass das pädagogisch-psychologische Wissen durchaus bereichsübergreifende Aspekte (bezogen auf unterschiedliche professionelle Gruppen) beinhaltet. Aber auch im Beitrag von Kramer et al. (Kramer et al. 2017), der im Sonderheft wegen der Fokussierung auf die Intervention in den zweiten Abschnitt eingeordnet wurde, wird ein videobasierter Test zur Messung von Veränderungen eingesetzt und beschrieben. In dieser Hinsicht bietet es sich an, diesen Beitrag auch hinsichtlich der Konzeptualisierung und dem Einsatz auch aus der Perspektive videobasierter Testinstrumente zu betrachten.

5 Zusammenfassung und Ausblick

In der videobasierten Lehr-Lernforschung haben sich Standards entwickelt. Diese Standards beziehen sich auf gemeinsam geteilte Annahmen und Theorien über die Natur des Lernens von Lehrenden. Im Wesentlichen greifen die Beiträge Lerntheorien auf, die davon ausgehen, dass professionelle Kompetenzen situiert und praxisorientiert aufgebaut werden (Blömeke et al. 2015; Borko 2006; Cochran-Smith und Zeichner 2005). Darüber hinaus bestehen konkrete Annahmen aus didaktischen Theorien, durch welche Lehr-Lern-Arrangements der Aufbau professioneller Kompetenzen unterstützt werden kann (Grossman et al. 2009; Grossman und McDonald 2008). Außerdem besteht weitgehend Einigkeit in den Zielvorgaben von Lehrerbildung, beispielsweise in Bezug auf Standards in der Lehrerbildung (Terhart 2000), aber auch in der Zielvorstellung, welche Struktur professionelles Wissen von Lehrenden idealerweise aufweisen sollte (Baumert und Kunter 2006). In diesem Kontext erfüllt das Medium Video eine Reihe von Charakteristika, die eine empirische Prüfung dieser Annahmen und Theorien ermöglicht.

Neben diesen theoretischen Übereinstimmungen haben sich auch methodische Standards entwickelt, anhand derer das Medium Video in der Lehr-Lernforschung zum Einsatz kommt. Dies betrifft beispielsweise ähnliche Vorgehensweisen in der vergleichbar angelegten Videografie von Lehr-Lernsituationen, aber auch methodische Herangehensweisen mittels hoch- und niedrig-inferenter Ansätze in der Kodierung des Videomaterials (Seidel und Prenzel 2010). Darüber hinaus entwickeln sich gerade Standards, wie theoriebasiert vorgegangen werden kann, um in der Auswahl von Videosequenzen geeignete Praxisrepräsentationen abzubilden und diese in spezifische Instruktionsansätze für die Lehrerbildung zu integrieren (z. B. Derry et al. 2010; Piwowar et al., in Vorbereitung; Seidel und Stürmer 2014).

Trotz der Etablierung dieser Standards handelt es sich bei der videobasierten Lehr-Lernforschung aber auch um ein sich dynamisch entwickelndes Feld, in dem beispielsweise diskutiert wird, ob und wie sich durch die Einbeziehung weiterer Perspektiven (z. B. Lehrender) und Verfahren (z. B. Eyetracking) die valide Erfassung von Lehr-Lernprozessen noch weiter optimieren lässt (van den Bogert et al. 2014; Wolff et al. 2015). Weitere Fragen betreffen die Art und Weise, wie Videomaterial für die Lehrerbildung ausgewählt und für die Praxis nutzbar gemacht werden kann. Gerade das Thema von Staged-Videos spielt hier eine wichtige Rolle (Piwowar et al., eingereicht), weil über das Nachdrehen von Videos wichtige datenschutzrechtliche Herausforderungen für die Weiternutzung von Videomaterial gelöst werden können, aber auch, weil über das Nachdrehen von Videos aus einer didaktischen Perspektive spezifische Veränderungen und Einflussnahmen möglich sind. Beispielsweise können über schauspielerische Elemente bestimmte Unterrichtsaspekte stärker betont werden als in natürlichen Settings.

Dieses Sonderheft bietet einen Einblick in die derzeitigen Entwicklungen in der videobasierten Lehr-Lernforschung, die auf vielen gemeinsam geteilten Standards fußen. Im Speziellen werden in diesem Editorial drei Trends begründet, die exemplarisch für den internationalen Forschungsstand stehen und es werden aktuelle Studien hierzu vorgestellt. Mit der Systematisierung dieser Trends soll ein Rahmen gezeichnet werden, innerhalb dessen sich die videobasierte Lehr-Lernforschung in der nächsten Zeit wahrscheinlich weiter konturieren wird. Zu erwarten ist damit auch die Fortentwicklung der gemeinsamen Standards im Einsatz von Video in der Lehr-Lernforschung und der Lehrerbildung. In Anbetracht der wachsenden Zahl von Hochschulen, die Unterrichtsvideos in der Lehrerbildung einsetzen, gehört dazu dringend die differenzierte Klärung, auf welche Art und Weise die Nutzung von Video einen positiven Beitrag zur Verbesserung der Lehrerbildung liefern kann. Wie Blomberg et al. (2013a) herausstellen, ist es von entscheidender Bedeutung, für den Einsatz von Video folgende Fragen zu klären: Welche Lernziele sind mit dem Einsatz von Video verbunden? Welcher instruktionale Ansatz unterstützt das Erreichen des Lernziels (z. B. problembasiert, instruktionsorientiert) und wie kann Video in diesen Ansatz integriert werden? Welches Videomaterial ist passend für den Einsatz im Kontext der Lernziele und des instruktionalen Ansatzes (z. B. eigenes oder fremdes Videomaterial, ganze Stunden oder kurze Sequenzen)? Welche Einschränkungen bringt der Einsatz von Video im Verhältnis zu anderen Medien (z. B. schriftliche Fallanalysen) mit sich? Mit welchen Instrumenten und Prüfungsformen lässt sich der Lernfortschritt messen (z. B. geeignete Tests, Videotools)?

Gerade in der spezifischen Klärung der Wirkungsweise von Video in der Lehr-Lernforschung wird es in der nächsten Zeit unabdingbar sein, auch bereichsübergreifende Forschungsprogramme zu entwickeln. Dazu ist beispielsweise eine systematische Verbindung der allgemeinen und fachspezifischen Lehr-Lernforschung mit dem Feld des multimedialen Lernens und der Kognitionspsychologie unverzichtbar (Derry et al. 2014). Ein Beispiel für einen solchen Verbund stellt die jüngst geförderte DFG-Forschergruppe „Förderung von Diagnosekompetenzen in simulierten Lernumgebungen an der Hochschule“ (FOR 2385) dar. In diesem Verbund wird in den nächsten Jahren eine Gruppe von Lehr-Lernforschern aus der Fachdidaktik, der Medizindidaktik, des Lernens mit digitalen Medien und der allgemeinen Unterrichtsforschung an der Prüfung der spezifischen Wirksamkeit simulierter (videobasierter) Lernumgebungen arbeiten.

Darüber hinaus braucht es Verbindungen zwischen grundlagenorientierter Forschung und der Praxis der Lehrerbildung, damit das forschungsbezogene Wissen für die Weiterentwicklung der Lehrerbildung und der Hochschullehre nutzbar gemacht werden kann. Solche Verbindungen können beispielsweise Informationsplattformen oder online-Tools repräsentieren, anhand derer Wissen aus der empirischen Lehr-Lernforschung so aufbereitet wird, dass sie für Praktiker interessant, verständlich und überzeugend werden.