1 Einleitung

War früher „Industrialisierung“ ein schnelles und pauschales Erklärungsmuster für alle möglichen Veränderungen und Anknüpfungspunkt für kritische Gesellschaftsanalysen, so scheinen es seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts „Internationalisierung“ oder „Globalisierung“ zu sein. Die öffentlichen Debatten über die Anlässe für eine solche – vage und schillernde – Zeitdiagnose sind durchzogen von ambivalenten Einschätzungen: einerseits ist Internationalität positiv konnotiert, mit Neugier und Offenheit für andere Kulturen und Menschen sowie als prestigeträchtige Weltläufigkeit im Gegensatz zu bornierter Provinzialität; andererseits wird sie als Erschütterung von gewohnten Sichtweisen und Bedrohung von – oft mühsam erkämpften – nationalen Strukturen wahrgenommen. Dass Prozesse der Internationalisierung schon seit Jahrhunderten grundlegend für die Dynamik des Wirtschaftslebens sind und immer wieder Gegenstand nationaler und internationaler Kontroversen waren, z. B. über den Freihandel, gehört seit langem zum historischen Grundwissen. Dass aber auch die Entwicklung der Bildungsinstitutionen nicht nur durch die nationale Politik, sondern auch von Prozessen der Internationalisierung beeinflusst werden, ist für die interessierte Öffentlichkeit erst seit den kontroversen Diskussionen über die hochschulpolitischen Beschlüsse von Bologna und die vergleichenden Studien der OECD zu Schülerleistungen, eine irritierende Erkenntnis. Die aktuellen Anlässe für akademische und öffentliche Debatten über Internationalisierungsprozesse erwecken bei vielen den Eindruck, als handele es sich um historisch neuartige und disparate Phänomene, deren innerer Zusammenhang aber unklar ist und die deshalb oft reduziert werden auf ergänzende, ebenfalls pauschale Erklärungsansätze, wie „Amerikanisierung“ und „Ökonomisierung“, oft mit einer problematischen Nähe zu Verschwörungstheorien, in denen sich Unbehagen und Unkenntnis mischen. Für Historiker, Soziologen, Ökonomen, aber auch die historische und vergleichende Erziehungswissenschaft handelt es sich bei den heute diskutierten Prozessen der Internationalisierung und Globalisierung aber nicht um neue Phänomene, sondern um die Fortsetzung und Beschleunigung von sozialen Prozessen, die schon aus früheren Epochen der Menschheitsgeschichte bekannt sind und deren verschiedene Erscheinungsformen und Antriebskräfte im Fachdiskurs der Sozialwissenschaften und in den Modellbildungen ihrer Klassiker einen zentralen Stellenwert einnehmen, deren begriffliche Fassung und empirische Analyse aber notwendigerweise unabgeschlossene Prozesse sind (vgl. Matthes 1992; Kaelble und Schriewer 1999; Caruso und Tenorth 2002; Fuchs 2006a; Budde et al. 2006; Findlay und O’Rourke 2007). Für eine distanzierte Einschätzung der aktuellen Anlässe und kritischen Diskussionen über die Folgen von Internationalisierungsprozessen könnte sich ein Blick auf dieses historische und systematische Wissen lohnen, das in den Sozialwissenschaften dazu erarbeitet wurde. In dieser Perspektive sollen die verschiedenen Dimensionen des Themas in vier Schritten skizziert werden:

  1. 1.

    In einer historischen und systematischen Perspektive stellen sich alle Facetten des heutigen Globalisierungsdiskurses als historisch und kulturell spezifische Ausprägungen von Prozessen der überregionalen Kommunikation, des überregionalen Austauschs und der überregionalen Mobilität dar, wie sie schon seit den frühen Epochen der Menschheitsgeschichte in erstaunlichem Maße praktiziert wurden. Sie basieren auf spezifischen sozialen Voraussetzungen, die den historischen Prozess der Ausdifferenzierung und Entwicklungsdynamik von Gesellschaften vorantreiben, insbesondere auch Prozesse der Elitenbildung und ihres Wandels (Elias 1969a, Elias 1969b, Weber 1972, Williams 1966).

  2. 2.

    Diese grundlegenden Charakteristika und Folgen überregionaler Kommunikations- und Austauschprozesse wurden durch die Entstehung von Nationalstaaten nicht etwa aufgehoben und durch internationale Prozesse abgelöst, sondern auf spezifische Weise ausgeweitet und dynamisiert (Zymek 2007).

  3. 3.

    Die lange Epoche des Friedens in Europa nach dem zweiten Weltkrieg bot günstige Voraussetzungen für eine Restituierung der in der Geschichte entwickelten Voraussetzungen und Strukturen für internationale Kommunikations- und Austauschprozesse, insbesondere durch die Entwicklung neuer internationaler Organisationen, die die Prozesse der Internationalisierung mit allen ihren Facetten dynamisierten (Papadopoulos 1994).

  4. 4.

    Heute erzwingen diese Prozesse der Internationalisierung u. a. eine Transformation der nationalen Bildungssysteme, die auf allen Ebenen als Konkurrenz und Konflikt zwischen den Träger und Profiteuren – einerseits – der nationalen und – andererseits – der internationalen Strukturen ausgetragen werden (Zymek 2014).

2 Überregionale Kommunikations- und Austauschprozesse und ihre sozialen Implikationen

Der besondere Charakter von – historischen und heutigen – Prozessen überregionaler Kommunikation, überregionaler Mobilität und des überregionalen Austauschs wird erst dann erkennbar, wenn er systematisch von zwei scheinbar verwandten sozialen Beziehungen abgesetzt wird: Sie unterscheiden sich grundsätzlich von Formen der Kommunikation und des Austauschs in partikularen – familialen und lokalen – Lebenswelten und sie sind auch zu unterscheiden von einer – immer und überall vorzufindenden – individuellen Neugier und den Entdeckungsreisen und Eroberungszügen einzelner Abenteurer. Hier geht es um auf Dauer gestellte kontinuierliche Kommunikations- und Austauschprozesse, an denen größere Gruppen teilhaben. Solche Prozesse aber, wie z. B. dauerhafte Handelsbeziehungen oder der kontinuierliche Austausch von Professoren und Studenten setzten (a) eine gewisse Sicherheit der Kommunikationswege, (b) entsprechende Medien der Kommunikation und des Austauschs und (c) ein gewisses Maß ähnlicher Verhaltensstandards voraus. Ihre Durchsetzung ist ein zentrales Moment im Prozess der historischen Differenzierung und Entwicklungsdynamik von Gesellschaften, aber sie war im historischen Prozess in jedem Fall mit Gewinnen und Verlusten verbunden und deshalb – von Anfang an und bis heute – von ambivalenten Einschätzungen und vielschichtigen Konflikten begleitet:

  • Die Sicherheit und Dauerhaftigkeit überregionaler Kommunikations- und Austauschprozesse setzt voraus, dass regionale Widerstände, Interessenlagen und Konflikte überbrückt bzw. unterdrückt werden können, sei es durch Gewaltandrohung (bzw. militärischen Schutz), Verträge (Landfriedensbewegungen), die Beteiligung am Gewinn (z. B. Zölle) oder – der in der Geschichte häufigste Fall – im Zusammenhang der Durchsetzung von überregionalen bzw. imperialen Herrschaftsansprüchen, durch die das dauerhafte Gelingen dieser Mobilitäts- und Austauschprozesse (z. B. Handel, Bewegungsfreiheit) im Herrschaftsgebiet des Imperiums im Alltag gesichert wurde (vgl. z. B. Elias 1969a, S. 123 ff.; Edelmayer et al. 2001; Findlay und O’Rourke 2007).

  • Imperiale Herrschaft, wie jede Herrschaft, die größere Gruppen in einem größeren geographischen Raum umfasst, setzt voraus, dass – wie es Max Weber in seiner Herrschaftssoziologie idealtypisch und Karl Mannheim in seiner Wissenssoziologie systematisch unterschieden haben – eine Schicht von Militärs, Priestern oder Beamten entsteht, die diese(n) Herrschaft(stypus) im Alltag tragen und sichern. Sie bilden – neben den führenden ständischen Schichten (z. B. dem Adel) oder dem charismatischem Herrscher – eine spezifische soziale Elite, die durch ihre besonderen Qualitäten und ihre Expertise eine jeweils spezifische Kultur entwickeln und verwalten, die sich notwendigerweise von der Alltagskultur der Menschen distanziert und unterscheidet und diese auch – zumindest partiell – entwertet (Weber 1972; Mannheim 1982). Mit Prozessen der überregionalen Kommunikation und des überregionalen Austauschs ist also schon ganz früh in der Menschheitsgeschichte eine Differenz, ein hierarchisches Gefälle und ein Herrschaftsverhältnis überregional vernetzter und agierender Eliten und ihrer spezifischen Kultur gegenüber der Kultur der Menschen und Gruppen verbunden, die ausschließlich in ihren hergebrachten familialen, religiösen, ethnischen Lebenswelten verwurzelt und verhaftet sind.

  • Es sind diese überregional agierenden Eliten, die – in ihren Institutionen, Netzwerken, Verfahren, zum Kanon erhobenen Texten und ihren Auslegungen – schon ganz früh überregionale Standards der (Fach- bzw. Hoch-)Sprache, des Rechnungswesens, der vorbildlichen Moral und des „zivilisierten“ Verhaltens repräsentieren, überwachen, verwalten und weiterentwickeln. Diese Prozesse hat Norbert Elias in seinem klassischen Werk über den „Prozess der Zivilisation“ als den langfristigen Prozess der „Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes“ detailliert beschrieben und dann mit den „Wandlungen der Gesellschaften“ – vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit – in Beziehung gesetzt: Der Prozess der sukzessiven Zurückdrängung und Kontrolle von kreatürlichen Lebensäußerungen und affektgeladenen Neigungen erscheint in seiner „Theorie der Zivilisation“ als das notwendige Pendant zu einer immer größeren Vernetzung einer „Figuration“ von Menschen untereinander, die eine Abstimmung ihres Verhaltens notwendig macht. Der „Zwang zum Selbstzwang“, d. h. der Anpassung an die Standards des zivilisierten Verhaltens wird zunächst in den Oberschichten vollzogen, die nicht mehr nur in der lokalen Lebenswelt verankert, sondern auch in überregionalen Kontakten und Austauschbeziehungen verflochten sind (Elias 1969a, 1969b). Ihre Kommunikations- und Austauschbeziehungen sind möglich, weil sie auch „in der Fremde“ auf Menschen treffen, die ihre Sprache verstehen und ähnliche Moral- und Verhaltensstandards kultiviert haben, zumindest auf den Feldern, auf denen ein Austausch stattfinden soll. Dieser Prozess wird in der Geschichte sukzessive auf andere und breitere Schichten und auf immer mehr Felder ausgeweitet (Zymek 2002).

  • Auf der Grundlage so angepasster Strukturen der Herrschaft, der kulturellen Hierarchisierung und Standardisierung waren schon sehr früh z. B. weltweite Handelsbeziehungen und auch ein erstaunlicher intellektueller Austausch zwischen Menschen weit entfernter Regionen möglich (Kaeble und Schriewer 1999; Findlay und O’Rourke 2009). Diese Entwicklung wurde schon früh unterstützt durch Formen der Institutionalisierung und damit der Verstetigung der Kommunikation und des Austauschs: in Europa beispielweise in Form der religiösen Orden der vorreformatorischen katholischen Kirche mit ihren Netzwerken von Klöstern und deren Filialen, den Korporationen von Kaufleuten mit spezifischen Vertrauens- und Vertragsstrukturen (z. B. im Rahmen der Hanse) oder den mittelalterlichen Universitäten, zu deren Konzept es von Anfang angehörte, dass ihren Mitgliedern ein rechtlicher Sonderstatus und Reisefreiheit zugestanden wurde (Stichweh 1991).

  • Die überregionalen Kommunikations- und Austauschprozesse, auch über weite Entfernungen hinweg, waren bald nicht mehr nur von der Mobilität einzelner oder kleiner Gruppen getragen, sondern auch von Migrationsbewegungen großer Gruppen von Menschen begleitet. Aber: von Anfang an hat überregionale Mobilität zwei Gesichter, die immer beide beachtet und systematisch unterschieden werden müssen: Auf der einen Seite ist da die freiwillige überregionale Mobilität derer, die die Chancen überregionaler Kommunikations- und Austauschprozesse nutzen wollen und können, weil die Risiken ihrer Mobilität durch die Sicherheits-, Vertrags- und Standardisierungsprozesse innerhalb der überregionalen „Figuration“ erträglich gemacht wurden. Auf der anderen Seite findet, insbesondere in Gefolge von Kriegen und gewaltsamen Eroberungsstrategien, z. B. der Handelskompanien, die unfreiwillige, durch Gewalt oder Not erzwungene „Mobilität“ großer Gruppen, ja ganzer Völker statt, indem sie zu Sklaven oder fast rechtlosen „Kontraktarbeitern“ gemacht wurden und in Folge ihrer erzwungenen Mobilität nicht nur ihrer Rechte und ihres Besitzes, sondern auch ihrer Kultur beraubt wurden (und werden). Das gilt nicht nur für antike Gesellschaften, sondern auch noch für die neuere Geschichte (vgl. z. B. Findlay und O’Rourke 2009, 334 ff.; Osterhammel 2009, S. 239 ff.).

  • Überregionale Kommunikations- und Austauschprozesse waren notwendigerweise immer auch Prozesse sowohl der Kulturbegegnung, des Kulturtransfers und der Kulturtransformation und zwar bei allen Beteiligten. Das galt (und gilt) auch, wenn im Prozess der Kulturbegegnung eine herrschende Kultur auf eine oder mehrere unterworfene Kulturen trifft, denn im Prozess der Kulturassimilation findet auf beiden Seiten immer eine Kulturtransformation statt (vgl. Caruso und Tenorth 2002; Zymek 2002, S. 44 ff.; Schriewer 2007b).

  • Überregionale Kommunikations- und Austauschbeziehungen sind schließlich nie global, sondern immer selektiv, sie betreffen immer nur bestimmte soziale Gruppen, Regionen und Handlungsfelder, treffend gefasst von Norbert Elias mit den Schlüsselbegriffen seiner Soziologie, Figuration und Prozess. Viel spricht dafür, ihre Ausbreitung mit Modellen von Zentren und Peripherien zu analysieren, wie es beispielhaft Immanuel Wallerstein in seinem monumentalen Werk zur Geschichte des „Weltsystems“ getan hat (Wallerstein 2004; vgl. auch Abu-Loghod 1989).

3 Die scheinbare Paradoxie von national und international

Gegenüber den vormodernen Herrschaften und ihren überregionalen, z. T. schon weltweiten Kommunikationsstrukturen sowie ökonomischen und kulturellen Austauschprozessen bedeutete die Entstehung von Landesherrschaften und dann Nationalstaaten kein Ende der traditionellen Strukturlogik überregionaler Austauschprozesse, sondern eine historisch neue Stufe der Dynamisierung von überregionalen und internationalen Kommunikationsprozessen und den damit verbundenen Herrschaftsverhältnissen. Weil die meisten Nationalstaaten sich im Prozess ihrer Entstehung und in ihrem Gründungsmythos (bis heute) als Befreiungsbewegungen von imperialer Herrschaft und als Rückbesinnung auf – meistens sehr konstruierte – regionale und ethnische Traditionen verstanden und weil sich ihre tonangebenden neuen Eliten in Konkurrenz zu den alten – global denkenden und vernetzten, adeligen und kirchennahen – Eliten damit profilierten, ihre Nationen als „imagined communities“ zu entwerfen (vgl. Anderson 1991), wird leicht übersehen, dass mit der Gründung von Nationalstaaten ein sehr dynamischer, dialektischer und oft paradox erscheinender Prozess der Internationalisierung begann, der bis heute andauert:

  • Einerseits ist es das primäre Ziel nationalstaatlicher Politik, die überregionale Mobilität und den Austausch innerhalb des Staatsgebiets, zwischen den „Landeskindern“ und Regionen, auszubauen und zu sichern, deshalb auch den Prozess der kulturellen Homogenisierung bzw. Standardisierung auf immer mehr Gebieten voranzutreiben. Die Entwicklung nationaler Bildungssysteme nimmt in diesem Prozess des nation-building von Anfang an eine Schlüsselstellung ein, bezeichnenderweise überall beginnend mit einer Reform der Institutionen zur Ausbildung und Rekrutierung neuer Eliten (für Deutschland vgl. Zymek 2000, 2007).

  • Aber diese Initiativen für eine nationale „Identitätspolitik“ und eine zunehmende nationale Standardisierung, die einer Abgrenzung der Staatsangehörigen und der nationalen Kultur gegenüber anderen Staaten dienen sollen, waren zugleich struktur-evolutionär eine neue Stufe intensivierten Interesses und Austauschs mit anderen Ländern, die in ähnlichen Prozessen engagiert waren. Die Entwicklung eines modernen Nationalstaats konnte gar nicht nur als Rückgriff auf die eigene Geschichte und ihre kulturellen Traditionen erfolgen. Der Prozess der Entwicklung von nationalen Strukturen war (und ist) im wahrsten Sinne des Wortes immer ein inter-nationaler Prozess: Denn zu einer nationalen Reformpolitik gehörte von Anfang an die systematische Beobachtung der Politik der anderen und der Vergleich; nicht von ungefähr wurde Ende des 18. Jahrhunderts der „Kulturvergleich“ zu einer zentralen Wissenschaftsdisziplin (vgl. Tenbruck 1992; Kaelble und Schriewer 1999). Insbesondere die Länder, die man – in der Terminologie des 19. Jahrhunderts – im Gegensatz zu den „Naturvölkern“ als „Kulturländer“ und damit als potentielle Vorbilder und Konkurrenten in der „Weltpolitik“ einschätzte, wurden im Zusammenhang des eigenen inneren Staatsausbaus kontinuierlich beobachtet und verglichen (für Deutschland klassisch in der monumentalen „Verwaltungslehre“ von Lorenz von Stein, mit differenzierten historisch-vergleichenden Spezialstudien zu den Bildungssystemen in Deutschland, Frankreich und England im Band 5, 1868). Seit dem 19. Jahrhundert findet in keinem Land irgendein größeres staatliches Reformprojekt mehr statt, sei es beim Aufbau des Militärwesens, eines nationalen Rechtssystems oder des Schul- und Hochschulwesens, ohne dass Expertisen über die Initiativen und Lösungen der anderen Staaten in Auftrag gegeben und dann in Politiker- und Expertenkreisen intensiv diskutiert wurden (vgl. z. B. Zymek 1975; Waldow 2012). Wie in der Geschichte des Handels so zeigt sich auch auf anderen Gebieten, dass entwickelte Nationalstaatlichkeit nicht etwa ein Hindernis für internationalen Austausch ist, sondern dass internationaler Handel und Austausch offensichtlich vor allem auf der Grundlage einer entwickelten (National-)Staatlichkeit florieren (Rodrik 2011). Hinzu kommt eine weitere – auf den ersten Blick scheinbar paradoxe – Dynamik der Nationalstaatlichkeit: Der Nationalstaat und das, was im internationalen Prozess der gegenseitigen Beobachtung schließlich als seine unverzichtbaren Strukturmerkmale galten, wurde im 19. und 20. Jahrhundert, insbesondere aber im Prozess der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, zu dem dominanten Muster von Gesellschaftlichkeit, das die traditionelle Vielfalt von Kulturen und Gesellschaftsformen schließlich in der ganzen Welt überformte oder gar auslöschte. Meyer und Ramirez haben diesen Prozess in der These von der Entstehung einer „Weltkultur“ zugespitzt und zu einem einflussreichen sozialwissenschaftlichen Forschungsansatz ausgebaut; international-vergleichende Analysen zur Bildungssystementwicklung bilden einen Schwerpunkt ihrer Forschungen (vgl. Meyer et al. 1997; Meyer und Ramirez 2000).

  • Der Prozess der Internationalisierung in der Epoche der Nationalstaaten basiert auf einem immer dichteren Netz von internationalen Kommunikations- und Austauschbeziehungen, weil der Prozess der Ausdifferenzierung der nationalstaatlichen Gesellschaften nicht nur die Entstehung und Transformation alter und neuer Wirtschaftseliten, sondern auch von verbeamteten Experten in den staatlichen Administrationen, in den Wissenschaften und ein jeweils kulturspezifisches Feld von – sogenannten „freien“, d. h. nicht im Staatsdienst beschäftigten – Professionen mit sich brachte. Zu dem modernen Professionalisierungsprozess dieser Experten gehörte u. a. die Gründung von Fachverbänden, die Zeitschriften herausgaben und Kongresse veranstalteten und für die es schon bald wie selbstverständlich dazu gehörte, dass sie auch mit ausländischen Partnern Kontakte pflegten, für ihre Zeitschriften ausländische Korrespondenten engagierten und ihre Berichte veröffentlichten, dann auch internationale Fachkongresse organisierten, die schließlich regelmäßig stattfanden und in der Gründung von internationalen Fachvereinigung mündeten. Das alles fand vor dem Hintergrund einer sukzessiv verbesserten internationalen Kommunikationsinfrastruktur für Postverkehr und Reisen statt (vgl. Zymek 1975). So entstanden nicht nur ein internationales Netz von Handelsbeziehungen, sondern auch international vernetzte communities von Wissenschaftlern und Professionals – die auf ihren Gebieten sukzessive einen internationalen und maßstandsetzenden Wissensstand und -standard entwickelten und weiterentwickelten. Zu traditionsreichen überregionalen sprachlichen Kommunikationsmedien, wie dem Latein als alte europäische Wissenschaftssprache, dann dem Französischen als die Sprache der internationalen Diplomatie oder der Mathematik als der Formalsprache der Naturwissenschaften, traten die Bemühungen um die Vereinbarung neue Standards, wie die Maßeinheiten in Naturwissenschaften und Technik. Und die verschiedenen Felder des internationalen Austauschs dynamisierten gegenseitig ihre Entwicklung: So wurden die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, die ja eine Weiterentwicklung der seit dem Spätmittelalter veranstalteten Messen darstellten, zu Großveranstaltungen der internationalen Präsentation und Konkurrenz, in denen nicht mehr nur wirtschaftliche und technische Innovationen vorgestellt wurden, sondern auch andere „Kulturgebiete“, wie z. B. das Bildungswesen. Der Ruf deutscher Produkte und Techniken, aber auch des deutschen Bildungswesens wurde in dieser Epoche auch durch ihren Erfolg auf diesen Weltausstellungen verbreitet (vgl. die Beiträge in dem Themenheft der Zeitschrift Comparativ (5/6 1999) zum Thema: „Weltausstellungen im 19. Jahrhundert“, Fuchs 1999).

  • Der gegenseitige kulturelle Einfluss oder gar das gegenseitige Lernen und Übernehmen war aber immer ein mehrfach gebrochener Prozess: Das zeigen auf eindrückliche Weise z. B. die neueren Forschungen zur internationalen Verbreitung und kulturspezifisch unterschiedlichen Rezeption der Bell-Lancester-Methode, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts ein weltweit verbreitetes Schul- und Unterrichtsmodell war (Schriewer und Caruso 2005). Die auf den Weltausstellungen präsentierten nationalen Ausstellungen wurden in jedem Land unterschiedlich aufmerksam registriert und als vorbildlich gelobt, aber keineswegs einfach übernommen, sondern sehr oft nur in den jeweiligen nationalen Kontroversen über notwendige Reformen als Argumente strategisch eingesetzt (vgl. Zymek 1975; Schriewer 2007b; Waldow 2012).

  • Das Ineinandergreifen von Prozessen der Nationalisierung und der Internationalisierung zeigte sich im 19. Jahrhundert auch in einer – bis heute beispiellosen – Dynamisierung der überregionalen und internationalen Mobilität: Zwischen 1840 und 1910 fand fast eine Verdoppelung der Bevölkerung auf dem Gebiet des Deutschen Reiches statt, 1910 waren 47 % der Reichsbevölkerung „Binnenwanderer“. Die überregionale Mobilität innerhalb des Nationalstaats wurde durch den Ausbau des Schulwesens und seine kulturellen Standardisierungsprozesse sowohl erleichtert wie auch bearbeitet (Zymek 2000). Aber gleichzeitig waren auch hunderttausende Bürgerinnen und Bürger deutscher Staaten an der „massenhaften Fernmigration“ von mehr als 80 Mio. Menschen während des 19. Jahrhunderts beteiligt (Osterhammel 2009, S. 235). Auch wenn diese Auswanderungswelle aus Europa, vor allem nach den USA, Kanada und Südamerika, nicht mit den sklavenähnlichen Lebenslagen der Millionen Kontraktarbeiter in Asien und den Kolonien verglichen werden kann und als eine freiwillige Migration gilt, so war ihre internationale Mobilität doch in den meisten Fälle von wirtschaftlicher Not und Perspektivlosigkeit veranlasst und die Auswanderung bzw. Einwanderung mit allen Problemen einer kulturellen Deklassierung und dem Zwang zu einer problembeladenen Akkulturation verbunden. Diese überregionale und internationale Mobilität unterschied sich deshalb deutlich von der – meist auch noch zeitlich befristeten – Mobilität von Geschäftsleuten, Professionals, Wissenschaftlern und Studenten, die sich – etwa im Rahmen von Austauschprogrammen und etablierten Geschäftsbeziehungen – auch im Ausland in sozialen Welten bewegten, deren fachliche und kulturelle Standards den heimischen ähnlich waren (vgl. z. B. zu den frühen akademischen deutsch-amerikanischen Austauschbeziehungen Fuchs 2007).

  • Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeigte dann, dass internationale – wie schon früher überregionale – Kommunikations- und Austauschbeziehungen elementar von Frieden und Sicherheit abhängig sind. Er beendete eine Epoche sehr dynamischer ökonomischer, wissenschaftlicher und kultureller Entwicklung und internationaler Austauschprozesse auf allen Gebieten, deren Niveau erst Jahre später, oft erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, zum Teil bis heute nicht wieder erreicht wurde. Findlay und O’Rourke charakterisieren in ihrer Weltgeschichte des Handels die Epoche zwischen 1914 und 1939 als Epoche der „Deglobalization“ (Findlay und O’Rourke 2007, S. 429).

4 Internationale Organisationen als Motor von Internationalisierungsprozessen

Der Zweite Weltkrieg unterbrach das Netz der internationalen Kommunikations- und Austauschprozesse noch tiefgreifender als der erste; das galt insbesondere für Deutschland. Allerdings wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die politische, ökonomische und kulturelle Isolation Deutschlands schneller überwunden, weil die USA, die durch die Kriege zur dominanten Weltmacht aufgestiegen waren, für sich selbst aus den 1920er Jahren die politische Lehre zogen und es gegenüber den – zunächst widerstrebenden – europäischen Nachbarländern Deutschlands als strategische Linie durchsetzten, dass eine ökonomische Erholung und demokratische Erneuerung Europas nur durch intensivierte ökonomische und kulturelle Kooperationen – einschließlich Deutschlands – in Gang gesetzt werden könnte (vgl. Judt 2006, 112 ff.). Eine Reihe von politischen Initiativen und Programmen der westlichen Hegemonialmacht förderten gezielt Internationalisierungsprozesse, die seit den Nachkriegsjahrzehnten bis heute nachwirken:

  • Die USA initiierten und finanzierten ein Bündel von internationalen Austauschprogrammen für europäische, gerade auch deutsche Studenten, Wissenschaftler und „Multiplikatoren“ in Politik, Medien und Kultur. Neuere Studien zeigen, dass der größte Teil der in den folgenden Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland einflussreichen Pädagogen, Sozialwissenschaftler und Bildungspolitiker an USA-Studienreisen teilgenommen hatte und davon nachhaltig beeinflusst wurde (vgl. Koinzer 2011). Nur vor diesem Hintergrund sind der Aufschwung der Sozialwissenschaften in den 1960er und -70er Jahren und die „realistische Wende“ der deutschen Erziehungswissenschaft möglich gewesen. Aber auch von der amtlichen deutschen Jugendpolitik wurden Programme zu internationalen Jugendbegegnungen und Austauschprogramme von private Vereinigungen großzügig gefördert, z. B. die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF), die Internationale Jugendgemeinschaftsdienste (IJDG), Nachkriegsinitiativen, die später in bilateralen Regierungsprogrammen, z. B. dem Deutsch-Französischen Jugendwerk DFJW und dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW) und im Rahmen der neueren Freiwilligen-Dienste-Programme (BKJ) fortgesetzt wurden, nicht zuletzt weil ihre positive Langzeitwirkung nachgewiesen ist (https://www.bkj.de/foerderung-und-service/jugendkulturaustausch-organisieren/evaluation-und-forschung/studie-zu-den-langzeitwirkungen-internationaler-jugendbegegnungen.html).

  • Es zeigte sich aber auch in dieser Nachkriegsepoche, dass alle Internationalisierungsprozesse stark von politischen Macht- und Interessenkonstellationen gefördert oder begrenzt werden: Wegen der Ost-West-Konfrontation waren alle Programme der Nachkriegsjahrzehnte für 40 Jahre immer nur eine halbe und einseitige Internationalisierung. Alles war überlagert von dem politischen Gegensatz zwischen dem Macht- und Machteinflussbereich zweier konkurrierenden Weltmächte, die ihre Begegnungs- und Austauschprogramme auf die Länder ihres Einflussbereichs konzentrierten und auch inhaltlich auf den Ost-West-Gegensatz ausrichteten (vgl. Kuebart und Zymek 1977; Siegrist und Jarausch 1997). Die Implosion der Sowjetunion und die nachfolgende Öffnung der ostdeutschen Bundesländer sowie der – alten und neuen – osteuropäischen Staaten setzte sie dem Weltmarkt und internationalen Einflüssen aus, die zwar lange ersehnt worden waren, aber in ihren Konsequenzen einen nachhaltigen Schock auslösten, weil sie nicht nur mit Gewinnen, sondern auch Verlusten verbunden waren, weil es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer gab (vgl. Dittrich 2001).

  • Ein langfristig noch bedeutsameres Resultat der beiden Kriege, insbesondere des zweiten Weltkriegs, war die Gründung von internationalen Institutionen mit dem erklärten Ziel, die internationale Kooperation auf politischem, ökonomischem und kulturellem Gebiet zu fördern, auch auf den Gebieten der Bildung und Wissenschaft. Schon der nach dem ersten Weltkrieg gegründete Völkerbund und sein Institut International de Coopération Intellectuelle (IICI) waren in den 1920er und 1930er Jahren zu einem wichtigen Kristallisationspunkt auch für internationale Begegnung und Austausch auf dem Feld der Erziehung geworden (vgl. Fuchs 2006b; Mundy 2006). Noch mehr galt das dann für die kurz nach dem Krieg gegründeten Vereinten Nationen und ihre schließlich 17 selbstständigen Sonderorganisationen, von denen die UNESCO seit ihrer Gründung weltweit beachtete kultur- und bildungspolitische Aktivitäten entfaltete und die Standardisierung zu einem programmatischen Schwerpunkt machte (Winkler 2009). Die als Fortsetzung des European Reconstruction Programm (Marshallplan) entstandene OEED (Organisation for European Economic Co-operation) wurde 1961 programmatisch in die OECD (Organisation for Economic and Cultural Cooperation) umgewandelt und ihr Aufgabenspektrum erweitert. Mit ihrer ersten Konferenz 1961 in Washington mit dem Titel „Economic Growth and Investment in Education“ leitete sie einen politisch-programmatischen Paradigmenwechsel in den internationalen und nationalen bildungspolitischen Debatten ein: Seitdem ist es nicht mehr – wie bis dahin überall! – illegitim, sondern ein zentrales öffentliches und wissenschaftliches Thema (human-capital-approach), Bildung auch im Hinblick auf den ökonomischen Nutzen des einzelnen und der Gesellschaft zu diskutieren (Papadopoulos 1994). Auch die Weltbank (World Bank und ihre Gruppen) und der Internationale Währungsfond (IMF), die ebenfalls aus dem Programm zum Wiederaufbau des durch den Krieg verwüsteten Europas entstanden sind, thematisieren und beeinflussen, z. B. in den jährlich erscheinenden „Weltentwicklungsberichten“ und durch ihre Kriterien für die Kreditvergabe die Bildungspolitik nationaler Regierungen im Sinne ihrer globalen Strategien (vgl. Orivel 2007). In neuerer Zeit sind auch die Welt Handels Organisation (WTO, World Trade Organisation) und die in ihrem Rahmen durchgeführten jahrzehntelangen Verhandlungen um internationale Handelsvereinbarungen für die Bildungssysteme der beteiligten Staaten relevant geworden, denn in den letzten Verhandlungsrunden zur Öffnung der nationalen Dienstleistungsmärkte sind auch alle Bildungseinrichtungen einbezogen worden. Nun ist der Weg dafür frei gemacht, dass ausländische bzw. internationale Träger von Schulen und Hochschulen als gleichberechtigte Anbieter auf den nationalen Märkten in Konkurrenz zu den nationalen Institutionen auftreten können (Lohmann 2002).

  • Die bildungspolitischen Leitlinien, die regelmäßigen surveys, die Studien und Gutachten dieser internationalen Institutionen wirkten in den folgenden Jahrzehnten direkt und (noch mehr) indirekt als Instrumente einer Standardisierung nicht nur der internationalen Beziehungen, sondern schließlich auch der nationalen Strukturen und Prozesse: Als internationale Organisationen und mit dem Anspruch, den internationalen Austausch zu fördern, mussten sie bei internationalen Veröffentlichungen, Statistiken, Projekten, Gutachten neue übernationale Kategorien und Begriffe entwickeln, die zunächst nur in die Diskurse der Experten Eingang fanden, dann aber auch in die nationalen Diskurse und schließlich auch in nationale Statistiken und Gesetzestexte übernommen wurden: Das von der UNESCO für ihre internationalen Statistiken entwickelte System der „International Standard Classification oft Education“ (ISCED) führte ein Klassifikationssystem für die Einordnung von sehr unterschiedlichen nationalen Schulen und Hochschulen in eine horizontale Stufenstruktur von Bildungssystemen ein, das in vielen Ländern (z. B. Deutschland) quer zur ihrer amtlichen Struktur lag, aber schließlich auch hier zur amtlichen Benennungspraxis und Strukturpolitik wurde (Winkler 2009). Eine nächste Stufe der Internationalisierung und Verdichtung der Standardisierung wurde durch die von der OECD durchgeführten large-scale-studies durchgesetzt: Der internationale Vergleich von Schülerleistungen erforderte die Entwicklung eines Konzepts zur testgestützten Messung von Schülerleistungen jenseits der nationalen curricularen Anforderungen (Kompetenzen), sozialstrukturellen Kategorien (ISCO, ISEI) und die Durchsetzung von neuen internationalen Standards der empirischen wissenschaftlichen Methodik (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2003). Zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums und der Förderung der internationalen Mobilität von Studentinnen und Studenten wurden die institutionellen Strukturen der Hochschulen aller teilnehmenden Staaten nach dem angelsächsischen Modell in eine erste Studienstufe mit einem polyvalenten ersten Abschluss (BA) und einer Graduiertenstufe (MA/PhD) umgewandelt. Das System der Modularisierung, der zeitlichen Zergliederung von Studienanforderungen (work-loads) und ihrer Kreditierung (credit-points) veränderte das Studium und die Lehre an den Hochschulen tiefgreifend und folgenreich (vgl. z. B. Kühl 2011). Die Prozesse der internationalen Standardisierung erfassen nun nicht mehr nur die groben institutionellen Strukturen, sondern implementieren Reformen, die auch die inhaltlichen und unterrichtlichen Dimensionen der Bildungsinstitutionen verändern.

  • Ein historischer und internationaler Sonderfall der Internationalisierung und Standardisierung von Bildungsstrukturen ist durch die Entwicklung der Europäischen Institutionen seit den Nachkriegsjahrzehnten entstanden: Obwohl die Bildungspolitik ursprünglich nicht zu den Handlungsfeldern der Union gehören sollte, wurden dann doch auch bildungspolitische Initiativen nötig, bezeichnenderweise um die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten innerhalb Europas und auch ihre Nicht-Diskriminierung im Bildungssektor sicherzustellen (vgl. das grundlegende Gravier-Urteil des EuGH, dazu Oppermann 1987). Inzwischen hat die europäische Politik zur Schaffung eines „Europäischen Hochschulraums“ (Schriewer 2007a) und eines „Europäischen Qualitätsrahmens“ (Clement et al. 2006) zu einer Standardisierung der europäischen Bildungssysteme geführt, der noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Aber der Prozess der Standardisierung bedeutet keine uniforme Vereinheitlichung der nationalen Politiken und Strukturen; die internationalen Institutionen und ihre Initiativen werden offenbar in jedem Land unterschiedlich schnell und mit unterschiedlichem strategischem Kalkül mit Blick auf die nationale politische Arena umgesetzt (vgl. dazu die aufschlussreiche Studie von Martens und Wolff (2006) über die „Paradoxien der neuen Staatsraison“ im Zusammenhang der Internationalisierung der Bildungspolitik durch EU und OECD).

5 Die Konkurrenz zwischen nationalen und internationalen Eliten (und Unterschichten)

Es ist die programmatische Zielsetzung und offizielle Strategie der internationalen Organisationen, in ihren Berichten, Gutachten und Empfehlungen durch den internationalen Vergleich und die internationale Konkurrenz einen Anreiz für bildungspolitische Innovationen auf nationalstaatlicher Ebene zu geben. Ob diese Strategie, wenn sie als Strategie zur Verbesserung der „Qualität“ der Bildungsinstitutionen im Sinne einer Verbesserung der Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten gedacht war, konzeptionell schlüssig und politisch realistisch ist und auch in der Unterrichtspraxis zu den erhofften Folgen führt, ist umstritten. Unübersehbar ist aber, dass als eine Folge dieser Internationalisierungsprozesse eine historisch neue Konkurrenz zwischen den politischen Vertretern, administrativen Experten, Kunden und sozialen Profiteuren der bisherigen nationalen Bildungssysteme – einerseits – und den Trägern, Experten und Profiteuren der neuen internationalisierten Strukturen – andererseits – entstanden ist, die heute die nationalen Bildungssysteme transformiert. Diese Konkurrenz wird auf verschiedenen Ebenen ausgetragen:

  • Sie transformiert heute das Feld der Wissenschaften und betrifft die institutionelle, personelle und inhaltlich-forschungsstrategische Seite der akademischen Welt und ihrer Aktivitäten, die an zwei Beispielen verdeutlicht werden kann:

    • Die nationalen Hochschulsysteme, die zwei Jahrhunderte lang vorrangig der Ausbildung und Rekrutierung von nationalen Eliten dienten, erfahren unter dem Druck von Internationalisierungsprozessen eine neue Ausdifferenzierung und Standardisierung: Die gestufte angelsächsische Hochschulstruktur ist zum weltweiten Muster geworden. Ein großer Teil der Hochschulen bietet nur die erste Studienstufe an (BA), führt zu einem ersten polyvalenten Studienabschluss und Tätigkeiten im Beschäftigungssystem der Region. Ein Teil der Hochschulen, vor allem die traditionellen Universitäten, bietet auch ein unterschiedlich weit ausdifferenziertes Spektrum von Graduiertenstudiengängen an (MA/PhD), die weiterhin den Zugang zu den national geregelten Karrieren für akademische bzw. höhere Berufslaufbahnen eröffnen. Eine kleine Gruppe der Universitäten ist dadurch profiliert, dass an ihnen auch Institute angesiedelt sind, die weltweit mit Forschungsinstituten kooperieren und konkurrieren (können), die an der Weiterentwicklung des international maßstabsetzenden Forschungsstands arbeiten (vgl. z. B. Schimank und Winnes 2001; Stichweh 2001). Die neue Hierarchisierung – sowohl der nationalen wie auch der internationalen – Hochschullandschaften wird durch so genannte „Hochschulrankings“ begleitet und vorangetrieben, die mit ihren Kriterien und Ranglisten einen weltweiten Hochschulmarkt und die internationale Mobilität der Studierenden beeinflussen (vgl. Federkeil 2013).

    • Durch die internationalen Vergleichsstudien zu Schülerleistungen wurde auf dem Gebiet der Bildungsforschung und Bildungspolitik ein neuer wissenschaftlicher und politischer Standard etabliert. Nicht nur international, sondern auch national ist die Tendenz zu beobachten, dass im wissenschaftlichen und politischen Diskurs nur noch die Argumente Anspruch auf Anerkennung und Autorität erheben können, die sich auf empirische Forschungen stützen können, die mit international standardisierten Kategorien, Indizes und einer elaborierten, international standardisierten Methodik durchgeführt wurden (die sogenannte „evidenz-basierte Bildungsforschung“, vgl. dazu Bellmann und Müller 2011). Bei der Neubesetzung von Professuren ersetzen in den letzten Jahren die Vertreterinnen und Vertretern dieser empirischen Forschungsrichtung immer öfter die wissenschaftlichen Zugänge und Professuren, die bisher die kultur- und nationalspezifischen Diskurstraditionen gepflegt haben. Auch in den historisch-philologischen und gesellschaftswissenschaftlichen Wissenschaften setzt damit ein Prozess der internationalen Standardisierung ein, wie er in den Naturwissenschaften schon früher erfolgte und inzwischen fast überall selbstverständlich geworden ist.

  • Die Konkurrenz zwischen nationalen und internationalen Bildungsinstitutionen wird inzwischen als strategisches Kalkül bei der individuellen Planung von Bildungs- und Berufskarrieren genutzt: Bildungsbewusste und finanziell gutgestellten Familien haben schon früh und sensibel auf die Internationalisierungsprozesse im Bildungs- und Beschäftigungssystem reagiert und ihren Kindern zusätzlich zu einem „normalen“ Gymnasialbesuch ein Schuljahr im – vor allem englischsprachlichen – Ausland und eventuell auch anschließend ein Auslandsstudium ermöglicht. Diese individuellen Strategien sind längst in den Vereinbarungen der KMK zur gymnasialen Oberstufe und den entsprechenden Bestimmungen der Länder berücksichtigt und legitimiert (vgl. Zymek 2009). In Frankreich umgehen gut gestellte Familien inzwischen für ihre Kinder die anstrengenden und riskanten Ausleseprozeduren des concours-Systems als Karriereweg und schicken sie zu einem Studium ins Ausland, eine Entwicklung, die von kritischen Beobachterinnen als Kampf zwischen „élite culturelle et élite economique“ interpretiert wird (Darchy-Koechlin und van Zanten 2005). Internationalität ist damit zum Kriterium und zur Strategie der sozialen Differenzierung im Konkurrenzkampf um Bildungs- und Berufskarrieren geworden.

  • Die Konkurrenz von nationalen und internationalen Institutionen prägt heute vielerorts auch die Schulangebotsstrukturen: Inzwischen sind in vielen Ländern mehrere weltweit aktive – meist US-amerikanische – Bildungskonzerne mit ihren Institutionen vertreten, die sich in erster Linie an Familien international tätiger Fachleute und Manager richten (und deren hohe Schulgelder nicht selten von den Firmen übernommen werden, die sie angeworben und verpflichtet haben). Das Geschäftsmodell dieser internationalen Schulen basiert auf dem Zusammenhang von Prozessen der Internationalisierung und Standardisierung: Sie minimieren das Risiko der Folgekosten der internationalen Mobilität neuer internationaler Eliten. Während für die Erwachsenen selbst das Risiko durch die sprachliche und kulturelle Standardisierung der Geschäftswelt minimiert ist, könnte der Schulbesuch ihrer Kinder im Bildungswesen des Gastlandes das Risiko ihrer sprachlichen, kulturellen, ethnischen und sozialen Diskriminierung mit sich bringen. Dem begegnen internationale Schulen mit bilingualem Unterricht oder Englisch als Unterrichtssprache, einem konzernspezifischen, an allen Standorten gültigen standardisierten Curriculum, das von internationalen Akkreditierungsagenturen zertifiziert ist, einem international zusammengesetzten Lehrerkollegium und internationalen Abschusszertifikaten. Die hochgradige Standardisierung ist nicht nur notwendig, um den übernationalen Charakter des Schulkonzepts darzustellen, sondern auch um die hohe Fluktuation von Schülern und Lehrern in solchen Schulen zu bearbeiten. Diese Schulen stellen eine neue international standardisierte Schulkultur dar, die – vor allem in großstädtischen Dienstleistungszentren – in Konkurrenz zu den jeweiligen nationalen Schulangeboten tritt und dort auch für einheimische Familien eine Alternative darstellen kann, wenn sie sich von den nationalen Abschluss- und Berechtigungssystemen abkoppeln (können) (vgl. Zymek 2015). Parallel dazu ist aber auch die Entwicklung zu beobachten, dass traditionsreiche nationale Bildungsinstitute, vor allem Internatsschulen, sich zu internationalen Schulen weiterentwickeln. Das Geschäftsmodell der Internationalisierung ist angesichts der zunehmenden Mobilität und der Expansion international mobiler Eliten so lukrativ, dass inzwischen die Verdrängung der Familien des Heimatlandes aus diesen nationalen Traditionsschulen droht, an denen oft schon die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler Ausländer sind, so vor allem in England.

    Die nationalen Bildungssysteme erfahren also eine strukturelle Umgestaltung durch eine Neuorientierung eines Teils der gesellschaftlichen Eliten, davon betroffen sind die traditionellen Institutionen der Elitebildung, die nun in Konkurrenz zu internationalen Institutionen stehen und zu einer Differenzierung des Feldes führen. Das ist aber nur die eine Seite des Prozesses der Internationalisierung. Die andere Seite ist die Transformation der nationalen Bildungsinstitutionen auf der Ebene ihrer Basis- bzw. Pflichtinstitutionen durch Prozesse der internationalen Migration. Dort geht es – schon seit Jahrzehnten – nicht mehr nur um die traditionelle Aufgabe der (Pflicht-)schule, alle Kinder soweit an die fachlichen Standards und den Kanon der nationalen Kultur heranzuführen, dass sie am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Für einen zunehmenden Anteil ihrer Schülerschaft geht es in diesen Schulen auch darum, die sprachliche und kulturelle Kluft zwischen ihren – sehr verschiedenen! – Herkunfts- und Familienkulturen und der Kultur des Aufnahmelandes zu überbrücken. Die aus Prozessen der – erzwungenen – internationalen Mobilität resultierende soziale und kulturelle Heterogenität der Schülerschaft der Pflichtschulen führt auch hier zu spannungsreichen Konkurrenz- und Abgrenzungsprozessen, die – unter ungünstigen lokalen Bedingungen – auch auf dieser Ebene des Bildungssystems zu neuartigen institutionellen und sozialen Differenzierungsprozessen führen können, insbesondere wenn sie durch Regelungen zur freien lokalen Schulwahl ermöglicht werden: einerseits zu sozialräumlichen Segregationsprozessen und andererseits zum Rückzug in ethnische Ghettos, als Fluchtbewegungen vor kultureller Heterogenität. Internationalität ist damit zu einem treibenden und entscheidenden Moment im Prozess einer historisch neuen – offiziellen und inoffiziellen – Differenzierung und Hierarchisierung der lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Bildungslandschaften geworden (vgl. Zymek 2006, 2015).