1 Das Interesse an der Ästhetischen Bildung

Die programmatische Diskussion zur Ästhetischen und Kulturellen Bildung hat im vergangenen Jahrzehnt auch in Deutschland große Bedeutung gewonnenFootnote 1. Dabei beschäftigt sich die öffentliche Debatte über die Ästhetische BildungFootnote 2 in modernen Gesellschaften vor allem mit den erhofften Transfereffekte, den Nebenwirkungen dieser Bildungsaktivitäten und -prozesse.

Als Ziel wird definiert, allen Kindern und Jugendlichen einen erweiterten aktiven Zugang zu den Künsten zu eröffnen. In dieser Debatte werden die Künste nicht als Luxus, sondern als zentrales Element der Bildung angesehen. Häufig sind es indessen nicht philanthropische Motive, die dafür den Ausschlag geben, sondern gesellschaftlich funktionale: Man erwartet von einer Stärkung der Künste eine Verbesserung der Qualifikationsleistungen der Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, gerade auch hinsichtlich der Schlüsselkompetenzen, und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Sozialintegration. Man hofft also auf den Transfer, auf die Nebenwirkungen, auf Prävention gegen Drogen, Gewalt etc., auf bessere Gesundheit, bessere Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, bessere Aufmerksamkeit, bessere allgemeine Lernfähigkeit. Politiker und Journalisten, Wissenschaftler und Verwalter, Ökonomen und Schulleiter fragen nach den Wirkungen von Musik, Tanz, Theater, den bildenden Künsten, der Literatur. Sie wollen etwas erfahren über die Effekte für allgemeine personale oder soziale Kompetenzen wie Kreativität, Intelligenz, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, Empathie, Belastbarkeit etc.Footnote 3 Im Blick auf die Schule fragen sie nach den unterstützenden Wirkungen für die Hauptfächer, vor allem für die Mathematik. Seit mehr als dreißig Jahren hat es immer wieder Studien zu diesen Themen gegeben, insbesondere zu den Transfereffekten des Musikunterrichts; besonders bekannt wurde die Bastian-Studie (vgl. Bastian et al. 2001)Footnote 4. Auch viele Eltern sind an diesen Aspekten interessiert. Sie hoffen, dass das Mozart-Hören in der frühen Kindheit oder das Mozart-Spielen in der mittleren Kindheit den Erfolg ihrer Kinder in den Hauptfächern in der Schule fördern wird und später den Erfolg im Beruf. Und so spielen sie schon dem ungeborenen Kind Mozart vor. Aber dabei geht es nicht um die Musik, sondern um eine erfolgreiche Zukunft für das Kind. Dass das gelingen kann, ist durch die Forschung freilich nicht belegt.

Jedoch sind die Hoffnungen nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Künstlerische Bildung kann durchaus zu Ich-Kompetenz, Sach-Kompetenz, Sozial-Kompetenz beitragen; aber die Wirkungen sind keineswegs eindeutig und für alle gleich. Theater, Musik, Malerei und bildende Kunst, Tanz, Literatur, Sport sind daher nur in Maßen mit dem Transfer-Argument legitimierbar: Zwar werden neben den spezifischen Fachkompetenzen wohl tatsächlich soft skills wie Kommunikative Kompetenz, Kooperationskompetenz, Teamkompetenz, Imagination, Engagement, Empathie, Kreativität etc. vermittelt (vgl. Hetland et al 2007). Aber offenbar unterscheiden sich die Transfereffekte sehr deutlich nach den verschiedenen künstlerischen Feldern, nach dem Zeitpunkt und der Intensität der künstlerischen Betätigungen, nach der Qualität der pädagogischen Vermittlung und auch nach den persönlichen Voraussetzungen und Interessen der Lernenden (vgl. Bamford 2010; Rittelmeyer 2010). Die funktionalistische Argumentation mit den Nebenwirkungen ist daher eine schwache, unspezifische Argumentation – damit könnte man genauso gut Betriebs- und Sozialpraktika, projekt- und handlungsorientierten Unterricht in allen Fächern wie die ehrenamtliche Tätigkeit im kirchlichen Jugendverband oder der freiwilligen Feuerwehr begründen. Zudem ist keineswegs gesichert, dass die in den Künsten erworbenen soft skills auch tatsächlich in andere Bereiche der Lebenspraxis übertragen werden und nicht domänenspezifisch bleiben; bekanntlich sind nicht alle großen Künstler auch große praktische Lebenskünstler.

So plausibel die Forderung nach allgemeiner Intelligenz- und Kreativitätsförderung sowie nach Förderung der soft skills im Zusammenhang Ästhetischer Bildung auch klingt, so klar scheint es doch gleichzeitig zu sein, dass eine bloße quantitative Erweiterung künstlerischer Bildungsangebote nicht automatisch zu den gewünschten Ergebnissen führt, vor allem aber, dass zur Begründung Ästhetischer Bildung auch andere Argumente als die Transferargumente gebraucht werden. Das Interesse an den Transfereffekten hat jahrzehntelang das wissenschaftliche Interesse an den genuinen ästhetischen Lern- und Bildungsprozessen und ihrer personalen Bildungsbedeutung überlagert.

Das ist ein einigermaßen paradoxer Befund. Wie paradox er ist, kann man an einem kleinen Gedankenexperiment erkennen. Man muss sich nur vorstellen, an welchen Ergebnissen des Mathematikunterrichts normalerweise Interesse besteht. Wenn Schüler und Schülerinnen Mathematik, Naturwissenschaften oder Sprachen lernen, wird ausschließlich nach den erreichten oder zu erreichenden fachlichen Kompetenzen gefragt; niemand fragt nach den Nebenwirkungen und Transfereffekten für soziale oder kulturelle Fähigkeiten und Fertigkeiten. Und niemand würde das Argument der Nebenwirkungen und Transfereffekte jemals benutzen, um diese Fächer als schulisch notwendig zu legitimieren. Bei PISA geht es um die domänenspezifischen inhaltlichen Kompetenzen und ihre Bildungsbedeutung. Bezieht man diese Perspektive als Frage nach den domänenspezifischen Kompetenzen in den künstlerischen Feldern und Fächern auf die Ästhetische Bildung, so werden bereits an dieser Stelle immense Leerstellen der Forschung deutlichFootnote 5. Es gibt einen starken Forschungsbedarf, wenn die Fragen nach den spezifischen Praktiken, Prozessen und Wirkungen der Ästhetischen Bildung in den Künsten, zu den Künsten und durch die Künste im Blick auf die domänenspezifischen ästhetischen Kompetenzen weiter geklärt werden sollen. Zugleich wird sichtbar, dass nicht nur disziplinäre, sondern auch und vor allem mehrperspektivische, inter- und transdisziplinär orientierte Ansätze erforderlich sind.

Aber diese PISA-Perspektive, so wichtig sie im Blick auf die ästhetische Alphabetisierung auch ist, reicht zur Legitimation Ästhetischer Bildung keineswegs hin. Argumente für die normative Frage, warum Menschen sich mit diesen Bereichen und Themen beschäftigen, sich entsprechende Kompetenzen aneignen und sich auf die einschlägigen Bildungsprozesse einlassen sollen, können damit nicht hinreichend gewonnen werden. Dazu braucht man bildungstheoretische Perspektiven und Begründungen.

Im Folgenden wird ein solcher Ansatz skizziert. Unterschieden wird zwischen einem aisthetischen Zugang in der Tradition der Pädagogischen Anthropologie und einem ästhetischen Zugang im Sinne der klassischen BildungstheorieFootnote 6.

2 Aisthesis: Lernen, Leib und Sinne

Nach langen pädagogischen und anthropologischen Debatten gehört es inzwischen zum wissenschaftlichen Standard, Lernen für einen sehr individuellen, nur begrenzt durch Lehren steuerbaren, hochgradig entwicklungsoffenen Vorgang der Selbstentwicklung und Selbstgestaltung zu halten; die traditionellen behaviouristischen Lerntheorien der älteren Psychologie erscheinen heute als geradezu rührend altmodisch und überholt. Die Aneignungs- und Entwicklungstätigkeit des lernenden Subjekts gilt als unverfügbar. Sie kann und muss zwar gestützt und unterstützt, aber sie kann nicht vollständig fremdgesteuert werden: Lernen muss jedes Kind, jeder Mensch selber; es gibt keine Möglichkeit einer Substitution (vgl. Göhlich und Zirfas 2007). Jedes Kind tut das auf seine Weise, in einer je eigentümlichen, je besonderen Mischung aus individuellen Anlagen und individuell verarbeiteten Kontexten. Die biographische Mischung aus Genen und Umwelten, Zeiten und Räumen, Strukturen und Ereignissen, Wahrnehmungen und Urteilen, Phantasien und Handlungen ist in jedem einzelnen Fall neu und anders; jedes Kind, jeder Mensch lebt seine absolut einmalige Lebensgeschichte und Biographie als biologisch-kulturelles Doppelwesen, indem es seine Umwelt und dabei zugleich sich selbst gestaltet.

Dass der Mensch sowohl lernfähig als auch lernbedürftig ist, ist bekannt. Dass sein Lernen aber nur im Zusammenspiel von Ich-Bildung und Welt-Bildung zustande kommen kann, ist weit weniger bekannt und anerkannt. Aber dieses Zusammenspiel ist das Entscheidende. Bildendes Lernen ist ein dialektischer, ein offener Prozess – das Kind wirkt auf die Welt ein, es bewirkt dort etwas, und das, was es da bewirkt, wirkt auf überraschende und nicht vorhersehbare Weise auf es selbst zurück. Damit muss es dann wieder etwas anfangen (vgl. Liebau et al. 2009, S. 28). Dieser Prozess zieht sich durch das gesamte Leben, durch Kindheit, Jugend, Erwachsenheit bis ins Senioren- und Greisenalter. Wenn das Kind zum ersten Mal ein Menschenbild malt, begibt es sich nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv in eine strukturell neue Situation, die eine Umstrukturierung der Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsmuster erfordert. Wenn es zu schreiben, zu rechnen lernt, eröffnen sich nicht nur neue Fähigkeiten, sondern auch neue Welten. Es wird buchstäblich ein anderes, indem es eine andere Welt herstellt. Ästhetische Kompetenzen gehen hervor aus auf Lernen fußenden lebenslangen, lebensbegleitenden und unabschließbaren Prozessen immer neuer Gestaltung, selbstverständlich auf der Grundlage der biologischen Entwicklungstatsache. Niemand weiß vorher sicher, was dabei heraus kommt, und niemand kann es wissen. In den künstlerischen Fächern und Feldern der formalen Bildung gilt dies ebenfalls. Die Praktiken, Prozesse und Effekte von Vermittlung und Aneignung im Blick auf die ästhetischen Kompetenzen sind bislang allerdings kaum beforscht wordenFootnote 7.

In den programmatischen Debatten zur Ästhetischen und Kulturellen Bildung werden gerne allgemeine pädagogisch-anthropologische und bildungstheoretische Begründungen gegeben: Lernen mit Kopf, Herz und Hand; Bildung mit allen Sinnen; ganzheitliches Erleben lauten die seit Rousseau, Pestalozzi, Goethe, ein Jahrhundert später dann in der Reformpädagogik immer wiederholten Stichworte, die auch heute noch, 30 Jahre nach der Wiederentdeckung der historischen Reformpädagogik der Jahrhundertwende, geradezu gebetsmühlenartig wiederholt werden. Diese Dimensionen bleiben indessen allgemein und unspezifisch – damit lässt sich noch nicht differenzieren, welche Künste aus welchen Gründen mit welchen Zielen in welchen Formen und in welcher Quantität und Qualität in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit rücken sollen. Dazu muss man genauer werden.

Eine spezifischere Begründung für die einzelnen künstlerischen Felder kann z. B. mit einem phänomenologisch-anthropologischen Zugang gegeben werden. Darum hat sich insbesondere Otto-Friedrich Bollnow bemüht: „Die in der menschlichen Leibesorganisation gegebenen Sinnesorgane […] werden […] erst durch die menschliche Arbeit, worunter hier vor allem die Werke der Kunst zu verstehen sind, zu eigentlich menschlichen Sinnen. Erst durch das Hören der Musik wird das Ohr zu einem für die Schönheit der Musik empfindlichen Organ. Erst durch die Betrachtung der Werke der bildenden Kunst wird das Auge zu einem für die Schönheit der Form und der Farbe aufgeschlossenen Organ“ (Bollnow 1988, S. 31). Man kann das fortführen: Erst durch den Anblick des Tänzers erfahren wir als Bewegungskörper, was und wie wir uns bewegen könn(t)en; erst durch den Geschmack der himmlischen Speise des Sternekochs, was wir schmecken könn(t)en; erst durch den Geruch des betörenden Parfüms, was wir riechen könn(t)en.Oder allgemeiner: „Erst durch die Beschäftigung mit den Werken des objektivierten Geistes, in diesem Fall mit den Werken der Kunst als Erzeugnissen menschlicher Gestaltung, werden die Sinne zu Organen einer differenzierten Auffassung“ (ebd.). Der Mensch ist erst dann „im vollen Sinne Mensch, wenn er die ganze Breite der bisher verkümmerten Sinne zur Entfaltung gebracht hat.“ (ebd., S. 32) Es ist ein „Kreisprozess“ zwischen gestalteter Wirklichkeit und Entwicklung der entsprechenden Auffassungsorgane im Menschen: „Die gelungene Gestaltung einer bisher ungestalteten oder weniger gestalteten Wirklichkeit entwickelt im Menschen ein ihr entsprechendes Organ des Auffassens, und so leben wir in einer Welt, wie die Kunst uns sie zu sehen gelehrt hat“ (ebd.).

Das gilt schon für Kinder. Auch sie leben nicht in einer Welt, wie sie ist, sondern in einer Welt, wie sie sie sinnlich wahrnehmen und die sich damit, als ihre, von allen anderen Welten unterscheidet. Wie sie sie wahrnehmen, haben sie – auf der Grundlage ihrer individuellen biologischen Dispositionen – gelernt bzw. lernen sie. Wenn man erreichen will, dass sie differenziert wahrnehmen, kommen notwendigerweise die Künste ins Spiel. Sie bieten die komplexeste Form menschlicher Wahrnehmung an.

3 Ästhetik: Bildung durch die Künste, am Beispiel des Schultheaters

Die bei Bollnow vorherrschende Rezeptionsperspektive, so wichtig sie ist, ist bildungstheoretisch jedoch zu eng. Es geht nicht nur um die leibliche, sondern, klassisch gesprochen, auch um die geistige Bildung sowie um emotionale und soziale Dimensionen der Bildung. Im Blick auf die Ästhetische Bildung ist es in jedem Fall sinnvoll, systematisch zwischen den drei ästhetischen Perspektiven der Produktions-, der Werk- und der Rezeptionsästhetik zu unterscheiden. Denn die Leistung der Künste ist nicht auf die Förderung der Wahrnehmung beschränkt; produktionsästhetisch ermöglichen sie auch die differenzierte Entwicklung von Ausdruck, Darstellung und GestaltungFootnote 8. Theaterspielen, Musizieren, Malen, Plastizieren, Tanzen, literarisches Schreiben, mediale Gestaltungsformen etc. sprechen je unterschiedliche Möglichkeiten der Wahrnehmung und des Ausdrucks, der Darstellung und Gestaltung an. Gemeinsam ist diesen so unterschiedlichen Künsten allerdings, dass sie Kinder und Jugendliche zu faszinieren vermögen. In guter ästhetischer Bildungspraxis verlieren sich Kinder und Jugendliche ganz an die Situation der Gestaltung, sind sie ganz bei dem, was sie tun, sei es nun tanzen, trommeln, malen, schauspielern, schreiben, singen oder was auch immer. Was Maria Montessori die Polarisation der Aufmerksamkeit genannt hat und was in modernen psychologischen Theorien „Flow“ (Csikszentmihalyi 1995) heißt, lässt sich da beobachten.

Das Theater und der Theaterunterricht bieten hier aus verschiedenen Gründen besonders interessante PerspektivenFootnote 9. Das Theater als Kunstform verbindet verschiedene Einzelkünste – Schauspielerische Aktion, Musik, Text, Licht und Medien, Tanz, Akrobatik und Performance, Bild und Bühnenbild, Maske und Kostüm stellen verschiedene Elemente dar, die im Spiel auf der Bühne (oder anderen theatral inszenierten Orten) in unterschiedlichen Mischungen erscheinen. Darüber hinaus ist in der Regel ein erheblicher technischer, handwerklicher, ökonomischer und sozialer Aufwand im Hintergrund erforderlich, der die Aufführung erst ermöglicht. Besonders interessant ist das Theater aber auch, weil es sich in sehr unterschiedlichen institutionellen Formen in der Schule findet, vom Regelunterricht über Wahlpflichtunterricht bis zum Wahlunterricht, von verschiedenen Formen schulinterner Arbeitsgemeinschaften über Projektkooperationen mit Profi-Bühnen oder freien außerschulischen Theaterpädagogen bis zu organisierten Bühnenbesuchsringen oder Theaterfahrten. Schließlich stellt auch die Aufgabe des Theaterlehrers eine besondere Herausforderung dar, weil Theaterlehrer nicht nur pädagogisch, sondern auch künstlerisch in hohem Maß gefordert sindFootnote 10. Theater und Theaterunterricht bilden daher eine besonders komplexe Herausforderung Ästhetischer Bildung in der Schule; hier werden auch manche Forschungsprobleme zur Ästhetischen Bildung besonders deutlich sichtbar. Die folgende Darstellung bezieht sich ausschließlich auf produktives Schultheater, bei dem Theaterlehrer mit Schülern sei es im Unterricht, sei es in freien Arbeitsgemeinschaften theatrale Aufführungen vorbereiten und realisierenFootnote 11.

3.1 ProduktionsästhetikFootnote 12

In der produktionsästhetischen Perspektive geht es darum, den Prozess der „Erarbeitung“ – besser wäre vielleicht von Erschließung, Erfindung, Erspielung, Erübung zu reden – als einen Bildungsprozess zu vervollkommnen, ganz im Humboldtschen Sinn nicht nur der wechselseitigen Erschließung von Ich und Welt, sondern auch ihrer wechselseitigen Vervollkommnung. Im Zentrum steht die Suche nach der richtigen theatralen Form, die sich nur finden lässt, wenn auch alle Akteure sich auf die Vervollkommnung ihrer Form einlassen. Die schließlich zur Aufführung gebrachte Inszenierung bildet das Ergebnis dieses Suchprozesses, in dem alle Einzelheiten und ihre Verbindung auf dem Spiel stehen: Text, Bühne, Licht, Bewegung, Stimme, Kostüme, etc. Im Schultheater kommt es dabei besonders darauf an, jeden einzelnen Beteiligten von vornherein aktiv zu beteiligen; es kann nur als gemeinsames Werk gelingen. Eine geregelte Befugnis aller Beteiligten zur Partizipation am Entwicklungsgeschehen bildet daher eine wesentliche Voraussetzung der Entwicklung der erforderlichen Fähigkeiten. Dabei sind nicht nur die Bühnenakteure interessant; auch die Beleuchter, Bühnen- und Maskenbildner, Musiker, Techniker, Programmgestalter, Geldsammler, Platzanweiser, Souffleure werden gebraucht. Für alle Beteiligten müssen in partizipativen Verfahren „Rollen“ gefunden werden. Eine nach aller Erfahrung besonders schwierige Aufgabe besteht dabei in der Rollenbesetzung der Bühnenrollen. Der Konflikt zwischen individuellen Auftritts- und Erfolgswünschen und den Anforderungen des Spiels wird häufig genau an dieser Stelle virulent und kann zu dramatischen Auseinandersetzungen führen. Daher steht in modernen Inszenierungen des Schultheaters nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus pädagogischen Gründen häufig die Gruppe im Mittelpunkt; so können Rollen geteilt, mehrfach besetzt, Chöre geschaffen werden, die vielen Mitspielern Auftrittschancen erschließen. Der entscheidende Bildungsprozess besteht hier darin, dass die selbständige Vorherrschaft des Spiels von allen Beteiligten anerkannt werden muss, auch wenn das eigenen Ambitionen widersprechen mag. Für die Bühnenspieler besteht die Herausforderung darin, die für das Spiel richtige Geste, die richtige Haltung, den richtigen Ausdruck zu finden; den Maßstab bildet das immer bessere Gelingen des Spiels. Nicht der Spieler, das Spiel steht im Mittelpunkt; der Spieler und die anderen Mitwirkenden sind Medium des Spiels. Die bildende Wirkung liegt an dieser Stelle. Schultheater bietet also in produktionsästhetischer Hinsicht ein Musterbeispiel nicht nur für direkte, sondern auch für indirekte Erziehung.

3.2 Werkästhetik

Die werkästhetische Perspektive geht ausschließlich von den Anforderungen des Kunstwerks aus. Aber was bedeutet eine solche Feststellung im Blick auf das Schultheater? Was ist hier unter dem Kunstwerk zu verstehen? Worin könnte hier die mögliche Vollkommenheit bestehen? Was könnte hier „Kunst“ bedeuten? Lassen sich spezifische Merkmale identifizieren, an denen diese Kunst gemessen werden kann? Es bietet sich an, von der Differenz zum Profi-Theater auszugehen. Schultheater ist Laientheater; es sind besondere Laien, die da spielen. Seine Legitimation ist durch den schulischen Rahmen bestimmt; in der Schule geht es um die Ermöglichung von Bildungsprozessen. Das hat Folgen für das Kunst- und damit auch das Werk-Verständnis. Es ist evident, dass das Schultheater in mancher Hinsicht anderen ästhetischen Aspekten folgt und folgen muss als das Profi-Theater. Denn die Ästhetik des Schultheaters folgt nicht zuletzt aus der Notwendigkeit der Inszenierung von unabgeschlossenen Bildungs- und Entwicklungsprozessen. Es sind Kinder und/oder Jugendliche, die auf der Bühne agieren; für sie stellt das Mitspiel eine ganz andere Herausforderung dar als für die Profis der Profi-Bühne. Die Kunst der Profi-Bühne entsteht vor dem Hintergrund der von Regie und Schauspielern zu führenden Auseinandersetzung mit der gesamten Theatergeschichte in Produktion und Rezeption; sie ist also notwendig in einem Feld voller historischer und aktueller kultureller Auseinandersetzungen verankert; und sie wäre gänzlich unprofessionell, wenn sie diesen Hintergrund nicht aktiv präsent hielte.

Die Kunst des Schultheaters dagegen entsteht vor dem Hintergrund von Erstbegegnungen zwar nicht des Theaterlehrers, aber doch der meisten Mitwirkenden mit den Herausforderungen des Stoffes, des Stücks, des Textes, der Idee, die notwendigerweise naiv und original erfolgen müssen. Hier wird das Theater durch die Mitwirkenden gewissermaßen immer wieder neu erfunden, auch wenn es in Wirklichkeit nur neu gefunden wird. Dass es Teil von Bildungsprozessen ist, ist für das Schultheater konstitutiv. Seine Vollkommenheit erreicht es dann, wenn die Grenzen des unter diesen Bedingungen Möglichen und Sinnvollen erreicht werden. Gutes Schultheater kann daher niemals „Serientheater“ sein; es legt vielmehr Zeugnis ab von dem besonderen, einmaligen Prozess, den die aufführende Gruppe bis zur Aufführung hinter sich gebracht hat. Dass die allgemeinen Gesetze der Bühne nicht negiert werden können, gehört dabei zu den wesentlichen Erfahrungen, die alle Gruppen machen; auch daraus folgen Qualitätsmaßstäbe. Dass Schultheater in der Regel zugleich „armes“ Theater ist, kommt in der Regel, wenn gewisse Mindestbedingungen eingehalten werden, der ästhetischen Qualität eher zugute.

Wie jedes Lebensalter, jede Entwicklungsstufe ihre eigene Vollkommenheit hat, so hat auch jede Form des Theaters ihre eigene Vollkommenheit. Gutes Schultheater macht Bildungsprozesse sichtbar, ohne sie als solche vorzuführen. Es zeigt zugleich mit dem Bühnengeschehen mitlaufende latente Sinnstrukturen, objektiven Sinn ohne subjektive Absicht. Dass das aktuelle Bühnengeschehen für die beteiligten Akteure latente Sinngehalte bereit stellt, die sich erst in der Zukunft und in der Retrospektive erschließen werden, ist ein wesentlicher Teil des Geschehens selbst: ein Aspekt, der zwar dem Spielleiter und dem erwachsenen Publikum präsent sein mag, den Akteuren aber allenfalls als Ahnung erscheint. Für die spielenden Schülerinnen und Schüler stellt die Mitwirkung am Schultheater zwar auch subjektiv ein Element ihres allgemeinen Bildungs- und Entwicklungsprozesses dar, insbesondere aber eine aktuell attraktive Möglichkeit, die eigene Zeit durch ein aufregendes, gemeinsam mit anderen zu bewältigendes Theaterprojekt zu füllen – mit allen damit verbundenen Implikationen, Risiken und Chancen: Triumph und Scheitern, Grandiosität und Inferiorität, Selbst-Inszenierung und Selbst-Zweifel. Die Inszenierung muss also ihr Maß an der spezifischen Vollkommenheit und Perfektibilität der jeweiligen kindlichen oder jugendlichen Gegenwart finden; nur dann kann sie die ästhetische Valenz dieser besonderen Konstellation entfalten und zur Geltung bringen. Die explizite ästhetische Erziehung muss sich also – und kann sich auch nur – ausschließlich auf den aktuellen Prozess und das aktuelle Produkt beziehen: die pädagogische Aufgabe besteht ausschließlich darin, mit allen Beteiligten die unter den gegebenen (Entwicklungs-)Möglichkeiten bestmögliche Form der Darstellung zu finden und einzuüben. Darin besteht die Kunst. In werkästhetischer Hinsicht erschließt das Schultheater damit eine Dimension der Bühne, die keiner anderen Theaterform zugänglich ist.

3.3 Rezeptionsästhetik

Was bewegt die Zuschauer beim Schultheater? Es ist in der Regel ein sehr spezifisches, sehr besonderes Publikum, das die Aufführungen wahrnimmt. Schülerinnen und Schüler, manchmal auch Ehemalige finden sich ein, Eltern und Verwandte der Akteure und andere Eltern, Lehrerinnen und Lehrer. Manchmal werden von den verschiedenen Gruppen auch interessierte Freunde mitgebracht. Inzwischen kommt es häufiger vor, dass auch die allgemeine Öffentlichkeit eingeladen wird. Diese Gruppen haben sehr unterschiedliche Perspektiven; es ist zu vermuten, dass sie auch sehr Unterschiedliches wahrnehmen. Leider gibt es jedoch bisher keinerlei systematische empirische Forschung zu dieser Frage. Aber die Erfahrungen legen doch einige Vermutungen nahe. Sicher ist, dass bei diesen Theatererlebnissen eine ganz besondere Aufmerksamkeit den Bühnenakteuren gilt, die hier in anderen als den Alltagsrollen sichtbar werden und wahrgenommen werden können. Für das jugendliche Publikum werden hier häufig ungeahnte Seiten an ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sichtbar, die zur Differenzierung der Bilder des anderen beitragen, aber zugleich auch eigene bisher nicht realisierte Möglichkeiten aufscheinen lassen können. Auch für das erwachsene Publikum, die Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer, spielt dieser erhellende Verfremdungsaspekt sicher eine zentrale Rolle. Es kommt aber ein weiterer Aspekt hinzu: Es ist wohl vor allem die Einzigartigkeit der Verbindung des sicht- und hörbaren Bühnengeschehens mit den Bildungsprozessen der Akteure, die der notwendig naiven Aufführungspraxis ihre unnachahmliche Suggestion gibt. Die Rührung des erwachsenen Publikums folgt aus der besonderen Anmut der Darstellung, der frischen Begegnung mit der Aufgabe und damit der unerwarteten eigenen Begegnung mit dem einzigartigen Bühnengeschehen. Es ist die Begegnung mit dem hier sichtbar werdenden Bildungsprozess selbst, der das Schultheater zu einer besonderen Bildungsmöglichkeit für das erwachsene Publikum macht. Es ist damit zugleich die Erinnerung und das Gedächtnis an den eigenen Bildungsprozess, die eigenen gewonnenen und verlorenen Möglichkeiten.

Schultheater als ein Ort der Generationenbegegnung hat damit einzigartige, vom Profi-, aber auch vom sonstigen Laien-Theater zu unterscheidende ästhetische Wirkungen. Schultheater kann die Gewohnheit bilden, sich voll Spannung und Neugier dem Fremden zu nähern: dem fremden Text, den fremden Ausdrucksformen, dem fremden Spiel, den fremden Partnern, dem fremden Publikum und – am allerwichtigsten – dem fremden Selbst. Und es kann die Gewohnheit bilden, mit den Überraschungen, die einem dabei begegnen, zugleich gespannt und gelassen umzugehen.

4 Ästhetische Bildung

Das Beispiel des Schultheaters zeigt deutlich, dass hier nicht nur ästhetisches Lernen im Sinne ästhetischer Alphabetisierung, sondern Ästhetische Bildung geschieht. Man kann die Wechselwirkung zwischen Ich und Welt buchstäblich sehen, die durch die Gleichzeitigkeit und die Wechselwirkung von Welt-Bildung und Ich-Bildung zustande kommt. Es ist das Besondere der ästhetischen Erfahrung, dass sie an eine Welt gebunden ist, die sich nicht vollständig in Routine, Alltag, Selbstverständlichkeit auflösen lässt, sondern immer und genuin auch durch Fremdheit, Andersheit, Unverfügbarkeit gekennzeichnet ist. Zwar weiß der kindliche oder jugendliche Rollenspieler durchaus, dass er eine Rolle spielt. Aber was ihm geschieht, wenn er sie spielt, und gar, wenn er sie vorspielt: das weiß er nicht und kann er nicht wissen. Aber mit der Erfahrung, die er da macht, muss er sich dann auseinandersetzen. Und das gilt für die jungen Tänzerinnen, Maler, Bildhauerinnen, Sänger, Instrumentalmusikerinnen, Zirkusdirektoren und Erzählerinnen und Dichter ganz analog – bei allen Differenzen zwischen den Künsten. Da die Künste unterschiedliche Dimensionen menschlicher Bildung ansprechen – man braucht hier nur an die fünf Sinne zu denken –, werden sie alle gebraucht, wenn man Ästhetische Bildung in einem umfassenden Sinn ermöglichen will. Daher kommt es entscheidend darauf an, allen Kindern und Jugendlichen zunächst gut gangbare Zugänge zu den verschiedenen Künsten zu eröffnen; nur dann können sie auch – ggf. gemeinsam mit den Eltern, Lehrern, Künstlern – für sich herausfinden, wo sie besondere Interessen und Kompetenzen entwickeln können und vielleicht wollen. Der entscheidende Grund für diese Nötigung zur Beschäftigung mit den Künsten liegt in der Bildungsperspektive – die in den Künsten entwickelten Welten der Töne, Klänge, Farben, Formen, Figuren, Geschichten bieten die differenziertesten Möglichkeiten der Welt- und der Selbstwahrnehmung, der Welt- und Selbstgestaltung, die die menschliche Gattung entwickelt hat. Sie bieten jenseits von Nützlichkeit und Brauchbarkeit einen unerschöpflichen Reichtum an Anregungen und Herausforderungen, mit dem die Lebenszeit befriedigend und sinnhaft gefüllt werden kann – und dies auch dann, wenn eine Partizipation an der Welt der bezahlten, beruflichen Arbeit noch nicht, gar nicht oder nicht mehr möglich ist.

Eine Garantie dafür, dass in den Prozessen Ästhetischer Bildung und Kompetenzvermittlung allen Kindern und Jugendlichen Bildung geschieht, gibt es allerdings nicht. Zur empirischen Erfahrung gehört auch die Tatsache, dass nicht alle Kinder in gleicher Intensität erreicht werden können, dass manche Kinder sich auch in den künstlerischen Situationen ausklinken oder sie aktiv stören. Natürlich stellt sich da aus pädagogischer Sicht immer zuerst die Frage nach der Qualität des Angebots. Ist der Unterricht gut genug? In welcher Hinsicht kann er verbessert werden? Was müssen Lehrer lernen? Aber selbst bei gutem Unterricht findet sich empirisch der Befund, dass Kinder höchst unterschiedliche subjektive Interessen und Kompetenzen in den künstlerischen Bereichen entwickeln, je nach angebotenen Möglichkeiten und je nach aus den primären Kontexten mitgebrachten Dispositionen und Kompetenzen. Kann und darf man aus diesen empirischen Beobachtungen aber den Schluss ziehen, dass dann eben nur interessenbezogener Unterricht in den künstlerischen Feldern angeboten werden sollte – Musik für Musik-Interessierte, Theater für Theater-Interessierte, Literatur für Literatur-Interessierte und Medienkunst für Medien-Interessierte? Offenbar wäre das Unsinn. In einem modernen Allgemeinbildungskonzept müssen vielmehr auch die Künste für alle verpflichtend angeboten werden, mindestens auf der elementaren Stufe künstlerischer Alphabetisierung (Liebau und Zirfas 2009). Das schließt ein – wie auch immer zu definierendes – Mindestwissen und Mindestkönnen ein.

Das Interesse bleibt freilich unverfügbar, es kann nur angeregt, nicht aber eingefordert werden. Alle Kinder und Jugendlichen müssen also in den verschiedenen Künsten soweit gefördert werden, dass sie wenigstens eine domänenspezifische elementare Wahrnehmungs-, Ausdrucks-, Darstellungs- und Gestaltungskompetenz als Urteils- und Handlungskompetenz erwerben können. Aber über diese verpflichtende Elementarausbildung hinaus muss es für alle Kinder die Möglichkeit geben, auch in ihren jeweiligen Interessenbereichen vertiefte Kompetenz zu erwerben. Sie müssen dann wählen, also entscheiden können, was sie zu ihrer Sache machen wollen. Das muss dann freilich auch einschließen, dass sie ihre Vertiefungen in anderen, sei es praktischen, sei es wissenschaftlichen, sei es sozialen Bereichen suchen können und dürfen.

5 Forschung zur Ästhetischen Bildung

Wissenschaftlich kann man sich der Ästhetischen Bildung selbstverständlich aus allen einschlägigen disziplinären, inter- und transdisziplinären Perspektiven nähern. Dabei lassen sich zunächst drei grundsätzlich unterschiedliche Zugangsweisen unterscheiden. Man kann das Feld unter methodologischen, unter wissenschaftsdisziplinären und unter feldspezifischen Aspekten gliedern:

Methodologisch lassen sich grundsätzlich theoretisch-systematische Ansätze (Theorie der Ästhetischen Bildung, Grundbegriffe, Definitionen, Konzepte), historische und vergleichende Ansätze (Geschichte und Entwicklung der Ästhetischen Bildung in verschiedenen Gesellschaften), empirisch-analytische Ansätze mit qualitativer und quantitativer Methodik (Strukturen, Prozesse, Resultate) und pragmatische, entwicklungsorientierte Ansätze der Begleitforschung (Monitoring, formative Evaluationsforschung) unterscheiden.

Disziplinär beschäftigen sich die verschiedensten Wissenschaften mit Aspekten Ästhetischer Bildung. Die Zugänge ergeben sich einerseits aus den spezifischen Aufmerksamkeiten, Methodologien und Interessen der wissenschaftlichen Disziplinen; andererseits sind gerade in diesem Feld inter- und transdisziplinäre Zugänge verbreitet und auch inhaltlich erforderlich. Geistes- und kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und – in jüngerer Zeit zunehmend – auch naturwissenschaftliche und technologische Paradigmen und Perspektiven erschließen dabei unterschiedliche Aspekte der Ästhetischen Bildung.

Eine dritte Systematik folgt aus der Differenzierung der Ästhetischen Bildung nach den verschiedenen Künsten und ihren Mischungen, also Ästhetische Bildung durch Musik, bildende Kunst, Theater, Tanz, Literatur, Film, Fotographie, die neuen Medienkünste etc.; eine entscheidende Rolle spielen dabei einerseits Qualitätsaspekte (z. B. welche Musikvermittlung in welcher Qualität), andererseits die Relationen zwischen den Entwicklungen in den verschiedenen künstlerischen Feldern selbst zu den Entwicklungen in den Vermittlungszusammenhängen (z. B. Profi-Theater und Schultheater).

Bezieht man diese drei Perspektiven aufeinander, ergibt sich eine dreidimensionale Matrix von hoher Komplexität, die einerseits sehr schön deutlich macht, welche Fragen sinnvollerweise thematisiert werden könnten und sollten, die andererseits aber zugleich die völlige Aussichtslosigkeit auch nur des Versuchs einer umfassenden wissenschaftlichen Gesamtperspektive sichtbar macht. Dennoch erscheint eine solche gedankliche Matrix als hilfreich, weil sie als Einordnungs- und Suchinstrument genutzt werden kann und damit sichtbar macht, wo bereits Arbeiten vorliegen und wo die Leerstellen sind.

Wie in jedem anderen Forschungsfeld auch ist bei der Forschung zur Ästhetischen Bildung das erste und wichtigste Ziel die Produktion neuen Wissens und neuer Fragen in der Auseinandersetzung mit den im Feld vorfindlichen wissenschaftlichen Diskursen. Indessen steht, wie im einleitenden Abschnitt dieses Aufsatzes bereits skizzziert, überraschenderweise der vergleichsweise traditionsreichen Transferforschung nur eine sehr viel schmalere domänenbezogene Forschung gegenüber. Man hat vergleichsweise häufig gefragt, ob Mozart kognitiv oder auch sozial schlau macht (vgl. BMBF 2006), aber nur sehr viel seltener, ob und wie Mozart zu musikalischer Kompetenz führt. Zwar mangelt es nicht an auf praktischer Erfahrung gegründeten pädagogischen und didaktischen Konzepten, aber es mangelt an wissenschaftlich fundiertem Wissen und damit an Evidenz hinsichtlich solcher domänenspezifischer Konzepte. Dabei liegt es spätestens seit PISA nahe, auch in den ästhetischen Feldern und Fächern gerade diese Perspektive zu focussieren. Hier aber fehlt nach wie vor Grundlagenforschung. Immerhin lässt sich neuerdings eine größere Aufmerksamkeit für diese Fragen finden (z. B. Mollenhauer 1996; Hetland et al. 2007; Pöppel et al. 2008; Liebau et al. 2009; Peez 2009; Kirschenmann und Lutz-Sterzenbach 2011).

Angesichts der insgesamt mageren Forschungslandschaft bietet sich eine Intensivierung der Forschung zum Stand, zu den Praktiken und zu den Effekten der Ästhetischen Bildung an. Aber das ist ein schwieriges Unterfangen; Ästhetische Bildung ist, selbst wenn sie im engeren Sinne ausschließlich als künstlerische oder kunstorientierte Bildung verstanden wird, ein sehr abstraktes Konzept: Man kann nicht „die Künste“ praktizieren, „die Künste“ lernen oder „die Künste“ lehren. Dementsprechend müssen die Fragen spezifischer werden. Besondere Bedeutung kommt dabei der Differenzierung nach Feldern und Qualitäten zu, z. B.: Was weiß man über die besonderen Praktiken und die besonderen Bedürfnisse der verschiedenen Felder der Ästhetischen Bildung – Musik, Tanz, Literatur, die bildenden Künste, Theater, die Medienkünste usw.? Was weiß man über die Lehrsituationen und ihre Rahmungen? Was weiß man über die Praktiken und Interessen der lernenden Schüler? Was weiß man über den Zusammenhang und die Beziehungen zwischen produktiven und rezeptiven Ansätzen in der Ästhetischen Bildung? Was weiß man über die Bedeutung von Qualität in der Ästhetischen Bildung und wie lässt sie sich bestimmen? Was weiß man über die Erträge Ästhetischer Bildung in den verschiedenen Feldern in den verschiedenen Lebensphasen? Was weiß man wirklich über adäquate pädagogische und didaktische Ansätze in den verschiedenen Feldern, den verschiedenen sozio-kulturellen Gruppen, den verschiedenen Geschlechtern, Religionen, ethnischen Gruppen etc.? Was weiß man über die Beziehungen zwischen der Ästhetischen Bildung in den informellen, den formalen und den non-formalen Bildungskontexten?

Diese Liste wäre ohne weiteres verlängerbar. Die Defizite und offenen Fragen im Bereich der Forschung zur Ästhetischen Bildung sind immens. Dass hier ein gewaltiger Forschungsbedarf besteht, ist entsprechend offensichtlich.