1 Einleitung

Es gilt fast schon als unbestritten, dass die Bildungspolitik mittlerweile eine internationale, ja globale Dimension aufweist. Reformen auf nationaler Ebene wie die Einführung von schulischen Leistungsstandards oder die ‚Neue Steuerung‘ des Bildungswesens werden auf Einflüsse zurückgeführt, die Ausdruck einer im Entstehen begriffenen pädagogischen Weltkultur sind (vgl. Adick 2003; Münch 2009). Internationale und transnationale Organisationen wie die Weltbank, die Welthandelsorganisation (WTO) oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gelten als Träger eines Global Educational Reform Movement, das seit den 1990er Jahren zu einer weltweiten Angleichung der Bildungssysteme führt (vgl. Sahlberg 2011). Eine globale Bildungsarchitektur scheint im Aufbau begriffen, „that exerts a heavy, even determining, influence on how education is constructed around the world“ (Jones 2007, S. 325).

Was genau zur globalen pädagogischen Reformbewegung gehört, mag im Einzelnen umstritten sein, jedoch lassen sich nach Sahlberg (2011, S. 125) die folgenden Elemente dazurechnen: „increased competition and choice, standardization of teaching and learning, tightening test-based accountability, and merit-based pay for teachers“. In ihrer Darstellung der Bildungsreform in den USA nennt Ravitch (2010, S. 1) als deren Prinzipien: „testing, accountability, choice, and markets“. Böttcher (2002) spricht von einem „ökonomischen Programm der Bildungsreform“, das auf vier Leitideen beruht: Effektivität, Effizienz, Evidenz und Erfolgsorientierung. Noch knapper bringt Bellmann (2006, S. 487) den globalen Reformansatz auf den Punkt, wenn er von „Output- und Wettbewerbssteuerung“ spricht – Outputsteuerung durch Bildungsstandards und Evaluation, Wettbewerbssteuerung durch Quasi-Märkte, Schulautonomie und freie Schulwahl.

Obwohl das Faktum der zunehmenden Globalisierung der Bildungspolitik kaum bestritten wird, besteht über dessen Einschätzung wenig Konsens. Vonseiten der Erziehungswissenschaft liegen Befunde vor, die einerseits zeigen, dass wir es nicht mit einem neuen Phänomen zu tun haben, insofern bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kontext der Reformpädagogik eine Internationalisierung des pädagogischen Diskurses stattgefunden hat (vgl. Oelkers 2004; Schriewer 2005), und andererseits darauf hinweisen, dass auf der Ebene der nationalen Bildungssysteme Selektions- und Transformationsprozesse ablaufen, die der globalen Reformbewegung eine beschränkte Durchschlagskraft konzedieren (vgl. Davies und Guppy 1997; Schriewer und Martinez 2004; Schriewer 2005; Jones 2007; Maurer 2007). Exogene Einflüsse werden durch endogene Faktoren abgedämpft, modifiziert oder überformt, globale Modelle an lokale Bedingungen angepasst, was auch die unterschiedlichen nationalen Reaktionen auf die Ergebnisse der PISA-Studien zeigen (vgl. Grek 2009; Martens und Niemann 2010, S. 15 ff.). Schriewer (2005, S. 432) spricht von der Brechung internationaler Reformtendenzen an „kontextimmanenten – d. h. kulturell, religiös, politisch oder ideologisch vorgezeichneter – Selektionsschwellen und Interpretationsmustern“.

Solche Selektionsschwellen stellen auch politische Institutionen dar, die bisher allerdings wenig erforscht sind. Nicht, dass es entsprechende Studien nicht gäbe, diese haben in jüngster Zeit sogar deutlich zugenommen (vgl. Martens et al. 2010; Steiner-Khamsi und Waldow 2012), was jedoch weitgehend fehlt, sind Analysen auf der Ebene der politischen Prozesse, die zur Übernahme globaler pädagogischer Reformideen führen. Zwar gibt es zu den externen Einflüssen, die transnationale politische Akteure wie die Weltbank, die WTO oder die OECD auf nationale Bildungssysteme ausüben, inzwischen eine Reihe von Untersuchungen (z. B. Dale 1999; Jakobi 2007; Münch 2009; Bieber 2010a, b), über die interne Verarbeitung dieser Einflüsse ist jedoch wenig bekannt. So befasst sich zum Beispiel Bieber (2010b) mit dem Einfluss der OECD und der Europäischen Union (EU) auf die jüngsten Bildungsreformen in der Schweiz, verbleibt aber auf einer vergleichsweise abstrakten Ebene. Die Prozesse der demokratischen Willensbildung und Entscheidungsfindung bleiben nicht nur unthematisiert, sondern werden durch das Verdikt einer „high number of veto players“ (ebd., S. 113, 123), die das politische System der Schweiz auszeichne und gegenüber Reformen praktisch immun mache, negativ etikettiert. Ebenso verbleibt Dale (1999), der beansprucht, „to open up the black box of mechanisms through which globalization affects national policies“ (ebd., S. 15), auf einer abstrakten gesellschaftlichen und kulturellen Ebene und unterlässt es, Prozesse der politischen Entscheidungsfindung zu thematisieren.Footnote 1

Damit bleibt als wesentliche Frage offen, welche Rolle das politische System eines Landes bzw. dessen politische Akteure bei der Rezeption globaler pädagogischer Reformmodelle spielen. Konkretisiert auf die Situation demokratischer Gesellschaften: Verlieren demokratische Entscheidungsprozesse unter dem Einfluss globaler Reformmodelle an Bedeutung? Oder erweisen sie sich im Gegenteil als Hemmnisse, die deren weltweite Diffusion bremsen?

Ich gehe dieser Problemstellung anhand einer Fallstudie aus der Schweiz nach. Dabei steht das direktdemokratische Instrument der Volksinitiative im Vordergrund. Zur Verortung und Interpretation der Fallstudie skizziere ich vorgängig einen theoretischen Rahmen (2). Kern der Fallstudie bilden mehrere kantonale Volksbegehren zur Einführung der freien Schulwahl, die von einer Gruppierung namens Elternlobby Schweiz lanciert wurden (3). Die Diskussion der Fallstudie zeigt, dass politischen Prozessen bei der Diffusion globaler pädagogischer Reformmodelle vermehrt Beachtung geschenkt werden sollte (4).

2 Verbreitung von Weltmodellen

Für die Analyse der weltweiten Verbreitung pädagogischer Reformmodelle stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung (vgl. Adick 2003, 2004), wobei in der Erziehungswissenschaft das Instrumentarium der Stanford-Schule um John Meyer in jüngster Zeit besondere Aufmerksamkeit erlangt hat (vgl. Adick 2003, 2009; Koch und Schemmann 2009). Boli und Ramirez (1986, S. 66) bringen deren Grundthese wie folgt auf den Punkt: „Education as a social institution is a transnational, or ‚world cultural‘, phenomenon, in precisely the same sense that science, technology, political theory, economic development, and a host of other phenomena are transnational in nature. By this we mean that what education is (its ontology), how it is organized (its structure), and why it is of value (its legitimacy) are features that evolve primarily at the level of world culture and the world economic system, not at the level of individual nation-states or other subunits of the overarching system.“ Die Akteure der weltweiten Angleichung der Bildungssysteme sind gleichwohl die Nationalstaaten, deren Handeln allerdings nicht nach dem Modell der Zweckrationalität gedacht wird, sondern als angeleitet von institutionellen Vorbildern, die sich in der Weltkultur finden. Die Modelle werden übernommen, weil ihnen aufgrund ihrer wissenschaftlichen oder technologischen Artikulation hohe Legitimität zukommt (vgl. Strang und Meyer 1993).

Mit diesem Grundpostulat des soziologischen Neoinstitutionalismus steht die Stanford-Schule im Gegensatz zu funktionalistischen und rationalistischen Sozialtheorien, die Organisationen und Institutionen unter dem Aspekt ihrer Zwecke und ihres Nutzens betrachten. Die weltweite Verbreitung von Bildungsinstitutionen wie der Schule oder einer vorschulischen Institution wie dem Kindergarten verdankt sich nicht funktionalen Erfordernissen, sondern kommt vorwiegend aufgrund von Imitationsprozessen zustande (vgl. Meyer 2005, Kap. 3 und 7). Besonders ausgeprägt hat sich der weltweite strukturelle Isomorphismus in der Nachkriegszeit, wobei die Stanford-Schule davon ausgeht, dass die globale Expansion des Pflichtschulwesens mit der voranschreitenden Bildung von Nationalstaaten einhergeht (vgl. Meyer et al. 1992; Strang und Meyer 1993).

Die Bildung von Nationalstaaten gilt mittlerweile jedoch als weitgehend abgeschlossen. Nicht wenige wähnen uns bereits in einer „postnationalen Konstellation“ (Habermas 1998), sodass das Bemühen, „ein achtbares Mitglied der Weltgesellschaft zu werden“ (Meyer 2005, S. 217), nur mehr bedingt die treibende Kraft für die globale Angleichung der nationalen Bildungssysteme sein kann. Zudem ist zwischen der Verbreitung eines „Weltmodells Schule“ (Adick 2003, S. 179) und der globalen Schulreformbewegung, wie sie erst seit einigen Jahren zu beobachten ist, zu unterscheiden. Letztere lässt sich nicht mit dem Prozess der Staatenbildung erklären, sondern steht vor dem Hintergrund eines bereits konstituierten politischen Weltsystems.

In diesem Weltsystem spielen internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen eine zunehmend wichtigere Rolle (vgl. Boli und Thomas 1997; Münch 2009). Vor allem die OECD gilt mittlerweile als global player in Sachen Bildungspolitik, der aktiv auf die Gestaltung der nationalen Bildungssysteme Einfluss nimmt (vgl. Gruber 2002; Jakobi 2007; Grek 2009; Bieber und Martens 2011). Unterstützt von einer global vernetzten Wissenschaftselite, gelingtes ihr, mit ihren thematischen Berichten und Länderexamen, mit ihrem Indikatorenprogramm (Education at a Glance) und nicht zuletzt mit ihren PISA-Studien einen Erwartungsdruck in Richtung Anpassung der nationalen Bildungssysteme aufzubauen, dem sich die OECD-Mitgliedstaaten nur schwer zu entziehen vermögen. Deren Souveränität bleibt allerdings unangetastet, und dies gilt auch im Falle der politischen Einflussnahme anderer globaler Akteure, weshalb nicht vorweg klar ist, welche Elemente der globalen pädagogischen Reformbewegung im konkreten Fall umgesetzt werden.

Über die Mechanismen dieser Umsetzung ist vonseiten des Neoinstitutionalismus wenig zu erfahren, was mit der Abstraktionshöhe und dem Strukturdeterminismus des neoinstitutionalistischen Erklärungsansatzes zu tun hat (vgl. Hasse und Krücken 2005, S. 71 ff.). Nimmt man die Abstraktionshöhe etwas zurück, wie bei Davies und Guppy (1997), werden Differenzen sichtbar, die durch nationale Traditionen bedingt sind. Die Autoren folgern aus ihrem Vergleich der Bildungsreform in fünf angloamerikanischen Ländern, dass neoinstitutionalistische Analysen „need to be complemented by views that address the complexity of agency in education reform“ (ebd., S. 453). Erst bei Beachtung der Akteurskonstellationen kann auch sichtbar werden, wie mit dem Druck der Globalisierung umgegangen wird und weshalb die Weltmodelle „have so much greater impact in some countries than in others“ (Checkel 1998, S. 332).

Obwohl diese Kritik am Neoinstitutionalismus inzwischen in einer Reihe von Studien ihren Niederschlag gefunden hat (vgl. Anderson-Levitt 2003; Schriewer 2005; Steiner-Khamsi und Waldow 2012), ist über die politischen Mechanismen, die zwischen der internationalen und der nationalen Ebene vermitteln, nach wie vor wenig bekannt. Zu vermuten ist, dass die Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger wesentlich darüber befinden, inwiefern die nationale Bildungspolitik dem Druck der globalen Reformmodelle nachgibt und „inwieweit es Raum für Diversität in je spezifischen nationalen, sozialen, politischen und kulturellen Kontexten gibt“ (van Ackeren und Brauckmann 2010, S. 61). Es erstaunt, dass die Stanford-Schule die Übernahme von globalen Modellen in der Perspektive der Beschaffung von Legitimität für organisationale Entscheidungen sieht, aber nicht in Rechnung stellt, dass politische Legitimität in einer demokratischen Gesellschaft ‚von unten‘ kommen muss. Genau hier wollen wir mit unserer Fallstudie ansetzen und Rezeptionsmechanismen, die sich aus dem System der direkten Demokratie ergeben, fokussieren.

3 Die Volksinitiativen der Elternlobby Schweiz: eine Fallstudie

Die Fallstudie betrifft die Schweiz, ein Land, dessen direktdemokratische Tradition eine starke Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen vorsieht (vgl. Klöti et al. 2006). Die Umgestaltung des nationalen Bildungssystems nach Vorgaben des Global Educational Reform Movement ist ohne Zustimmung der politischen Basis kaum möglich, was erwarten lässt, dass mit einer schlichten Anpassung an ein pädagogisches Weltmodell nicht gerechnet werden kann. Dabei konzentrieren wir uns auf das Initiativrecht, das den Stimmberechtigten ermöglicht, durch das Sammeln von Unterschriften die Regierung – auch gegen deren Willen – zur Aufnahme eines Volksbegehrens zu zwingen. Konkret geht es um verschiedene Initiativen zur freien Schulwahl, die von einer parteipolitisch ungebundenen Gruppierung namens Elternlobby Schweiz zwischen 2006 und 2010 eingereicht wurden.

Die Fallstudie ist wie folgt aufgebaut: Den Anfang macht eine Situierung der Initiativen der Elternlobby Schweiz im Kontext der laufenden Reformen im schweizerischen Bildungssystem (3.1). Danach werden die Elternlobby Schweiz, ihre Initiativen und deren Erfolg bei vier kantonalen Volksabstimmungen dargestellt (3.2). Anschließend werden die Ergebnisse der Fallstudie aus drei Perspektiven – einer formalen (3.3.), einer inhaltlichen (3.4) und einer kontextuellen (3.5) – analysiert.

Methodisch stützt sich die Fallstudie auf offizielle Dokumente von Bund und Kantonen, die Berichterstattung in Printmedien (Tages- und Wochenzeitungen) sowie verschiedene InternetseitenFootnote 2. Berücksichtigt werden sämtliche Artikel, die in zwei überregionalen Zeitungen, nämlich in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und im Tages Anzeiger (TA), zum Thema erschienen sind, die Lokal- und Regionalzeitungen der jeweiligen Kantone, die Abstimmungsbulletins der kantonalen Regierungen und die Stellungnahmen wichtiger politischer Akteure (Parteien, Verbände, Lehrerorganisationen etc.) sowie der Pro- und Contrakomitees. Wo keine Originalquellen verfügbar waren, wurden Informationen nur verwendet, wenn sie von mehreren, unabhängigen Quellen bestätigt wurden.

Das Vorgehen bei der Datenbeschaffung entspricht dem Prozedere des theoretischen Sampling, wie es von der Grounded Theory her bekannt ist (vgl. Kelle und Kluge 2010, S. 47 ff.), wobei die Erhebungseinheiten Aussagen zum Initiativtext der Elternlobby waren. Es wurde jeweils so lange nach Dokumenten gesucht, bis zu einem Thema (z. B. den Pro- oder den Contra-Argumenten) eine theoretische Sättigung erreicht war, wobei die üblichen Strategien der Stichprobenoptimierung zum Einsatz kamen (vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 61 ff.).

3.1 Aktuelle Reformen im schweizerischen Bildungssystem

Wie für andere Länder gilt auch für das bildungspolitische Umfeld der Schweiz, dass sich „die Zahl der kollektiven Akteure vermehrt hat“ (Osterwalder und Weber 2004, S. 25). Und auch für die Schweiz konstatiert die Bildungsforschung „a high degree of adaptation […] to the international models“ (Bieber 2010b, S. 126). Bei dieser Anpassung spielt die Schweizerische Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) eine paradox anmutende Rolle,Footnote 3 denn entstanden ist sie, um die kantonale Hoheit in Bildungsfragen, wie sie für ein föderalistisches Land charakteristisch ist, zu behüten. Doch seit einigen Jahren gebärdet sie sich als Avantgarde einer nationalen Bildungsreform, wobei sie sich stark an Vorgaben der OECD anlehnt (vgl. Herzog 2008; Bieber 2010a, b; Bieber und Martens 2011). Allerdings sind die Beschlüsse der EDK nicht bindend, sondern müssen von den Kantonen ratifiziert werden. Insofern ist die EDK ein schwacher institutioneller Akteur, was sich daran bemessen lässt, dass ihr bislang wichtigstes Reformprojekt „Harmonisierung der obligatorischen Schule“ (HarmoS) lediglich von 15 Kantonen übernommen wird, während sich sieben dagegen ausgesprochen haben und in vier die Entscheidung noch aussteht.

Das Beispiel zeigt, dass der Einfluss globaler Konzepte der Bildungsreform zwar auch in der Schweiz spürbar ist, die politische Institution der direkten Demokratie aber wie ein Rezeptionsfilter wirkt, der die schlichte Übernahme von weltweiten Vorbildern verhindert. Gegenstand unserer Fallstudie ist aber nicht die Reformpolitik der EDK, sondern eine Serie von Volksinitiativen zur Einführung der freien Schulwahl. Auch dabei handelt es sich um ein Element der weltweiten Bildungsreform, denn die Einführung von Marktmechanismen ist Teil der globalen pädagogischen Reformbewegung (vgl. Münch 2009; Sahlberg 2011).

3.2 Die Volksabstimmungen über die freie Schulwahl

Seit 2002 besteht in der Schweiz ein politisch und konfessionell neutraler Verein namens Elternlobby Schweiz, der sich „für Vielfalt und Wahlfreiheit im schweizerischen Bildungswesen ein(setzt)“ (Statuten, Art. 1). Sein hauptsächliches Anliegen ist die Freiheit der Schulwahl. „Alle Eltern sollen diejenige staatliche oder nichtstaatliche Schule wählen können, die ihnen und ihren Kindern am besten entspricht“ (ebd.). Schulen in privater (nicht-öffentlicher) Trägerschaft sind zwar auch in der Schweiz frei wählbar, jedoch müssen die Schulkosten von den Eltern übernommen werden, was die Elternlobby als ungerecht empfindet, denn die Eltern werden dadurch finanziell doppelt belastet. In den Worten ihrer Präsidentin strebt die Elternlobby Schweiz an, „dass jedes Kind unabhängig von den finanziellen Verhältnissen seiner Eltern diejenige staatliche oder nichtstaatliche Schule besuchen kann, die seinen individuellen Begabungen und Entwicklungsbedürfnissen am besten entspricht“ (Amacher 2003). Um das Ziel zu erreichen, bestehen in den Kantonen Sektionen, die über das Instrument der Volksinitiative versuchen, dem Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen.

Ihre erste Initiative reichte die Elternlobby 2006 im Kanton Basel-Landschaft ein. Verlangt wurde eine Änderung der Kantonsverfassung in zwei Punkten, nämlich: „Eltern können zwischen den einzelnen öffentlichen und den nichtstaatlichen Schulen wählen“ (§ 95, Abs. 1bis). Und: „Der Unterricht an nichtstaatlichen Schulen in der Schweiz wird für Kantonseinwohner durch die staatlichen Schulträger entsprechend den Durchschnittskosten der öffentlichen Schulen finanziert, sofern der Zugang ohne ethnische, religiöse und finanzielle Einschränkung gewährleistet ist“ (§ 95, Abs. 2bis).Footnote 4 Regierung und Parlament lehnten die Initiative ab, und auch in der Volksabstimmung vom 30. November 2008 wurde das Anliegen mit 79.2 % Neinstimmen verworfen.

2009 wurde eine Initiative mit nahezu gleichem Wortlaut im Kanton Thurgau eingereicht, fand aber auch hier weder seitens der Regierung noch im Parlament Zustimmung. In der Volksabstimmung vom 7. März 2010 wurde sie mit 83.2 % Neinstimmen abgelehnt. Der negative Ausgang der Abstimmungen in Baselland und Thurgau veranlasste die Elternlobby, ihre bereits angelaufene Unterschriftensammlung im Kanton Basel-Stadt abzubrechen und ihre Strategie „trotz positivem Sammelverlauf neu auszurichten“ (Guldimann et al. 2010). Im gleichen Jahr (2010) wurde im Kanton Solothurn eine Initiative mit erneut weitgehend gleichem Wortlaut eingereicht. Es kam jedoch gar nie zur Volksabstimmung, da das Begehren nach Ablehnung durch Regierung und Parlament vom Initiativkomitee zurückgezogen wurde.

Ende 2009 wurde im Kanton St. Gallen eine Initiative eingereicht, beschränkt allerdings auf die Oberstufe (7. bis 9. Klassen). Danach sollte die Kantonsverfassung das Recht der Eltern gewährleisten, „auf der Oberstufe zwischen den einzelnen öffentlichen Schulen und den Privatschulen zu wählen“ (Art. 3, Abs. abis) sowie „den Anspruch von Schülerinnen und Schülern, die eine private Oberstufenschule besuchen, auf eine öffentliche Finanzierung des Unterrichts entsprechend den Durchschnittskosten der öffentlichen Schulen“ (Art. 3, Abs. ater) zu garantieren, sofern „sie Aufenthalt im Kanton St. Gallen haben, […] die Privatschule staatlich bewilligt und beaufsichtigt ist und […] der Zugang ohne ethnische, religiöse und finanzielle Einschränkung gewährleistet ist“ (ebd.). Auch diese Initiative wurde von Regierung und Parlament abgelehnt, und auch in der Volksabstimmung vom 13. Februar 2011 erlitt sie mit 82.5 % Neinstimmen eine klare Niederlage.

Schließlich wollte man 2009 im Kanton Zürich mit der Sammlung von Unterschriften für eine Initiative starten, die ähnlich wie in den Kantonen Basel-Landschaft und Thurgau formuliert war, brach das Unterfangen aufgrund des Misserfolgs im Kanton Basel-Landschaft aber vorerst ab. 2010 wurde dann eine Initiative lanciert, die sich auf die freie Schulwahl ab der 4. Primarschulklasse beschränkte. Auch diese Initiative wurde von Regierung und Parlament abgelehnt und unterlag in der Volksabstimmung vom 7. Juni 2012 mit 81.8 % Neinstimmen.Footnote 5

Vier Volksabstimmungen mit übereinstimmend negativem Ausgang, eine zurückgezogene Initiative und eine abgebrochene Unterschriftensammlung innerhalb von wenigen Jahren zeigen eine klare Ablehnung des Anliegens der Elternlobby Schweiz. Man könnte meinen, die Freiheit der Schulwahl sei damit politisch erledigt. Nach der Abstimmung im Kanton Thurgau schrieb die Neue Zürcher Zeitung von der „Implosion einer Basisbewegung“ (Gerny 2010, S. 11), die das schweizerische Schulsystem habe umkrempeln wollen. Doch ein zu schnelles Urteil ist fehl am Platz. Zu komplex ist die Materie, als dass sich die freie Schulwahl allein aufgrund der Abstimmungsergebnisse abschreiben ließe. Um zu einem verlässlicheren Urteil zu kommen, wollen wir als Erstes den Initiativtext etwas genauer anschauen, als Zweites nehmen wir die Argumente der Befürworter und Gegner unter die Lupe und als Drittes stellen wir die Abstimmungsergebnisse in den Kontext der Reformpolitik der EDK.

3.3 Probleme des Initiativtextes

Der Ausgang einer Volksabstimmung ist abhängig von der Fragestellung, auf die der Souverän eine Antwort geben muss. Das dürfte auch auf die freie Schulwahl zutreffen. Dafür spricht, dass bei der Baselbieter Abstimmung ein Gegenvorschlag des Parlaments gutgeheißen wurde, der eine Erhöhung der staatlichen Beiträge an Privatschulen forderte. Zudem kommen Diem und Wolter (2011) aufgrund einer hypothetischen Wählerbefragung zum Ergebnis, dass bei Einschränkung der freien Wahl auf öffentliche Schulen mit einer zustimmenden Mehrheit gerechnet werden könnte.Footnote 6

Ob sich ein Umschwenken auf diese Strategie für die Elternlobby Schweiz auszahlen würde, ist jedoch schwer abzuschätzen, denn ein grundsätzliches Problem des Begehrens der Initianten liegt darin, dass es für Privatschulen nur bedingt attraktiv ist. Das zeigt die zögerliche Reaktion des Verbandes Schweizerischer Privatschulen (VSP) auf die Baselbieter Initiative. Nicht nur ließ sie lange auf sich warten, sie fiel auch äußerst zurückhaltend aus. Der VSP unterstütze „politische Bemühungen, dem Recht auf eine ‚echte‘ freie Schulwahl zum Durchbruch zu verhelfen“ (VSP 2008, S. 1). Er halte aber ausdrücklich fest, „dass zahlreiche Privatschulen […] sich daran nicht beteiligen wollen. Sei es, weil sie den vom Staat formulierten Auflagen für eine Teilnahme am Recht zur freien Schulwahl nicht nachkommen wollen bzw. können, oder sei es, weil ihr Bildungsangebot sich im Bildungsrecht der Schweiz nicht abbilden lässt“ (ebd., S. 4). Letzteres nimmt Bezug auf die wachsende Zahl von Internationalen Schulen in der Schweiz, die sich nicht an den (kantonalen) Lehrplänen der Volksschulen und Gymnasien orientieren müssen, sondern internationale Abschlüsse anbieten. Auch im Vorfeld der Zürcher Abstimmung zeigten die Privatschulen aus den gleichen Gründen eine große Zurückhaltung (vgl. Schneebeli 2012, S. 21), womit sich die Frage stellt, wie viele Privatschulen überhaupt bereit wären, an einem Systemwechsel zu partizipieren.

Ein gravierendes Problem stellt schließlich der Initiativtext dar. In der Vorlage der ersten Initiative ist von „öffentlichen“ und „nichtstaatlichen“ Schulen die Rede (vgl. Abschn. 3.2). Es zeigte sich bald, dass die Begriffe nicht auf gleicher Ebene liegen, da den öffentlichen Schulen nicht die „nichtstaatlichen“, sondern die Privatschulen gegenüber stehen. Öffentliche Schulen würde es nach Ansicht der Initianten in Zukunft in zwei Formen geben, nämlich als staatliche und nichtstaatliche bzw. als „Staatsschulen“ und „Vertragsschulen“. Letztere wären staatlich anerkannt und würden dieselben Mittel pro Schüler erhalten wie die Volksschulen.Footnote 7 Ein Sympathisant der Elternlobby meinte in einem Interview: „Wir wollen eine staatlich kontrollierte öffentliche Schule, die vom Staat oder von einer privaten Institution geführt werden kann“ (Leutenegger 2008, S. 13).Footnote 8

Die schwer handhabbare Begrifflichkeit führte allmählich zu einem Terminologiewechsel. Bereits im Text ihrer Thurgauer Initiative verzichtete die Elternlobby auf den Begriff der „nichtstaatlichen“ Schule, womit der Eindruck entstand, es gehe um den Gegensatz von privaten und öffentlichen Schulen. In einer dringlichen Richtigstellung zuhanden der Medien sah sich der Präsident der Elternlobby Basel-Stadt am Tag der Volksabstimmung im Kanton Thurgau daher veranlasst, die Begriffe zu klären (Guldimann 2010), allerdings mit dem unglücklichen Versuch, einen weiteren unklaren Begriff einzuführen, nämlich denjenigen der Freien Schulen. Damit sind Privatschulen gemeint, die vom Staat anerkannt und finanziell entsprechend den staatlichen Schulen unterstützt werden. Diese Terminologie bestimmt seither die Kommunikation der Elternlobby Schweiz.

Als Teil des Initiativtextes wurde der neue Begriff erstmals im Kanton Zürich verwendet. Im Abstimmungskampf wurde nach Staatsschulen (die den Volksschulen gleichgesetzt wurden), Freien Schulen und Privatschulen unterschieden. Während Staatsschulen eine öffentlich-rechtliche und Privatschulen eine privatrechtliche Trägerschaft aufweisen, ist im Falle der Freien Schulen von einer „freien Trägerschaft“ die Rede. Staatliche und Freie Schulen hätten die gleichen Bedingungen und würden die gleichen Aufgaben erfüllen, sich im Angebot aber ergänzen, stellte das Initiativkomitee in einer weiteren Begriffsklärung fest.Footnote 9

Die unklare Begrifflichkeit dürfte am negativen Ausgang der Volksabstimmungen nicht unschuldig sein. Jedoch verweist die schwankende Terminologie auf ein tiefer liegendes Problem, das darin besteht, dass die Dichotomie von Staat und Markt in einer demokratischen Gesellschaft nicht genügt, um die Schule politisch angemessen zu verorten. Vielmehr ist eine dritte Referenz notwendig, nämlich die Öffentlichkeit, die letztlich über Staat und Markt gleichermaßen befindet (vgl. Abschn. 4). Dieses substanzielle Problem nicht erkannt zu haben, ist vermutlich der größere Lapsus der Elternlobby Schweiz als die sprachliche Ungenauigkeit ihrer Initiativtexte.

3.4 Pro und Contra freie Schulwahl

Eine komplexe Materie, die sich sprachlich nicht leicht darstellen lässt, stellt für die politische Auseinandersetzung eine große Herausforderung dar. Da die Bürgerinnen und Bürger bei einer Volksabstimmung aufgefordert sind, zu einer Vorlage zustimmend oder ablehnend Stellung zu nehmen, erzwingt das Verfahren eine kontradiktorische Auseinandersetzung. Mit welchen Argumenten der Abstimmungskampf im Falle der Initiativen zur freien Schulwahl geführt wurde, ist Inhalt der folgenden Darstellung. Eine Interpretation der Argumente findet sich im anschließenden Abschn. 3.5.

3.4.1 Die Argumente der Befürworter

  1. 1.

    Die Individualität der Kinder erfordert ein schulisches Angebot, das auf deren unterschiedliche Begabungen und Bedürfnisse zugeschnitten ist.

    Angesichts des wachsenden Pluralismus in der Gesellschaft kann immer weniger von Standardkindern ausgegangen werden, denen eine Einheitsschule genügen würde. Die Respektierung des Kindeswohls verlangt ein vielfältiges Angebot an schulischen Formen, die eine optimale Passung zwischen Einzelkind und Schule ermöglichen. Dank freier Schulwahl wird sich ein solches Angebot rasch entwickeln.

  2. 2.

    Die Freiheit der Schulwahl erhöht die Gleichheit der Bildungschancen.

    Gegenüber der sozioökonomisch und durch Migration bedingten Ungleichheit der Bildungschancen kann die freie Schulwahl korrigierend wirken, da sie allen Eltern, auch denjenigen, die in armen Verhältnissen leben, ermöglicht, ihr Kind auf eine gute Schule zu schicken. Untermauert wird das Argument mit der faktisch bestehenden Freiheit der Schulwahl für reiche Eltern, die entweder rechtliche Wege finden, um ihr Kind schulisch dort zu platzieren, wo sie es für gut befinden, oder sich die optimale Schule für ihr Kind durch einen Wohnortwechsel sichern können.

  3. 3.

    Die freie Schulwahl schafft Wettbewerb unter den Schulen und befördert dadurch die Qualität im Bildungswesen.

    Gemeint ist ein pädagogischer Wettbewerb um alternative Formen von Erziehung und Unterricht. Schulen, die ihre Klientel wegen ungenügender Qualität verlieren, müssen sich verbessern, andernfalls droht ihnen die Schließung. Unter Einbezug des ersten Arguments führt der Wettbewerb nicht zu einer simplen Abstufung nach besseren und schlechteren Schulen; vielmehr kommt es zu einer Vielfalt an schulischen Angeboten, die alle – wenn auch unterschiedlich – gut sind, da sie verschiedene Segmente der Elternnachfrage abdecken.

  4. 4.

    Die freie Schulwahl stärkt die Erziehungsverantwortung der Eltern und verbessert die Zusammenarbeit zwischen Familie und Schule.

    Indem die Kinder nicht länger nach administrativen Kriterien eingeschult werden, können die Eltern sowohl ihre Erziehungsverantwortung wahrnehmen, als auch ihr „vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll“ (UN-Menschenrechtscharta, Art. 26, Abs. 3), in Anspruch nehmen. Da die Eltern besser wissen als der Staat, was gut für ihre Kinder ist, können Schule und Familie auch wieder etwas näher zusammenrücken.

3.4.2 Die Argumente der Gegner

  1. 1.

    Die freie Schulwahl gefährdet das Kindeswohl.

    Dabei wird Verschiedenes vorgebracht. Im einen Fall heißt es, durch die freie Schulwahl würden die Kinder den Kontakt zu ihren Peers in der Wohnnachbarschaft verlieren. Im anderen Fall wird moniert, die freie Schulwahl gefährde die Gesundheit der Kinder, da sie nicht mehr zu Fuß oder per Fahrrad zur Schule gehen könnten, sondern hin und her chauffiert werden müssten. Die dabei entstehenden Umweltimmissionen würden die Lebensbedingungen der Kinder zusätzlich belasten.

  2. 2.

    Die freie Schulwahl führt zu einem Zweiklassensystem mit nichtstaatlichen Eliteschulen auf der einen und staatlichen Gettoschulen auf der anderen Seite.

    Während die Befürworter das faktische Zweiklassensystem der Schule beklagen, befürchten die Gegner, durch die freie Schulwahl würde eine schulische Apartheid allererst entstehen. Sie bestreiten, dass die Freigabe der Schulwahl zu mehr Bildungsgerechtigkeit führe. Sie vermuten vielmehr, dass die bildungsfernen Schichten durch das System überfordert wären und es nicht zu ihrem Vorteil nutzen könnten. Zudem würde die Volksschule zur Restschule verkommen, an der sich die sozialen Probleme häuften.

  3. 3.

    Die freie Schulwahl führt zur Verteuerung des Bildungssystems.

    Mit Bezug auf den Initiativtext der Elternlobby Schweiz, der den „nichtstaatlichen“ bzw. „freien“ Schulen pro Schüler denselben Betrag zuweisen will, den ein Schüler in einer staatlichen Schule im Durchschnitt kostet, heißt es, eine Pro-Kopf-Pauschale sei fragwürdig. Sinke nämlich die Schülerzahl an den staatlichen Schulen, würden deren Durchschnittskosten pro Schüler steigen, sodass immer höhere Beträge an die nichtstaatliche Konkurrenz abfließen würden – dies unter Umständen ohne Vorteil für die Volksschulen, da ein Rückgang der Schülerzahl nicht linear in Einsparungen umgesetzt werden könnte. Folglich würden die Gesamtkosten des Schulsystems steigen. Weitere Kosten würden dadurch entstehen, dass die Schulen um die Schüler kämpfen und die Eltern bewerben müssten. Des weitern wäre mit Transportkosten zu rechnen, denn ein Teil der Schüler würde bei freier Schulwahl nicht mehr die nächstgelegene Schule besuchen. Solche und weitere Transaktionskosten würden das Schulsystem massiv verteuern.

  4. 4.

    Die freie Schulwahl führt zu einer aufgeblähten Bildungsadministration.

    Auch hier wird Verschiedenes genannt. Oft wird auf die Planungsunsicherheit verwiesen, die mit der freien Schulwahl gegeben wäre. Schulen brauchen Räume und Personal. Räume lassen sich aber kurzfristig nicht ohne Weiteres dazumieten, ebenso wenig wie nicht mehr benötigte Räume leicht abzustoßen sind. Gleiches gilt für Neueinstellungen und Entlassungen von Lehrkräften, die sich nicht auf die Schnelle realisieren lassen. Die räumlich und personell bedingten Zuteilungsprobleme würden einen administrativen Apparat erfordern, um zu verhindern, dass die Platzierung der Kinder nach Willkür erfolgt. Würde die Schulwahl zudem an Auflagen gebunden (wie es der Initiativtext der Elternlobby Schweiz vorsieht), müssten diese kontrolliert werden. Die Konsequenz wäre nicht nur ein massiver Ausbau der schulischen Bürokratie, sondern nochmals eine Verteuerung der öffentlichen Schule.

3.5 Kontextualisierung der Argumente

Die referierten Pro- und Contra-ArgumenteFootnote 10 zeigen eine deutliche Zuspitzung auf konträre Standpunkte. Das ist einerseits der Logik eines auf Entscheidung ausgerichteten deliberativen Prozesses zu verdanken, der kaum anders als kontradiktorisch geführt werden kann, ist aber andererseits auch Ausdruck einer weiteren substanziellen Problematik der freien Schulwahl, denn die Argumente für und gegen die freie Schulwahl scheinen sich nicht einzeln, sondern nur in gegenseitiger Abwägung beurteilen zu lassen (vgl. Levin 2002, S. 165 ff.). Wie sehr uns das eine oder andere Argument auch zu überzeugen vermag, für sich allein ist es zu schwach, um eine Entscheidung herbeizuführen. Deshalb muss es relativiert werden, zum Beispiel im Falle einer Zustimmung durch die Bedingung gleicher Lehrpläne oder die Forderung, dass die Eltern kein zusätzliches Schulgeld zu entrichten haben.

Dem Zwang zur Abwägung der Argumente liegt jedoch eine tiefer liegende Spannung zugrunde, die sich darin bemerkbar macht, dass die beiden Seiten oft aneinander vorbeireden. So meinen sie nicht dasselbe, wenn sie von Gleichheit der Bildungschancen sprechen. Bei den Befürwortern stehen die individuellen Ansprüche der Kinder im Vordergrund. „Nicht ‚jedem das Gleiche‘, sondern ‚jedem das Seine‘ lautet das Motto eines gerechten Bildungswesens“, schreibt ein Mitglied der Elternlobby Schweiz (Ogg 2008, S. 20). Das Argument wird vom Kinderarzt und Buchautor Remo Largo geteilt, der die Initiativen zur freien Schulwahl aktiv unterstützt. Nach Largo (2004, S. 27) ist das erzieherische Optimum erst dann erreicht, wenn die Betreuungsperson „auf das Kind als einmaliges Wesen eingehen kann“.

Wenn die Gegner von Gleichheit der Bildungschancen sprechen, geht es ihnen zwar auch um das Kind, aber dieses soll nicht an seinen Bedürfnissen gemessen werden, sondern unter schulischen Bedingungen aufwachsen, die für alle gleich sind. Gleichheit der Bildungschancen ergibt sich aus gleichen Strukturen und Angeboten, nicht aus der Fokussierung des Einzelnen in seiner Singularität. Folglich verweisen die Gegner auf das HarmoS-Projekt der EDK, das genau darauf ausgerichtet sei: auf die Standardisierung der schulischen Strukturen (vgl. Abschn. 3.1). Tatsächlich unterscheiden sich die Initiativen der Elternlobby Schweiz und das Reformprojekt der EDK in einem wesentlichen Punkt: Wo die eine Seite Vielfalt und Divergenz fordert, da will die andere Einheit und Harmonie. Während die Elternlobby auf mehr Freiheit setzt, um die Schule zu verbessern, will die EDK mehr Gleichheit, um dasselbe Ziel zu erreichen.

Doch gleiche Bedingungen erzeugen noch keine gleichen Chancen. Ein adäquates Verständnis von Bildungsgerechtigkeit beinhaltet nicht nur, dass das Angebot für alle gleich ist, sondern auch, dass es alle gleich gut nutzen können (vgl. Coleman 1968). Da die Chancen, das schulische Angebot gut zu nutzen, aber nicht nur von innerschulischen, sondern auch von außerschulischen Bedingungen abhängen, verlangt die Gleichheit der Bildungschancen, dass über die gleichen internen Bedingungen hinaus die ungleichen externen Bedingungen ausgeglichen werden. Reduziert werden kann die externe Ungleichheit aber nicht durch noch mehr Gleichheit, sondern nur durch eine gezielte Ungleichbehandlung (vgl. Heckhausen 1981; Hopf 2000). Nicht Justitia mit den verbundenen Augen garantiert Bildungsgerechtigkeit, sondern eine sehende Justitia, die Differenzen erkennt, um sie durch gezielte Förderung auszugleichen. Es könnte daher gut sein, dass der forcierte Egalitarismus der Reformpolitik der EDK der Elternlobby Schweiz gleichsam selbst verschuldet, wenn auch ungewollt, in die Hände spielt.

Dem steht entgegen, dass das Argument der Gleichheit, wie es die Gegner der freien Schulwahl vorbringen, wesentlich vom Gedanken der sozialen Integration geprägt ist. Das vielleicht stärkste Argument der Gegner ist die befürchtete soziale Entmischung der Gesellschaft. Auch hier zeigt sich bereits in der Sprache eine deutliche Differenz, insofern die Elternlobby unbeirrt von der Staatsschule spricht, während aufseiten der Gegner von der öffentlichen Schule die Rede ist. Die Volksschule wird als Institution mit großer Integrationskraft dargestellt, gerade auch in Bezug auf die wachsende kulturelle Vielfalt des Immigrationslandes Schweiz. Sie sei gar die letzte Klammer in einer zum Auseinanderdriften neigenden Gesellschaft – eine Ansicht, die quer durch fast alle politischen Parteien geht (vgl. Bernet 2012, S. 15). „Fällt unsere Volksschule auseinander, fällt auch unsere Gesellschaft auseinander“, meinte eine Gegnerin der Initiative im Vorfeld der Zürcher Abstimmung (Gerber Rüegg 2012, S. 20).

Während die Befürworter der freien Schulwahl das Kind und seine individuellen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen, sehen die Gegner die Volksschule unter dem Aspekt des Zusammenhalts der Gesellschaft. Die Schule hat den Auftrag, die nachwachsenden Generationen zur kollektiven Selbstgestaltung der gemeinsamen Angelegenheiten im diskursiven Medium der Öffentlichkeit zu befähigen. Insofern setzen die Gegner auf die Trichotomie von Staat, Markt und Öffentlichkeit, während die Befürworter mit ihrer Parteinahme für das Individuum nicht nur die begriffliche Problematik, sondern auch die politische Dimension ihrer Initiative unterschätzen. Solange sich daran nichts ändert, wird die freie Schulwahl in der Schweiz wohl weiterhin geringe Aussichten haben.

4 Diskussion

Wir stehen vor einem weltweiten Trend „weg von lokalen Traditionen und hin zu globalen Formaten“ (Münch 2009, S. 199), der nicht nur die Bildung, sondern auch weitere Bereiche unserer Gesellschaft erfasst hat. Angesichts der forcierten Reformen im Bildungswesen vieler Länder ist aber insbesondere die Bildung in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. Die Rede von einem Global Educational Reform Movement (vgl. Sahlberg 2011) macht deutlich, dass die Nationalstaaten ihre Bildungssysteme nach einheitlichen Modellen reorganisieren.Footnote 11 Ohne das böse Wort von der „McDonaldisierung der Bildung“ (Münch 2009, S. 88) zu verwenden, sehen wir uns einer Angleichung der Bildungssysteme gegenüber, die über die bisher bekannte weltweite Verbreitung des ‚Standardmodells Schule‘ hinausgeht.

Zur Erklärung dieses Prozesses bietet sich der soziologische Neoinstitutionalismus an, der die Übernahme von Weltmodellen als Vorgang deutet, durch den die Nationalstaaten ihrem reformerischen Handeln Legitimität zuführen. Steht eine Regierung unter dem Druck, für ein gesellschaftliches Problem, wie dem tatsächlichen oder scheinbaren Ungenügen ihres Bildungssystems, eine Lösung zu finden, ist sie zusätzlich motiviert, Modelle zu übernehmen, die sich anderswo – wiederum tatsächlich oder scheinbar – als erfolgreich erwiesen haben. In theoretischer Hinsicht entsteht dadurch der Eindruck, als wäre die Anpassung nationaler Institutionen an globale Vorbilder ein Vorgang, der sich auf der gesellschaftlichen Makroebene abspielt und dort auch eine zufriedenstellende Erklärung findet. Die weltweite Angleichung der Bildungssysteme scheint Teil eines Globalisierungsprozesses zu sein, dem die Nationalstaaten quasi naturgesetzlich ausgeliefert sind.

Wie unsere Fallstudie zeigt, trifft dies aber nicht zu, jedenfalls nicht in der Simplizität des skizzierten Automatismus. Die Elemente der globalen pädagogischen Reformbewegung werden national gefiltert und den historisch gewachsenen Gegebenheiten vor Ort angepasst. Sie werden so weit umgesetzt, wie eine Umsetzung aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Strukturen möglich ist, wobei wir den Mechanismen der direkten Demokratie besondere Beachtung geschenkt haben. Die Angleichung nationaler Institutionen an globale Vorlagen mag zwar durch internationale und transnationale Organisationen wie die WTO oder die OECD katalysiert werden, das politische System der direkten Demokratie erweist sich aber als eine Art Nadelöhr, durch das nicht jedes Element des Global Educational Reform Movement Durchlass findet. Wenn im Neoinstitutionalismus drei Mechanismen der Diffusion von Weltmodellen unterschieden werden, nämlich Zwang, normativer Druck und Imitation (vgl. Hasse und Krücken 2005, S. 25 ff.), dann steht ihnen in demokratischen Gesellschaften ein gewichtiges Hindernis im Weg: die deliberative Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger.

In theoretischer Hinsicht wird damit dem Akteur, der in der Stanford-Schule lediglich kognitiv – als institutioneller Mythos (vgl. Meyer 2005, S. 35) – in Erscheinung tritt, reale Bedeutung zugewiesen. Die Makroperspektive, die den Neoinstitutionalismus nicht nur theoretisch, sondern auch methodisch prägt (vgl. Hasse und Krücken 2005, S. 48 f.), bringt es mit sich, dass der Methode, die mit aggregierten Daten arbeitet, die Tiefenschärfe fehlt, um die interaktionalen Prozesse aufzudecken, die bei der Rezeption von Weltmodellen eine Rolle spielen. Daraus ergibt sich keine Widerlegung des Ansatzes, sondern eine Ergänzung, wie sie unter anderen auch Schriewer (2005, S. 432 f.) fordert. Erst die Fokussierung des lokalen politischen Kontextes kann verdeutlichen, dass das Instrumentarium des Neoinstitutionalismus zu grob ist, um den heterogenen Kräften, die bei der Umsetzung von Bildungsreformen zusammenspielen, gerecht zu werden.

Um Aussicht auf Umsetzung zu haben, muss ein globales Reformmodell mit den politischen Werten einer Gesellschaft konform sein. Im Falle der Schweiz liegen diese Werte in einem liberalen und föderalistischen Staatsverständnis, das wesentlich geprägt wird von der Institution der direkten Demokratie und einer Tradition der Konkordanz. Gleichsam umklammert werden diese Werte von der normativen Idee der Öffentlichkeit. Deshalb gilt auch die Schule als öffentliche Angelegenheit, die in der dichotomen Struktur von Staat und Markt politisch unzulänglich begriffen wird. Das erklärt, weshalb die freie Schulwahl – zumindest ihre radikale, marktförmige Variante – in der erweiterten Perspektive von Staat, Markt und Öffentlichkeit politisch an Bedeutung verliert. Die im klassischen Liberalismus, aber nicht im Neoliberalismus, verankerte Auffassung, wonach sich sowohl der Staat wie der Markt öffentlich zu legitimieren haben (vgl. Osterwalder 1993, 2011), rückt die Demokratie in eine Position der Kritik gegenüber einem rein ökonomischen Verständnis von Bildung.

Abschließend ist auf ein Moment unserer Fallstudie hinzuweisen, das methodische Implikationen hat. Wie bereits angedeutet, existiert zur freien Schulwahl auch ein wissenschaftlicher Diskurs, der bei den Abstimmungen über die Initiativen der Elternlobby Schweiz jedoch keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Das dürfte an der begrenzten Aussagekraft der empirischen Studien zur freien Schulwahl liegen (vgl. Feinberg und Lubienski 2008; Ravitch 2010, S. 128 ff., 138 ff.), die sich kaum eignen, um die eine oder andere Seite der Kontroverse im Sinne evidenzbasierter Politik argumentativ zu stützen. Insofern fehlt der freien Schulwahl ein Moment, das im Neoinstitutionalismus als wesentlich für die Akzeptanz eines Weltmodells erachtet wird, nämlich der Mythos der Rationalität (vgl. Meyer und Rowan 1977; Strang und Meyer 1993). Das heißt nicht, dass die Auseinandersetzungen um die Initiativen der Elternlobby Schweiz einen irrationalen Charakter gehabt hätten, denn die Argumente, die von den Befürwortern und Gegnern vorgebracht wurden, stimmen erstaunlich gut mit dem wissenschaftlichen Diskurs zur freien Schulwahl überein.

Trotzdem muss dem Einfluss von Wissenschaft und Forschung auf bildungspolitische Entscheidungen vermehrt Beachtung geschenkt werden. Der wachsende Bedarf an Legitimation für demokratisch oft wenig gesicherte Reformprojekte veranlasst die Bildungspolitik, die Bildungsforschung vermehrt auf ihre Seite zu ziehen (vgl. Herzog 2008, 2011). Die Modelle, an denen sich die Politik orientiert, sollen – ganz im Sinne des Neoinstitutionalismus – wissenschaftliche Rationalität ausstrahlen. In einer demokratischen Gesellschaft ergibt sich damit ein Konflikt zweier Legitimationsformen: Legitimation durch wissenschaftliche Evidenz und Legitimation durch demokratische Entscheidung. Je mehr bei der Reform eines Bildungssystems auf wissenschaftliche Evidenz gesetzt wird, desto mehr werden Bildung und Schule dem Diskurs der Öffentlichkeit entzogen. Wie auch immer die Erziehungswissenschaft dazu stehen mag, in methodischer Hinsicht folgt, dass bei der Analyse der Verbreitung von pädagogischen Weltmodellen das Verhältnis von Staat und Markt nicht nur um den Pol der Öffentlichkeit zu erweitern ist, sondern darüber hinaus eine vierte Referenz einzubeziehen ist: die Wissenschaft. Dass diese bei der Analyse unseres Fallbeispiels eine geringe Rolle gespielt hat, verdankt sich den Besonderheiten der freien Schulwahl, für die bisher keine eindeutigen Evidenzen vorliegen, woraus sich aber nicht schließen lässt, dass dem in anderen Fällen auch so ist.