1 I.

Das Hören von Musik bereitet vielen Menschen Vergnügen. Klänge und Töne bewegen die Hörer körperlich, sie verursachen intensive Gespräche und auffällige Verhaltensweisen. Das ist an vielerlei Orten zu beobachten: in Kirchen und vor dem Radio, in Opernhäusern des 19. Jahrhunderts und in Popkonzerten des 20. Jahrhunderts. Die Bewertungen und Bewegungen des Publikums in einer Aufführung sind keine oberflächliche Verschleierung gesellschaftlicher Tatsachen. Die Zeitgenossen verschaffen durch Darstellung und Kommunikation Gemeinschaftsentwürfen Geltung. Eine Aufführung entsteht durch ein Zusammenspiel, aus den musikalischen Reizen und aus den Bewertungen der Hörer.

Das Verhalten des Publikums zu untersuchen, ermöglicht es, den Umgang der Menschen mit ihren Emotionen im Musikleben zu erfassen. Musik verfügt über einen hohen emotionalen Wiedererkennungswert. Musikalische Aufführungen erlauben die Entschlüsselung der durch die gesprochene Sprache schwerer zu leistenden Mitteilungen emotionaler Zustände. Das Wissen über Stile, Sänger und Musikgruppen ist Herrschaftswissen, an welchem Gebildete entscheiden, wer zu ihnen gehört – und wer nicht. Emotionen verstärken gleichzeitig gegenseitiges Lernen und gegenseitige Entfremdung. Oft hassten die Musikliebhaber verschiedener Geschmackskulturen oder verschiedener Sänger einander, nicht obwohl, sondern weil sie mit den Werken anderer in Kontakt kamen (vgl. Bennett 1990; Small 1998; Dollase 2006; Sterne 2003, S. 1–29; Motte-Haber 2007, S. 19–32; Müller 2010, 2007).

Weil Emotionen Beziehungen zwischen Gruppen ermöglichen, ist ihre kommunikative Funktion interessant. Musikalisch motivierte Emotionen intensivieren die Kommunikation, wodurch sie der Musik in der Perspektive des Publikums Bedeutung verleihen. Sie strukturieren soziale Praktiken, beeinflussen die Wahrnehmung und das Verhalten der Hörer. Aus Zuhörern werden durch die Projektion von Emotionen Akteure. Sie werden durch die gespielte Musik nicht einfach „bewegt“, sondern nutzen diese, um kulturelle Identitäten zu schaffen oder gesellschaftliche Positionen zu besetzen. Namentlich das Bürgertum nutzte im Musikleben des 19. Jahrhunderts Emotionen zur Bildung und Disziplinierung seines Verhaltens (vgl. Frevert 2009; Ciompi 1997; Gerhards 1998; Vester 1991; Döring 2009; Frevert et al. 2011; Ciompi und Endert 2011).

Sicher scheint, dass viele Hörer sich durch musikalische Aufführungen zu einer emotionalen Gemeinschaft verbinden. Es kommt darauf an zu fragen, inwieweit öffentlich gespielte Musik soziale Verhaltensweisen prägte und die Herausbildung von Gruppen erleichterte. Bislang ist diese Wechselwirkung nicht hinreichend geklärt worden. Nach dem heutigen Kenntnisstand der Forschung ist es noch unklar, ob durch die Emotionen in musikalischen Aufführungen neue soziale Verbände entstanden – oder ob umgekehrt bereits bestehende Gemeinschaften so auch auf musikalischer Ebene interagierten (vgl. Juslin und Sloboda 2001; Cook und Dibben 2001, S. 37 f.; DeNora 2001, S. 164–169; Sloboda und O’Neill 2001; Bradley 2009; Budd 1992; Finnegan 2003).Footnote 1

Emotionen wirken als kulturelle Zuschreibungen, die durch Lernprozesse erworben werden. Die Präsenz musikalischer Emotionen ermöglicht das Erlernen sozialer und kultureller Verhaltensmuster. Doch keine gesellschaftlichen Verbände und auch keine Gemeinschaften von Musikfreunden bestehen auf Dauer. Emotionen existieren im Musikleben erst durch regelmäßigen Zugriff und langfristiges Lernen. Sie ereignen sich nicht nur durch spontane Eingebungen, nicht durch eine einzige Vorstellung, durch ein einzelnes Lied auf einem Fest. Die Gestaltung der Emotionen im Musikleben ist ein Verhandlungsprozess, der Interessen und Wünsche sichtbar macht. Die Erfüllung oder die Übertretung körperlicher und moralischer Regeln waren oft erlernte Emotionen eines Lebensstils.

Die Praktiken und die Regeln des Musikkonsums der bürgerlichen und adeligen Elite in den Opernhäusern der europäischen Metropolen im 19. Jahrhundert veranschaulichen die erotischen Phantasien um Gesangsstars beiderlei Geschlechts, die durch das Publikum zu Künstlern und Künstlerinnen der Gesellschaft aufstiegen. Der Glanz der Virtuosen evozierte eine Vielzahl an Visionen des Publikums. Besonders ein Reiz ist zu beobachten, der über die musikalischen Qualitäten der Musiker oft hinausging: das Erleben des anderen Geschlechts. Geschlechterbeziehungen entstanden durch musikalische Aufführungen. Geschlechtsspezifische Interpretationen von Auftritten verweisen auf Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, auf die Abgrenzungen beider Geschlechter voneinander und auf die Konstruktionen kultureller Visionen (vgl. Scott 1999, S. 28–50; Butler 1990; Kessel 2005; Kühne 1996, S. 22–24; Frevert 1995).

Um das zu verdeutlichen, werden hier emotional motivierte Geschlechterverhältnisse innerhalb des Publikums in den Opernhäusern in Berlin, in Wien und in London im 19. Jahrhundert untersucht. Es geht um Geschlechterbeziehungen zwischen Publikum und Primadonnen und zwischen Publikum und Prostituierten. Kontrollverluste im Musikleben waren oft emotionale Strategien, Versuche öffentlicher Freiheit. Musik hatte nicht nur eine disziplinierende, sondern auch eine entgrenzende Wirkung. Gewollte Kontrollversuche veränderten musikalische Aufführungen. Es geht um das Verhalten des Publikums, das versuchte, seine Bewegungen und Äußerungen zu disziplinieren. Die Frage ist, ob Gefühlsprämissen das einengten, was überhaupt gefühlt werden konnte und durfte. Warum und inwieweit wurden verehrte Künstler als Abbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit rezipiert? Erklärungsbedürftig ist, dass musikalische Aufführungen nicht nur die verschiedensten Sinne, sondern auch emotionale Verhaltensmuster des Publikums stimulierten. Was galt als akzeptierter sinnlicher Reiz, was als potentielle Bedrohung? Waren die Diskurse über die Geschlechter, das Verhalten der Männer gegenüber den Frauen integrative Elemente der Harmonie im Musikleben oder konfliktbelastete Streitobjekte? Welche Benimmregeln und Gewohnheiten im Spielbetrieb wurden vom Publikum erlernt, welche vermieden?

Die Entschlüsselung der akzeptierten und verworfenen Männer- und Frauenideale auf den Bühnen ermöglicht Einblicke in die kulturelle Repräsentation im 19. Jahrhundert Dazu ist eine nicht nur additive Interdisziplinarität notwendig, selbst wenn die Beschäftigung mit übergreifenden Themen und Fragen die Gefahr einer unzulänglich differenzierenden Argumentation birgt. Zu zeigen ist, wie die Aufführung von Musik, wie Sinnlichkeit und Sitte ineinanderwirkten.

Vollkommene und als unvollkommen bewertete Geschlechterbilder interessierten die Musikliebhaber. Zunächst geht es um die emotional motivierte Bewertung und Verehrung namhafter Künstler, dann um den unsicheren Umgang des Publikums mit der Prostitution in den Berliner, Wiener und Londoner Opernhäusern in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Blick reicht hier von der öffentlichen Wahrnehmung begehrter Virtuosen und Virtuosinnen (Teil II: Franz Liszt, Jenny Lind und Enrico Caruso) bis hin zur verbreiteten Prostitution in Opernhäusern (Teil III). Die Auftritte dieser Virtuosen in den größten Metropolen Europas bieten den zusätzlichen Vorzug einer vergleichenden Perspektive, einer Untersuchung kultureller Angleichung oder Abgrenzung in Europa.

Eine Einschränkung vorweg: Die Geschlechtergeschichte der Kunstmusik verheißt einen eher geringen Mehrwert. Denn es überrascht kaum, dass auch musikalische Aufführungen durch den Blick des Publikums auf Männer-, Frauen- und Körperbilder gelangen. Die Geschlechterperspektive auf den Spielbetrieb verdient dennoch eine besondere Beachtung, weil sie erwartete und überraschende Beziehungen zwischen Künstlern, Publikum und Presse erkennen lässt. Denn die Wahrnehmung öffentlich auftretender Frauen und Männer im Musikleben reflektierte nicht nur die Differenz, sondern auch die Verbundenheit der Besucher einer Aufführung. Regelmäßig wiederholte Genderbilder im Opern- und Konzerthaus konnten Gruppen erschaffen, weil die Entdeckung zumal des weiblichen Körpers eine Analogie zwischen Individuum und Gemeinschaft setzte (vgl. Wagner 2004; Biddle 2003).

2 II.

Die endlosen enthusiastischen Berichte über Instrumentalisten und Primadonnen in der Presse des 19. Jahrhunderts veranschaulichten, wie musikalische Aufführungen Männer- und Frauenbilder durchsetzten. Künstlerinnen auf der Bühne waren nicht nur gut, sondern auch schön. Von den Zeitgenossen wurde Jenny Lind als „schwedische Nachtigall“ geliebt. Diese Primadonna Assoluta wurde durch ihre allabendliche Erscheinung und durch die tägliche Berichterstattung zu einem Frauenideal der Männer. Die Männerfantasie des Berliner Kritikers Ludwig Rellstab stilisierte auf diese Weise die Starsopranistin: „Am Sonntag Norma, Jenny Lind. […] Sie ist kein Nachbild irgend einer anderen Künstlerin, sie ist eine völlig selbstständige Erscheinung, die wir […] die vollendete Weiblichkeit des Gesanges nennen würden. […] Eine edle Anmuth bezeichnet jede ihrer Bewegungen, die eben so weiblich sind, wie der liebliche Ausdruck des Gesanges“ (Vossische Zeitung, 17.12.1844). In ähnlicher Wertung, noch dazu mit einem makellosen Blick auf ihre Schönheit nebst wohlgeformter Figur, hieß es in der Londoner Presse: „[A] humane voice divine. […] Nobody left the theatre that night without feeling that she was ‚beautiful!‘ […] She is of good height, and well formed; her features are sweetness; her movement is full of grace“ (The Spectator, 08.05.1847, S. 443).

Musikalische, sprachliche, bildliche und v. a. soziale Interpretationen machten aus den Bühnenstars Männer und Frauen. Die Wiederholungen der Aufführungen bestimmten dabei die Regel. Aufgrund der durch die Zuschauer, Journalisten und Grafiker ermöglichten Wiedererkennbarkeit entstand die musikalische Geschlechterordnung (vgl. Oster et al. 2008, S. 10–17). Für Jenny Lind hieß das zusätzlich: Eine Primadonna Assoluta wurde durch ihre allabendliche Erscheinung und durch die tägliche Berichterstattung zu einem Frauenideal ihrer Zeit, zum „Adel echter Weiblichkeit“ mit einem „Anflug einer geistigen Jungfräulichkeit“ (Allgemeine Wiener Theaterzeitung, 24.4.1846, S. 391). Diese ideale Frau hatte nach Meinung der schreibenden Zeitgenossen nicht nur vollkommen und übermenschlich zu erscheinen, sondern als Frau und Freundin, als Mensch und Mutter durch die Darbietung ihrer Kunst mitten im Leben zu stehen. Kurzum: Aufführungen setzten Normen. Lind gebe ihren Betrachtern eine „verwirklichte Erscheinung der Reinheit, der Unschuld. […] Eine geniale Künstlerin […] muss alle Situationen gelebt haben, wenigstens sie immer leben können, sie muss Weib, Geliebte, Mutter und – Künstlerin in sich aufgehen lassen, als Wunderblüthe in entsprechender Wahrheit“ (Neue Berliner Musikzeitung, 1/1847, S. 119; vgl. Brandt 2010).

Von entscheidender Bedeutung für den Ruhm und die Karriere der bekannten Musiker war neben der körperlichen Schönheit ihr jugendliches und attraktives Aussehen. Physische Attraktivität war bei manchen Männern gewünscht, bei Frauen unerlässlich. George Bernhard Shaw urteilte einsichtig und ironisch über diese musikalischen Männerfantasien: „A concerto must have a hero or a heroine; and every plucky and passable pretty feminine violinist under thirty is a heroine in the imagination of the male audience“ (Shaw 1932, S. 92). Anblick und Auftreten sollten das männliche Publikum nicht nur erwärmen, sondern den geltenden Erwartungen entsprechend auch körperlich reizen.

Maria Malibran brachte als Leonore in Beethovens Fidelio das Publikum zum Weinen – auch das weibliche: „When the heroine, after the exertion of courage and energy, which have saved her husband’s life, sinks to the ground exhausted and fainting, the whole of the female part of the audience, and many, too, of the sterner sex, were dissolved in tears“ (The Morning Chronicle, 10.05.1836). Tränen waren aber bei Männern und Frauen in allen hier untersuchten Städten gleichermaßen zu beobachten. Lind rührte die Wiener Zuschauer genau wie die Londoner, denn sie löste unter ihren Anhängern durch ihr Auftreten eine kaum kontrollierbare Bandbreite von Emotionen aus: Leidenschaft und Leiden, Freude und Herzklopfen: „So gerade, nur so, nehmen wir im Anhören der Lind, muß ein menschliches Herz in Freud und Leid der Liebe jubeln, und weinen – in Tönen. […] Wenn sie jene Leidenschaft Kund gibt, die mit ‚Eifer sucht, was Leiden schafft‘, geschieht es mit demjenigen seelenhaften Zauber, der ein abgewendetes Männerherz an eine verlassene Weiberbrust zurückzuführen pflegt“ (Allgemeine Wiener Theaterzeitung, 01.05.1846, S. 414, 25.04.1846, S. 933).

Im Spiel von Sinnen und Sitten kam den Bildern über diese Virtuosen eine besondere Funktion zu. Bühnenauftritte großer Künstler waren Gesamtkunstwerke, die dem Zuschauer zu den gesellschaftlichen und akustischen eben auch optische Reize boten. Eines der berühmtesten Beispiele der männlichen Gier nach den weiblichen Reizen der Jenny Lind stellt eine Hamburger Karikatur aus dem Jahre 1845 dar (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Jenny Lind in Hamburg. Lithographie 1845, ungenannter Karikaturist. Hamburg, Museum für Hamburgische Geschichte, Kupferstichkabinett

In einer Opernszene steht die sich verneigende Sängerin vor einem nicht musizierenden Orchester, das offenbar aufgrund des Publikumslärms zu spielen nicht mehr in der Lage ist. Hunderte Männer drängen von ihren Plätzen, die Hände flehentlich in Richtung der Lind streckend, viele Herren rangeln und raufen miteinander, um wenigstens einen Sichtplatz zur Erfüllung ihrer Sinne zu bekommen. Die wenigen Damen dagegen verharren – wenig überraschend – in frostiger Distanz. „Wir sind beglückt! Wir sind entzückt! Die Lind hat uns den Kopf verrückt!“ heißt es in der Unterschrift (vgl. Hutcheon 2000, S. 28 f., 153–165). Diese Karikatur war weniger eine Darstellung der keineswegs effektsüchtigen Jenny Lind als vielmehr ein Dokument eines erotischen männlichen Enthusiasmus. Das Publikum erlernte auch durch das musikalische Erlebnis seine Emotionen.

Akte der körperlichen Sinne und des Sehens waren Handlungen und produzierten die Ungleichheiten zwischen Künstler und Betrachter. Franz Liszt war der König aller Virtuosen, den seine Fans wie keinen zweiten körperlich zu erreichen und sinnlich zu berühren suchten. Seine zahllosen Abbildungen zeigen nicht nur die bekannte soziale Beachtung in Zeitschriften und Karikaturen, sondern letztlich eine erotische Suche des Publikums nach seiner Nähe. Er vermochte durch seine Präsenz, seinen Charme und durch sein Aussehen gerade weibliche Zuhörer zu bewegen, denn sein künstlerischer Ruhm speiste sich auch aus seinem Nimbus als sinnlicher Verführer adeliger Damen. Jeder Mann und jede Frau wusste, dass Liszt die drei Gräfinnen Adèle Laprunarède, Pauline Plater und Marie d’Agoult – die Mutter seiner Tochter Cosima – erobert hatte.

Betrat Liszt die Konzerthalle, stimulierte das nicht nur männliche Hochrufe, sondern auch weibliche Aufschreie. Nicht nur nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts erfüllte er Schönheitsideale und achtete penibel auf modische Kleidung und seine Haartracht. Bereits der optische Unterschied zu Niccolò Paganini war gewaltig. Die persönliche Verehrung Liszts durch die ihn begehrenden Frauen stellte nur eine Verstärkung der öffentlich bereits fixierten Beobachtungen dar. Liszts erotische Ausstrahlung im Konzert begründete erneut seine öffentliche Macht – hierin über seine weiblichen Fans. Ungarische Zeichnungen rücken diesen Virtuosen als heilbringenden Erlöser in die Mitte einer Gruppe von Frauen, welche ihn, seine Hände küssend, kniend um Berührung und Zuneigung bitten (vgl. Worbs 1982, S. 186 f.). In der vielleicht berühmtesten Karikatur fängt Theodor Hosemann Liszt Anfang 1842 in einem Konzert ein (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Theodor Hosemann, Franz Liszt bei einem Konzert in Berlin 1841/1842 (Titelkupfer Adolf Brennglas), in: Berlin wie es ist und – trinkt, Leipzig 1842, Heft 14. Berlin, Märkisches Museum, 4239/14659

Mit der Unterschrift „Berlin, wie es ist – und trinkt“ stellt der Graphiker zur Schau, wie Frauen in ergebene Rage versetzt werden – und das weniger durch die Musik, sondern in erster Linie durch sein Spiel und seine Erscheinung. Die Frauen trinken, gieren, starren, werfen Kusshändchen und Blumen oder verlieren die Besinnung (vgl. Worbs 1982, S. 34; Gooley 2004, S. 210–215).

Gerne ließ Franz Liszt seine Seidenhandschuhe, die er auf dem Podium vor dem Konzert abzustreifen pflegte, wie beiläufig ins Parkett fallen, wo sich dann die Damenwelt um dieselben raufte. Friedrich Engels beobachte diese Szene mit eigenen Augen und schrieb spottend über diesen öffentlichen Exzess an Karl Marx: „Die Berliner Damen sind aber so vernarrt gewesen, daß sie sich im Konzert um einen Handschuh von Liszt, den er hat fallen lassen, komplet geprügelt haben. […] Den Thee, den der große Liszt in einer Tasse stehen ließ, goß sich die Gräfin Schlippenbach in ihr Eau-de-Cologne-Flacon, nachdem sie die Eau de Cologne auf die Erde gegossen hatte; seitdem hat sie dies Flacon versiegelt und auf ihren Sekretär zum ewigen Andenken hingestellt und entzückt sich jeden Morgen daran, wie auf einer deßhalb erschienenen Karikatur zu sehen ist“ (Marx und Engels 1975, Bd. 1, S. 230).

Die Männer betrachteten interessiert den Auftritt von Liszt, aber dem Geschlechterideal des 19. Jahrhunderts entsprechend stellten sie sich in ihren Selbstbeschreibungen als beherrschte Kunstkenner dar. Diese männliche Kontrolle der Sexualität war für den Ruhm des Virtuosen, für seine Rolle als erotischer Machthaber zentral. Liszt wusste um seine körperliche Ausstrahlung – und zumal seine weiblichen Verehrer wussten es ebenfalls. Die amerikanische Pianistin Amy Fay hielt 1873 in sinnlich-erotischer Anteilnahme fest: „Ich kann wohl sagen, daß in Liszt mein Ideal endlich in gewisser Weise realisiert ist. Er geht weit über Alles was ich erwarte. Wenn er am Clavier sitzt, sieht er vollendet schön aus. […] Ich freue mich seiner wie eines ausgewählten Kunstwerkes. Seine persönliche Anziehungskraft ist unendlich groß, ich kann es kaum ertragen, wenn er spielt“ (Fay 1996, S. 133).

Doch gerade die sinnlichen Erfolgschancen der weiblichen und der männlichen Bühnenstars verursachten auch Gerede über die Gefahren der Bewunderung. Die vom Publikum verlangte Attraktivität führte zu einer Beeinträchtigung des guten Rufes – der Künstler und der Zuschauer. Die Angst vor einer erotischen Bedrohung war mithin eine Folge der durch die Publikumsbewunderung zusätzlich verstärkten Reize (vgl. Hutcheon 2000, S. 181). Debatten über die Körperkontrolle, ja über erotische Wirkungen verknüpften zwei Bedeutungsebenen miteinander: die Erfüllung und die Gefährdung akzeptierter sozialer und kultureller Regeln. Der in sich selbst begründete Widerspruch war elementar und letztlich unlösbar, denn musikalische Aufführungen versprachen zu verführen und durften genau das aber nicht zulassen. Vor allem durch die öffentliche Darstellung der erotischen Möglichkeiten stand oft zu befürchten, dass die Musiker und ihr Publikum einander preisgaben.

In vielen Zeitungsartikeln fanden sich Elogen von der naturhaften Schönheit junger Frauen, die den männlichen Betrachter erotisch überwältigten. Stendhal bspw. weidete sich beim Anblick des attraktiven weiblichen Publikums in den Logen der Mailänder Scala. Das volle, lange schwarze Haar trügen sie hochgesteckt, als wartete es nur darauf, durch den männlichen Blick wie ein Vorhang herunterzufallen. „Heute Abend […] prangten alle Damen in vollem Schmuck in ihren Logen: tiefe Ausschnitte, freie Arme, mit riesigen, sehr schönen Federn geschmückte Hüte – das brauchen sie, um von der Parterre aus bemerkt zu werden“ (Stendhal 1980, S. 434; vgl. Laermann 1989, S. 134–147; Hinz 2008; Döcker 1994, S. 240 f.).

Die Presse kritisierte regelmäßig jede Kultivierung unangemessener Geschlechterverhältnisse. In seiner gewohnt phantasievollen Sprache spottete das Londoner Satireblatt Punch z. B. über eine Anzeige im Manchester Guardian. Dieser habe, ohne Anerkennung der akzeptierten Moral der Geschlechter, doch tatsächlich eine Anzeige geschaltet, in der das Bett (sic) der Jenny Lind, von ihr höchstselbst berührt in der Bellini-Oper La Sonnambula, nunmehr zum Verkauf stünde: „Making Much of Jenny Lind. […] Jenny Lind – Immense Attraction. The Bed, on which Jenny Lind slept in La Sonnambula, is Now on View and On Sale“ (Punch 13/1847, S. 103).

Die sinnliche Wirkung der Primadonna Assoluta auf ihre männlichen Gefolgsleute ist ebenso gut in den Geschichten belegt, in denen sich gestandene Männer anstelle der Pferde vor die Kutsche der Sopranistin spannten und sie vom Theater zum Hotel zogen. Geschlechterverhältnisse ließen sich aber auch im Musikleben vertauschen. Während Lind die Männer verführte, verführte Enrico Caruso – ganz der Pionier eines italienischen Tenors – allein die Frauen. An der Wende zum 20. Jahrhundert zeigten Grafiken diesen eher üppigen Mann im Opernkostüm von mehreren faszinierten Frauen umstellt. „Caruso-Fieber“ titelte man in Wien 1907 und ergänzte in der Bildunterschrift: „Er ist göttlich! Durch seine Trikots schimmert das Fleisch durch“ (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Fritz Scheinpflug, „Caruso‐Fieber“, Die Muskete, Wien 1907, in: Worbs 1982, S. 271

Die Berliner Satireschrift Kladderadatsch schloss sich dem erotischen Ruhm Carusos an und veröffentlichte ein Gedicht über seine erfolgreichste Rolle auf der Bühne: die des Frauenverführers.

Caruso, Caruso!

Sag’ mal, was stellst denn du so

Ganz Sonderbares mit Frauen an?

Du bist ja der reine Don Juan. (Kladderadatsch, 07.02.1909, S. 95; vgl. Rollka 1985)

Männliche und weibliche Musiker fanden sich auch auf der Bühne durch die Klassifizierung ihres Geschlechtes zusammen. Doch Männer und Frauen waren auch im Musikleben nicht gleichrangig. Die Geschlechterdifferenz markierte ein elementares Moment innerhalb der Institution Kunst, ein Spiegel der Eingrenzung musizierender Frauen. Die Kenner kontrastierten Männlichkeit als hegemoniales Bild künstlerischer Schöpfungskraft im Gegensatz zur musikalisch wie menschlich unterlegenen Weiblichkeit.

Männliche Sicherheit im Konzert- und im Opernhaus beruhte auf männlicher Solidarität. In vielen Fachblättern, Broschüren und in den Konzertprogrammen des 19. Jahrhunderts fanden sich Hinweise auf die kulturelle Ungleichheit der Geschlechter – der Führungsfähigkeit der Männer und der Anpassungsbereitschaft der Frauen. Die Wiener Gesellschaft der Musikfreunde bspw. begriff sich als primär männliche Gesellschaft und hob in ihren Statuten im Jahre 1818 hervor: „Frauenzimmer […] werden nicht als eigentliche Mitglieder, sondern als sehr geehrte Gäste und Zierden der Gesellschaft, ohne eine Zumuthung von Beyträgen eingeladen“ (Gesellschaft der Musikfreunde, Archiv Wien, 3697/32,2).

Schärfer noch fiel die Verweigerung aus, die kompositorischen Leistungen von Frauen anzuerkennen. Gerade dem Bürgertum missfielen die Versuche junger Künstlerinnen, eigene Werke zu schaffen und zur Aufführung zu bringen. Wenige Frauen riskierten die Ausbildung, den Publikumskontakt und die zahllosen sozialen und emotionalen Konflikte. In einer aus Ein- und Ausgrenzungen bestehenden Kulturwelt blieben die wohl bedeutendsten Komponistinnen meist unbeachtet. Der erzpatriarchalischen Gesellschaft erschien selbst die kurze Karriere von Fanny Hensel als unwichtiger Einzelfall einer überaktiven Tonsetzerin. Allein als Pianistin hatte Clara Schumann eine gewisse Karrierechance – vielleicht auch deshalb, weil sie als Künstlerin außerhalb der Opernbühne auftrat (vgl. Toews 1993; Weissweiler 1999, S. 191–245, 263–303; Steegmann und Rieger 1996).

Wenig überrascht mithin das verbreitete kulturelle Urteil über musizierende Frauen. In pathetischen Tiraden las man viel über das zum Komponieren unfähige Wesen der Frau. „That no woman has ever been a great composer is an accepted fact; that she is never likely to become so, more than a probability. […] Women have invaded so many fields hitherto occupied solely by men. […] We believe that the reason is to be found in the nature of the art itself. Music may be defined as an imaginative and emotional structure, built in a mathematical foundation“ (The Musical Times, 28.02.1887, S. 80 f.; vgl. Curtin 1985).

Im geschlechtlich bewerteten Musikleben sind nennenswerte Differenzen zwischen den Städten und Ländern kaum zu erkennen. Auch die Signale für die musikalische Welt lobten zwar, dass in der Berliner Philharmonie zum ersten Male eine „Composition weiblichen Ursprungs“, nämlich zwei sinfonische Stücke von Cornélie Oosterzee, aufgeführt worden seien, den Zuhörern jedoch „die weiblichen Geistesproducte“ nicht gefielen. Die musikalischen Bemühungen der Frauen seien zwar rundum zu begrüßen, komponieren könnten sie aber leider nicht. Dem weiblichen Geschlecht fehle „melodische Triebkraft und Erfindungsgabe“. Ungeachtet „weiblicher Anmuth, Liebenswürdigkeit und Sinnigkeit“ sollten sich Frauen erst auf „dem Gebiet der schaffenden Tonkunst“ bewähren. Umgekehrt hieß das: Bis zum Erlernen der vollwertigen musikalischen Produktion müsse sich das „weibliche Geschlecht“ allein „auf das Gebiet der Reproduction beschränken“ (Signale 55/1897, S. 209–211; vgl. Planert 1998).

Die Vorstellung, dass die Ordnung der Geschlechter aus der Ordnung der Natur stamme, begründete die musikalische Führungskraft des Mannes. In Abgrenzung von den weiblichen Attraktionspotenzialen – Sitte, Moral, Beschränktheit und Unterordnung – bezeichneten manche Journalisten die Anziehungskraft des Mannes als Kondensat der männlichen Tugenden – Handlungsfähigkeit, Mut und Konzentration. „No musician need be unmanly; and the best have almost invariably been remarkable for a robustness of mind and character, if not physique. Travel and adventure and a love of Nature“ (The Musical Times, 30.08.1889, S. 460). Diese Beispiele galten für jeden männlichen Musikfreund und umso mehr für die höchsten Häupter der Kultur: Jede Form der Männlichkeit war steigerungsfähig. In Beethovens Person sah man wohl den männlichsten aller Komponisten, Händels Rang folgte dicht auf und auch „Mendelssohn was a wonderfully good all-round man“ (ebd.; vgl. Borchard 2005; Mahling 1978; Cooper 1992). Kurzum: Auch ihre Männlichkeit machte männliche Interpreten und Komponisten zu Künstlern.

Regelmäßig trafen die Leser der Zeitungen auf im wahrsten Sinne des Wortes konservierende Idealbilder von Musikerinnen. Die musikalische Weiblichkeit bedurfte der positiv gewendeten Eigenschaften von Kontrolle und Verzicht. Die Asymmetrie der Geschlechter vollzog sich im bürgerlich-moralischen Lob der Frau als Mutter. Die Glorie um Jenny Lind umstrahlte damit nicht allein diese Sängerin, sondern jedes familiär ordentlich lebende Weib. Diese Einbindung der Frau band ihre ungewünschten Triebe. Lind sei diejenige, welche „als reizendes Mädchen von der Opernbühne herab entzückt hatte, – nun als anmuthige Frau im Concertsaale. Welche Sagen und Dichtungen drängten sich damals an die fremdschöne, poetische Erscheinung“. Heute sei sie „eingetreten in das Heiligthum des Familienlebens, von der Glorie der Mutterwürde umgeben, wie anziehend und schön ist sie auch jetzt!“ (Neue Wiener Musikzeitung, 06.04.1854; vgl. Leppert 1988, S. 28–70, 147–175).

Der Glaube an die musikalische Ungleichheit der Geschlechter hatte Folgen. Frauen die kulturelle Partizipation abzuerkennen, negierte nicht nur ihren Stellenwert, sondern zog auch ein Erziehungsprogramm nach sich. Frauen hatten im Extremfall aus dem Musikleben zu verschwinden. Männliche Stimmen wurden laut, die die Position von Frauen eben durch ihr Musizieren abwerteten. Dabei polemisierte man nicht allein gegen Primadonnen, auch alltägliches Klavierspiel vermeintlich höherer Töchter gefährde die Personen wie die Kultur gleichermaßen: „Die weibliche Erziehung ist heut zu Tage für die Gesundheit und das Glück nachtheiliger, als die der männlichen Jugend. […] Die Wuth, Musik zu treiben, benachtheiligt die Gesundheit und verkürzt selbst das Leben von Tausenden und zehn Tausend des schönen Geschlechts. […] Ist es möglich, daß ein so mächtiges Erregungsmittel täglich viele Stunden lang auf den zarten Organismus der weiblichen Jugend angewendet werden kann, ohne außerordentliche Wirkung hervorzubringen?“ (Oesterreichische Zuschauer, 19.11.1838, S. 1405–1409).

Erziehungs- und Verbesserungspläne auf musikalischem Feld stimulierten den männlichen Sexismus. Das belegen Kritiken über Damenkonzerte. Über eine Wiener Veranstaltung des Jahres 1845 spottete man, dass die singenden Damen zwar schön anzusehen, aber unschön zu hören seien. „Was das Auge anbelangt, so konnte es mit dem gebotenen vollauf zufrieden seyn, denn gewiss ist es ein glänzender Anblick, mitten im kerzenschimmernden Redoutensaale aus mehreren künstlich angebrachten Rosenbüschen einige fünfzig meist junge und reizende Damen im einfach weißen Kleide, das Haar mit einem Kranz geschmückt, hervortreten und in einem Kreis um ihre Leiterin gereiht zu erblicken. […] Minder befriedigt war das musikalische Gehör“ (Osterreichische Zuschauer, 11.04.1845, S. 462 f.).

Die männliche Hegemonie im Musikleben verband sich mit der strategischen Kontrolle möglicher sinnlicher Überschreitungen der Frau. Das verdeutlichte bspw. ein rundum ausführlicher Leserbrief, den die Times 1914 druckte. Ein Herr C. A. Cannon (sic) unterbreitete seinen Vorschlag über das Benehmen von Frauen in Wagners Parsifal. Im damals diskussionswürdigen und heute allenfalls erstaunlichen Stil warb er nachdrücklich für eine stärkere Selbstkontrolle der weiblichen Opernbesucher. Denn da der Parsifal ein christlich religiöses Drama voller Mysterien und Glaubenswünsche darstelle, hätten sich auch viele der unsittsam gekleideten Damen dieser Kulthandlung zu unterwerfen und ihre Häupter während der Vorstellung zu verhüllen. Wie in einem Gottesdienst müsse die Frau sich dem Bühnenweihfestspiel seelisch und körperlich anvertrauen: „Would it not be an honourable act of reverence to the mystery of faith itself […] if ladies wore mantillas on their heads at the opera on the Parsifal nights?“ (The Times, 19.01.1914; vgl. Shepherd 1987).

Die wortreichen männlichen Kaskaden im Musikleben machten aber auch etwas anderes deutlich: Eine einheitliche, gar eine in sich geschlossene bürgerliche Musikkultur gab es auch in den Geschlechterverhältnissen nicht (vgl. Döcker 1994, S. 221–230). Vielmehr offenbarten Praktiken der Geselligkeit im Opernhaus, der allabendliche gegenseitige Kontakt einander mehr oder weniger zugeneigter Paare, dass die Kommunikation zwischen Männern und Frauen sich niemals so stringent trennen ließ, wie es die kulturellen Moralapostel einforderten. Selbst das Fachblatt Signale für die musikalische Welt schwärmte 1861 von der körperlich vollzogenen erotischen Begierde der Geschlechter. „Nach der Behauptung großer Kenner soll es höchst poetisch sein, bei Spiel und Gesang zu küssen, was einen berühmten Kritiker bewogen haben mag, in seinen Jugendjahren Frauenzimmer im Dunkel der damaligen Logen, auch wider ihren Willen, zu küssen“ (Signale, 15.08.1861, S. 445).

Auch die Abbilder der die Musik liebenden Gesellschaft stifteten Geselligkeit. Der Fokus richtete sich auf optisch inszenierte Praktiken zwischen den anwesenden Geschlechtern im Opernhaus. Was die Musik liebenden Männer und Frauen verband, war ihr erotisches Zusammenspiel: Die auf vielen Stichen illustrierte Begierde der Männer bedurfte der augenscheinlich desinteressierten Selbstkontrolle der Frauen. Illustrated London Life fing 1843 die männliche Annäherungen an eine schöne Diva auf der Bühne des Her Majesty’s Theatre in einer grotesken Darstellung ein (Abb. 4).

Abb. 4
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Her Majesty’s Theatre, in: Illustrated London Life, 1.4.1843, S. 32

Fast alle Operngläser der jüngeren Männer in den Logen waren auf die allein agierende Sängerin auf der Bühne gerichtet. Diese optische Satire offenbart nicht nur den Spott über begierige Männer, sondern zeigt reale Ambitionen der männlichen Zuschauer, die versuchten, körperliche Nähe aus der Distanz heraus zu gewinnen. Ein ähnliches Bild bot im Punch ein Mann, der – bewaffnet mit einer als „common garden“ (!) beschrifteten Broschüre – mit seinem Opernglas drei Schönheiten in der Nachbarloge anvisierte (Abb. 5).

Abb. 5
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„Italian opera fashions“, in: Punch 12 (1847), S. 194

Der Kommentar spottete über „the anomalies in fashion and dress that prevail in the new establishment” (Punch, 12/1847, S. 194; vgl. Gebhardt Fink 2008). Beide Stiche zeigen jedenfalls das intime Interesse am anderen Geschlecht – gleichzeitig aus der Nähe und aus der Distanz in der Oper.

Libido bedeutete immer Herrschaft. Die Beobachtung der gesellschaftlich akzeptierten, selbstredend aber fragwürdigen Geschlechterverhältnisse im Publikum rief gelegentlich die Polizei und die Zensur auf den Plan. Beinahe harmlos erscheint etwa der Vorschlag des Managers des Her Majesty’s Theatre, Benjamin Lumley, den Lord Chancellor um eine bessere polizeiliche Überwachung der Spielstätte zu bitten: „My Lord, I shall be happy to conform to your Lordship’s wishes as to the admission of the Police for the better observance of order in Theatres“ (London, Public Record Office, LC7/7, Her Majesty’s Theatre, 27.01.1847). Weit rigider dagegen traten die Wiener Zensurbehörden vor 1848 auf den Plan. Namentlich das Musiktheater, die zentrale Institution gesellschaftlichen Ranges, hatte als Unterhaltung des bestehenden Systems zu funktionieren. Hier galt es, die Ordnung der habsburgischen Monarchie, Moral und Religion, zu schützen. Zu den verbotenen Dingen rechneten die Verantwortlichen falsche Bühnenwerke und sittenwidrige Interpretationen (vgl. Hüttner 1980; Dietrich 1967; Obermaier 1987).

Die Präsenz der Erotik traf auf staatliche Kontrollversuche. Die Zensurbehörden versuchten, das, was sie als Unordnung bewerteten, in Ordnung zu verwandeln. Weite Teile des Publikums ahnten dagegen oft nur, was genau die Behörden und die Theaterleitung einzudämmen suchten. Tatsächlich orientierten sich viele Zuschauer an den Themen, über die sie kommunizieren wollten. Polizeidienststellen und Zensoren suchten den geltenden Regeln der Geschlechterordnung zu folgen – das Publikum aber oft den eigenen Regeln. Die Akteure in diesem Verhandlungsprozess zwischen Kontrolle und Kontrollverlust lassen sich bestimmen, Erfolge und Misserfolge aber nicht voraussagen. Die heimliche Freude über gesellschaftliche Tabus führte zu einer Selbstzensur einerseits und zu leidenschaftlichem Genuss andererseits. Die Praxis des musikalischen Vergnügens als Akt erotischer Freiheit konnte im liberalen London bestaunt werden. Über die Sinnlichkeit eines Maskenballs im King’s Theatre polemisierte die Presse: „We are not so puritanical as to censure public amusements indiscriminately. […] These are […] resorts for impurity and immorality. […] By two or three o’clock, the ‚Rooms‘ are replete with all that can be debase and corrupt; – poor wine, worse women, and filthy fellows: – in fact, each room is a temporary brothel“ (London, The British Library, Theatre Cuttings 43, Haymarket Theatre, Cuttings from Newspapers, Vol. 3 1807–1829, 27.04.1829).

3 III.

Dieser letzte Satz, nachdem die Räume und Logen der Oper zu Bordellen auf Zeit wurden, traf zu. Damit ist keineswegs allein die Erscheinung sinnlich faszinierender, aber moralisch bedrohlicher Heroinen wie der Violetta in Verdis La Traviata – einer Edelprostituierten der Pariser Gesellschaft – oder der in Armut lebenden Mimi in Puccinis La Bohéme gemeint. Die Präsenz der Halbweltdamen auf der Bühne entsprach der Präsenz der Kurtisanen im Zuschauerraum (vgl. Leppert 1993, S. 189–211). Prostituierte gingen in den europäischen Opernhäusern bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts regelmäßig auf Kundenfang in praktisch allen Bereichen des Auditoriums. Noch genauer: Prostituierte befriedigten die Fantasien und die körperlichen Wünsche der Männer nicht nur vor und nach den Aufführungen, sondern auch während der Vorstellung. „Sex sells“, das galt auch für den von manchen Musikfreunden gewünschten und von vielen beobachteten Geschlechtsverkehr im Opernhaus.

Diese aus heutiger Sicht zunächst überraschende Tatsache scheint im scharfen Widerspruch zur distinguierten gesellschaftlichen Rolle dieser Institution zu stehen. Doch die hier schon vielfach beschriebene Pluralität der Publikumsinteressen, die Freude an der neuesten Mode, sowie der gemeinsamen Unterhaltung auf und vor der Bühne, relativiert die Idee einer strikten Ausgrenzung der Prostituierten aus den Opernhäusern. Das Verhalten und die aufreizende Kleidung der Dirnen interessierten jeden (Hall-Witt 2007, S. 62 f.). Der große öffentliche und unterhaltende Stellenwert der Opernhäuser erklärt auch, warum Prostituierte hier weit häufiger anzutreffen waren als im Konzertsaal. Die leichter einsehbare Sitzplatzanordnung im Konzertsaal dürfte im Unterschied zu den Logen und den abgelegenen Rängen im Opernhaus den öffentlichen Akt behindert haben. Dem gelegentlichen Ruf des Musiktheaters als Brutstätte von Unmoral und Laster schadete die Anwesenheit dieser Frauen nur in bekannt gewordenen Ausnahmefällen. Diese Häuser erfüllten im Prinzip die gleiche männliche Nachfrage wie Kneipen und Tanzhäuser. Ein wichtiger Unterschied bestand allenfalls darin, dass die in den Logen, Sitzreihen und Rängen arbeitenden Dirnen genau deshalb nicht als Straßenmädchen bezeichnet werden können.

Zwei Faktoren verschränkten das Wechselspiel von Theater und körperlicher Begierde: Zum einen brachten Sängerinnen eine Form von Leidenschaft auf die Bühne, deren Anschein für manche als frivol oder gar als hurenhaft zu deuten war. Zum anderen gaben viele der in den Opernhäusern auf den Strich gehenden Frauen an, Sängerinnen oder Schauspielerinnen zu sein. Um moralische Werte statistisch zu wenden: In den 1860er Jahren veranschlagten Londoner Schätzungen die Anzahl der Prostituierten in dieser Stadt auf bis zu 80.000 und belegten damit deren Verbreitung außerhalb und innerhalb des Musiklebens (vgl. McDonald 1989, S. 177–180; Horn 1999, S. 66–69).

In praktisch allen europäischen Opernhäusern zeigten sich machtbewusste Männer in den Logen regelmäßig mit ihrer anerkannten Mätresse (vgl. Stendhal 1980, S. 22 f.). Eine weit höhere Akzeptanz in der Öffentlichkeit und einen höheren Status des Liebhabers markierte aber die Unterscheidung zwischen einer Geliebten und einer Gelegenheitsprostituierten. Am erstaunlichsten ist vielleicht die intensive Berichterstattung über Londoner Prostituierte (vgl. Johnson 1975; Teran 1975; Hall-Witt 2007, S. 188 f.). Die Größe der Stadt, der einzigartige Reichtum und eben auch die Anzahl der Spielstätten begünstigten nicht nur die Ausbreitung dieses Geschäftes, sondern auch trotz der öffentlichen Beobachtung einen starken Willen der männlichen Kunden, dieses Geschäft zu genießen.

Selbstredend arbeiteten auch in Wien und in Berlin Prostituierte in anderen öffentlich präsenten Orten – auf den Bällen, in den Tanzlokalen und in den Cafés neben den Musiktheatern. Doch im Vergleich zu London existieren heute nur noch wenige Berichte über ihre Tätigkeit in der Hofoper – vielleicht, weil die musikalische Elite des Habsburgerreiches und Preußens deren Präsenz strenger maßregelte (Häusler und Hitzer 2010). Obwohl weniger deutlich, finden sich aber aktenkundige Ausnahmefälle in der Wiener Hofoper; d. h., Beschwerdebriefe an die Direktion über die in öffentlichen Etablissements arbeitenden unsittlichen Künstlerinnen: „Ich habe mit Mißfallen vernommen, daß unter den bei den Hoftheatern und bei jenen angestellten Schauspielerinnen, Sängerinnen usw. die Unsittlichkeit zum Skandal des Publikums überhand nehmen.“ Daher müsse man Personen „mit üblem moralischen Ruf von der Schaubühne entfernen lassen“. In mehreren internen und aufgeregten Schreiben verwahrte man sich offiziell gegen diese Unterstellung, in einem Schreiben von Fürst Esterházy vom 6. Februar 1809 hieß es aber, dass „in einzelnen Fällen“ bereits die Polizeibehörden eingeschaltet worden seien (Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Karton 4, 1806–1810, Nr. 37: 02.02.1809; vgl. Scott 2002, S. 559).

Ein Besucher des Pariser Opernhauses in der Saison 1802/1803 richtete seinen Blick eher auf die galante Unruhe im Parkett und in den Logen – die jungen Prostituierten nahm er nicht als Bedrohung, eher als eine der üblichen Bereicherungen des Abends wahr: „Die Ungezogenheiten des Parterres machen, dass einer, dem es um Genuss und Ruhe beim Genuss ernstlich zu tun ist, gar nicht auf das Parterre gehen kann, sondern die teuren Logenplätze oder Orchester […] und wie die Plätze des ersten Ranges alle heißen, besuchen muss“ und dabei die herumlaufenden „galanten Mädchen“ beschauen konnte (Hentschel 2006, S. 98).

In Berlin durften Prostituierte Theater, Museen und Kirchen nicht betreten, doch die rechtlichen Versuche, die Prostitution unsichtbar zu machen, verhinderten die öffentliche Arbeit der Frauen auch in repräsentativen Gebäuden nicht. Gerade der kulturelle und soziale Rang des Opernhauses erleichterte es vielen Prostituierten, distinguiert auf sich aufmerksam zu machen und die rechtlichen Reglementierungsvorschriften zu unterlaufen. Vor allem erfolgreiche Prostituierte konnten durch ihre teure Kleidung und eine Droschkenfahrt zum Theater demonstrieren, dass sie als ein akzeptierter Bestandteil der musikalischen Gesellschaft galten (vgl. Hitzer 2010, S. 42–50).

Häufiger als Proteste bei der Theaterleitung finden sich in zahlreichen Londoner Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren moralische Kanonaden gegen diese Damen und ihre Kunden. Innerhalb und außerhalb des Theaters stritten sich unterschiedliche soziale Schichten über den Zweck derartiger Geschlechterbeziehungen. Einer der darüber in London grübelnden Beobachter war Fürst Hermann von Pückler-Muskau. In seinen Reisebriefen aus England im November 1826 zeigte er sich überrascht und angewidert über die Anzahl und den Auftritt der um ihre Kundschaft konkurrierenden Londoner Prostituierten im Opernhaus: „Ein […] Grund, der anständige Familien abhalten muß, sich hier sehen zu lassen, ist die Konkurrenz mehrerer hundert Freudenmädchen, welche, von der unterhaltenen Dame an, die sechstausend Pfund Sterling jährlich verzehrt und ihre eigene Loge hat, bis zu denen, die auf der Straße unter freiem Himmel bivouaquieren, in allen Gradationen erscheinen und in den Zwischenakten die großen und ziemlich reichverzierten Foyers anfüllen, wo sie alle ihre Effronterie schrankenlos zur Schau tragen. […] Dies geht so weit, daß man sich oft im Theater dieser widrigen Venuspriesterinnen, besonders wenn sie betrunken sind, was nicht selten der Fall ist, kaum erwehren kann. […] Wobei sie auch auf unverschämteste Weise betteln, so daß man oft das […] junge Mädchen sieht, die nicht verschmäht, einen Schilling oder Sixpence, gleich der niedrigsten Bettlerin, anzunehmen, um am Büffet ein halbes Glas Rum oder Gingerbeer dafür zu trinken“ (Pückler-Muskau 1992, S. 76).

Prostituierte in der Oper, so eine weit verbreitete Meinung, machten den familiären Besuch des Hauses unmöglich, sie gefährdeten die Sittlichkeit, v. a. aber die soziale Ordnung. Einige meinten, dass die käuflichen Damen in London sich weniger in den nur den Eliten vorbehaltenen Logen des ersten Ranges als vielmehr auf den weniger einsehbaren höher gelegenen Rängen betätigen sollten: „The scenes which nightly take place in the first circle of this theatre, are disgraceful. No man with any pretension to delicacy can go there with his family. […] The manner in which this part of the theatre is conducted, is an offence contra bonos mores, and should be put down as a nuisance by indictment. If these things must be so, they should be confined to the circle immediately above. It is false to say that the boxkeepers cannot pretend to discriminate“ (Figaro, 14.02.1835, S. 32).

Die Damen des käuflichen Gewerbes vollzogen ihre Arbeit meist in den preistreibenden Logen der Elite. Ebenso besuchten sie aber gerade in London Plätze im Parkett und in den oberen Rängen der Opernhäuser. Die Prostituierten gruppierten sich weniger in größeren Ansammlungen als in kleineren Gruppen, sie betraten das Theater durch Seiteneingänge mit den übrigen Zuschauern. Da viele Zuschauer ihre Oper ohnehin allabendlich mehr aus gesellschaftlichen denn aus musikalischen Motiven heraus besuchten, konzentrierte sich ihre Aufmerksamkeit leicht auf die weiblichen Reize und erotischen Angebote im Saal. Wohlhabende Kunden arrangierten zuweilen feste Verabredungen, die durchschnittliche Kundschaft folgte eher spontanen Übereinkünften mit den Frauen. Das Thema der Käuflichkeit von Frauen im Opernhaus beschränkte sich nicht nur auf die hohen Preise der regulären Eintrittskarten. Immer wieder redete man im Publikum von der käuflichen Körperlichkeit der Frauen, von der moralischen Verfehlung der Prostituierten und ihrer Kunden. Und drohte durch sündhaft teure Produktionen dem Opernhaus der finanzielle Kollaps durch fehlende Zuschauer, entdeckten Kritiker leicht eine Verbindung zwischen Spielstätte und Unmoral (vgl. Laermann 1989, S. 135–138; Baer 1992, S. 206–212).

Wenig wissen wir heute über die Vorstellungen, Ängste und Praktiken der Prostituierten aus ihrer eigenen Sicht. Mögliche Briefe, Tagebücher oder Erzählungen haben sich praktisch nicht erhalten. Öffentlich relevant aber waren nicht die Selbstbeschreibungen, sondern die Fremdbeschreibungen. Die Zeitgenossen kleideten diese Frauen in die Topoi der Gesellschaft ein, spannten ein männliches Netzwerk von Fantasien und Stereotypen um die sinnlichen, aber gefährlichen Prostituierten aus der Unterschicht. Die in der Schrift gewandten Männer schilderten das, was sie gelegentlich suchten, indem sie es verdammten. Zu beobachten war ein moralisch geforderter Akt männlicher Kontrolle, der sich vom praktizierten Kontrollverlust unterschied. Vieles war über die sinnliche Entgleisung der Dirnen, ihren angeblichen Alkoholismus und ihre überreizte Kleidung zu lesen (vgl. Walkowitz 1992, S. 15–39, 81–134; Corbin 1995).

Dennoch fielen die moralischen Proteste potenzieller Kunden schwach aus im Vergleich zur öffentlichen Aufregung über die allabendliche Tätigkeit der Dirnen. Ein Leser der Times beschwerte sich als ein bekennender Opernfreund in einem Brief über die regelmäßig zu sehenden Prostituierten. Beschämend sei diese geschlechtliche Mode durch ihre starke öffentliche Präsenz, ihre finsteren Praktiken und ihre unattraktive Erscheinung. Dieser Stimme verlieh das Blatt durch eine vollständige Veröffentlichung des Schreibens Ausdruck: „The intrusion or introduction of ladies of a certain class, who, when poor, are called ‚unfortunate females‘, and, when rich, ‚femines gallantes‘, in all of the most conspicuous and select parts of the theatre, is, one would have thought, bad enough, but the impunity with which that modern innovation has been allowed to pass has led to a more glaring and offensive nuisance again – namely, the introduction not only of the ‚ladies‘ above alluded to in numbers unprecedented, but of some of the most notorious and publicly known old procuresses, who, with unblushing fronts, exhibit themselves nightly, accompanied by their young victims, in the most conspicuous of the pit boxes. A notorious old woman, of infamous celebrity, was there last night, exhibiting their wares, to the disgust of all who had mothers, wives, or sisters seated in her vicinity“ (The Times, 13.05.1833).

Die Empörung darüber, dass die in der Oper arbeitenden Prostituierten auch gewöhnliche Zuschauer, ja die anwesenden Familien belästigten, bewegte auch einen anderen Besucher. Das Verhalten der Prostituierten im Theater hätte ihn auf einen anderen Platz in den sogenannten Stalls getrieben, seine Frau ohnehin ganz aus dem Haus verbannt. Persönlich ärgerte ihn dann eine dieser sich den vielen anwesenden Männern nähernden Damen, die hier in aller Öffentlichkeit nach ihm griff und sich auf seinen Schoß setzte. An diesem Angebot hatte der Herr offenbar kein Interesse: „I go to the opera, and am too poor to pay for a box, I am married, and my wife likes to go with me […] but I was obliged to give up the practice. […] In general those prostitutes who frequent the pit behave with propriety. […] But one of the ,ladies‘, as they are termed, very quietly seated herself in my lap, and on my remonstrating, said all gentlemen gave way to ladies in a crowd, and appeal very coolly to a young whiskered personage who happened to be standing by, and who seemed at first inclined to interfere. […] This was not all, – she seemed to have more friends than usual, and there were few young men who passed who did not either talk to or wink at her, and some parts of their conversation was not very edifying. […] If there were a police like that of Paris, then matters would be different“ (The Times, 06.02.1829).

Auch in London verfolgte die Polizei manche Prostituierte. Berichte über das juristische Verfahren existieren heute aber nur noch in Ausnahmefällen. Im Londoner Metropolitan Archive hat sich die Gerichtsakte eines Einzelschicksales erhalten. Am 8. September 1829 versuchte der Londoner Polizist Joseph Fryer eine vor dem English Opera House stehende Prostituierte vergeblich zum Weitergehen zu motivieren. Die Frau widersetzte sich seiner Aufforderung vehement, und der Vorfall landete bereits am nächsten Tag vor dem Gericht des Public Office in der Bow Street. Richter Thomas Halls führte den Vorsitz, und mehrere Zeugen waren anwesend, als die Beschuldigte Amelia Neale, die Frau eines James Neale, erschien. Der Polizist Fryer gab zu Protokoll, letzte Nacht gegen 23.00 Uhr die Angeklagte auf Kundenfang vor dem Haupteingang des Theaters höflich angesprochen zu haben. Diese habe sich aber nicht nur geweigert zu verschwinden, sondern habe ihn auch protestierend am Kragen gepackt. Für ihre Tätigkeit und diese Tätlichkeit verhaftete er sie. Die übrigen Zeugen bestätigten Fryers Aussage und ergänzten, dass es sich bei der Aussage und ergänzten, dass es sich bei der Angeklagten um eine jede Nacht vor der English Opera arbeitende Hure handele, die ein lärmendes öffentliches Auftreten gezeigt und den Polizisten zu allem Überdruss mit fürchterlichen Schimpfworten bedacht hätte (vgl. London Metropolitan Archives, MJ/SP/1829/09/008 – Middlesex, Clerkenwell). Leider belegen die Dokumente weder die Aussage Amelia Neales noch das Urteil des Richters gegen sie in diesem Prozess, wohl aber werden öffentliche Möglichkeiten und Grenzen von Prostitution deutlich.

Beschwerden über die Arbeit von Prostituierten gab es in den europäischen Städten immer, staatliche Verbote gegen sie und deren Beachtung dagegen relativ selten. Häufiger zeigten sich neben den Empörungen von privater Seite die Bedenken mancher Veranstalter. Die Musical World betonte, es sei an der Zeit, die in der Gesellschaft verankerten Konzerte auch moralisch zu festigen. Konzerte brächten einem großen Publikum nicht nur Musik, sondern auch Geschmack bei. Genau deshalb müsse in Zukunft dem beliebigen Auftritt käuflicher Frauen innerhalb des Publikums kulturell begegnet werden: „There is also, we lament to say, a great allurement to a considerable portion of the congregated thousands, in the ladies of pleasure who mix indiscriminately with the throng, and whom the management could not, if they would, wholly exclude“ (The Musical World, 03.12.1840, S. 353).

Schließlich verschwanden Prostituierte aus dem europäischen Musiktheater. Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts griffen Gesetze, staatliche Gesundheitsmaßnahmen und eine neue ärztliche Versorgung ineinander und verstärkten den Kampf gegen sich ausbreitende Geschlechtskrankheiten. Die bürgerliche Gesellschaft kombinierte Erziehung, Rehabilitation und Bestrafung, um die in „moralischer Gefahr“ arbeitenden Frauen den geltenden Geschlechteridealen anzupassen (vgl. Scott 2002, S. 559 f.; Walkowitz 1992, S. 229–245; Corbin 1995, S. 84–110). Nach 1840 sah man Prostituierte immer seltener im Zuschauerraum, 1870 waren sie praktisch ganz verschwunden. Unterstützt wurde diese Tendenz durch Bestrebungen nach sittlichen Reformen der Sexualmoral im Zuge der Verbreitung einer körperlichen Selbstbeschränkung nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Darin ist keinesfalls nur eine reine Verbürgerlichung männlicher Verhaltensmuster gegenüber käuflichen Frauen zu sehen. Die Prostitution im Opernhaus verschwand wie der Virtuosenkult durch eine Umwertung akzeptierter Wertesysteme, durch andere Geschmäcker und neue Präferenzen des Publikums. Bis dahin verband der geschlechtliche Blick der Musikliebhaber die Position von Virtuosen und Huren lange miteinander.

4 IV.

Einige Schlussbemerkungen zum emotional motivierten Lernprozess im Musikleben des 19. Jahrhunderts mögen hilfreich sein. Musikalisch motivierte Emotionen sind schwer zu erklären, weil sie einfach zu verstehen sind. Genau deshalb hatten Musikfreunde so viele Möglichkeiten, sich selbst innerhalb der Geschlechterordnung zu disziplinieren. Der Erfolg bestimmter Sänger oder der Prostituierten evozierte Austausch und Imitation – aber auch Widerstand und Ausgrenzungen. Das Publikumsverhalten existierte nicht jenseits aufgeladener emotionaler Deutungen, sondern war gleichsam Teil der Entwicklung. Musikalisch motivierte Emotionen verstärkten nicht nur gegenseitiges Lernen und Toleranz, sondern auch Entfremdung und Abgrenzung.

Nicht die Zerstreuung, sondern die Hingabe der Zuhörer an das Werk wurde nun zur hervorstechenden musikalischen Praktik, die die Teilnehmer einer Werkaufführung durch einen Lernprozess verinnerlichten. Die Auseinandersetzung des Publikums mit der erlernbaren Geschlechterordnung eröffnete Gelegenheiten für ein neues Hörverhalten. Verdi oder Wagner durch erworbenes Verständnis verehren zu wollen, gelang durch Kanonisierung und Kultivierung. Opern zu hören, hieß ihre Bedeutung zu erlernen und die tradierte Unterhaltung zu verlernen. Auch das neue Hörverhalten war eine Form der Unterhaltung, aber erweitert um den Charakter der Bildung. Jeder Hörer bemühte sich nach 1850 immer intensiver darum, Disziplin zu üben und seine eigene spontane Begeisterung nicht öffentlich zu zeigen: Aus Konsumenten musikalischer Unterhaltung sollten Kenner musikalischer Kunst werden (vgl. Bernius 2006; Grazer 1997; Goebel 2006; Bechdolf 2002).

Dass Benehmen nicht nur durch Einzelne zu erlernen war, sondern öffentlich verfügt wurde, belegen viele Zulassungsbeschränkungen im Opernhaus. Dieser Lernprozess mit seinen sozialen Normierungen vollzog sich über Jahrzehnte hinweg, in ihm mischten sich handwerkliche Peinlichkeiten und bildungsbürgerliche Werturteile. Das Medium der Musik entsprach geradezu idealtypisch dem Wertehimmel des aufstrebenden Bürgertums: Die musikalische Harmonie korrespondierte mit der Utopie bildungsbürgerlichen Lernens. In der Struktur der auf gesetzmäßige Wiederholung angelegten Musik erkannte das Bildungsbürgertum seine Ordnungsprinzipien. Damit wurden die körperlichen und moralischen Disziplinierungen zu Elementen einer Selbstkontrolle. Durch distinktive Verhaltensformen machte der eigene Geschmack gebildete Musikkenner als Wertegemeinschaft sichtbar. Gerade der Musikgeschmack hob die eigene Stellung in der Gesellschaft hervor. Und umgekehrt: Die sozialen Eliten kreierten die musikalische Kultur.

Für die Relation zwischen Gesellschaft, Musik und Emotionen heißt das: Man sollte sich der konstruktivistischen Einsicht nicht verschließen, dass musikalische Emotionen nicht nur ästhetischen Reizen folgen, sondern auch kommunikative Produkte sind. Das Publikumsverhalten stellt eine kodierte Praxis dar, mit Hilfe derer die Menschen eigene Erfahrungen und Bedürfnisse artikulieren. Der Erfolg gelernter Emotionen, wenn man mag erschaffener Emotionen, ermöglicht Musikfreunden, Zugehörigkeit und Fremdheit in einer Gesellschaft zu markieren. Musikalische Praktiken schaffen gesellschaftliche Ordnung. Dadurch stellen die Fragen nach dem „richtigen“ musikalischen Geschmack und dem „richtigen“ Hörverhalten potentiell umstrittene Phänomene dar. Auch wenn die Aneignungen musikalischer Darbietungen sich nicht präzise kalkulieren lassen – Emotionen im Musikleben lassen sich als ein Wille zum kontrollierten Kontrollverlust verstehen.