Kameraden!

Da eilte ich befreit zur Tür hinaus –

Schnell flammend half das warme Treppenhaus,

Und lieber wollt’ ich zu den Straßensteinen,

Als horchend in der engen Wohnung weinen.

Das ist die Flucht vor den zu eng Verwandten,

Die mich berührten, ehe sie mich kannten –!

Noch immer wie in ihrem hohlen Schoß

Lässt mich Gebornen Elterndruck nicht los.

Doch lieber Hass und Wüste dieser Stadt

Als eure Liebe, die mich grundlos hat!

Wir wählten niemals uns! Dass ihr mich säugtet:

Wird es Gefühl denn, dass ihr mich erzeugtet?

(…)

Ein Ruf nach Sonne –! statt sich rauh zu brauchen

Einander stolzre Seelen einzuhauchen –

Ein Ruf nach Freiheit –! nicht vermischt zu sein,

Sondern vereinigt wie in Heeresreihn –!

(…)

Das sind die Willen, ganz aus Licht getrieben,

Die sich als Willensangesichter lieben.

Das ist die lautre lautste Melodie,

Die süße nahe weite Kameraderie!

Das Gedicht „Kameraden!“, aus dem diese stark gefühlsbeladenen fünf (von insgesamt vierzehn) Strophen stammen, hat der 26jährige expressionistische Dichter Wolfenstein (1888–1945) vermutlich im Frühsommer 1914, also kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasst. Veröffentlich wurde es Anfang 1915 in der Zeitschrift Der Aufbruch. Monatsblätter aus der Jugendbewegung. Eindringlich beklagt Wolfenstein hier die „Sumpfgemeinsamkeit“ der großstädtischen Lebensverhältnisse ebenso wie den häuslichen „Elterndruck“ und den „eisig kalten Bund“ von Liebespaaren und setzt solcher allenfalls nur „falschen Seelenfrieden“ vermittelnden bürgerlichen Alltagsexistenz seinen „Ruf nach Freundschaft“, „nach Sonne“ und „nach Freiheit“ entgegen. Beantwortet wird dann dieser Ruf – so die Erwartung des Autors – im Jungmännerbund, in dem „Willensangesichter“ sich lieben und wo als „lautre lautste Melodie“ das Lied von der „süßen nahen weiten Kameraderie“ ertönt. Gedichte von Alfred Wolfenstein wurden damals v. a. in jugendbewegten Kreisen viel beachtet: Männerbundbeschwörungen wie diese trafen wegen ihrer (heute kaum noch nachvollziehbaren) pathetischen Gefühligkeit in der Endphase des wilhelminischen Kaiserreichs offenbar auf weit offene Ohren und Seelen, denn sie drückten etwas aus bzw. umkreisten eine Stimmung, die einer Erlösungssehnsucht vieler Angehöriger des männlichen Bildungsbürgernachwuchses entsprach.

Als weiterer Einstieg in mein Thema bietet sich noch eine zweite exemplarische Gefühlsäußerung aus jenen Jahren an: Kurze Zeit vorher hatte ein scharfer Kritiker des Wilhelminismus, nämlich Gurlitt (1855–1931) – Altphilologe am Steglitzer Gymnasium und einer der geistigen Väter des Wandervogels –, in einem Nachwort zu seinem Buch Erziehung zur Mannhaftigkeit die „Menschenabrichterei“ seiner Zeit massiv angeprangert (zum Folgenden s. Gurlitt 1906, S. 217, 227, 231, 243). Mit Blick auf die Tragikomödie um den Hauptmann von Köpenick schrieb er: „Die Schutzleute stehen auf Befehl des schmierigen Hauptmanns selbst Schmiere, und der Soldat erstarrt vor der heiligen Uniform in ‚eingetrichterter Demut‘“. Das Ereignis sei, so Gurlitt, ein „trauriger Triumph preußisch-militärischer Abrichtungskunst“, ein „Triumph der ‚geistigen Hosennaht‘“, und so rief er dann abschließend anklagend aus: „Du hast es so gewollt, Erziehung zur Subalternität, Geist der Dressur!“ Als Fazit aus dieser Erfahrung forderte Gurlitt eine „Erziehung zur Mannhaftigkeit“, bei der das freie Individuum im Mittelpunkt stehen sollte und nicht die Erzwingung blinden Gehorsams mit Hilfe brutaler Erziehungsmethoden, bei denen die Prügelstrafe an erster Stelle stand, denn: „Sonst wird unser ernstes Leben schließlich zum Possenspiel!“ Eine erheblich zunehmende Zahl von Schülerselbstmorden war für ihn ein bedrückender Beleg dafür, wie sehr der damalige Erziehungsstil in Schule und Elternhaus bei vielen Heranwachsenden zu „Verzweiflung und Lebensüberdruss“ geführt hatte. „Männer setzen Knaben voraus“, lautete daher Gurlitts Motto, denn nur in einer freien Knabenerziehung sah er die Voraussetzung gegeben, dass in Zukunft „neue und ganze Männer“ die Geschicke des Deutschen Reiches bestimmen würden und nicht „servile Lakaien mit Untertanendemut und hässlichem Strebergeist“.

Wie konnte „man(n)“ sich, konkreter: Wie konnte der Jungmann sich damals aus den von Gurlitt beschriebenen Zwangslagen in Schule und Elternhaus befreien und in der Zeit seiner Adoleszenz – der Begriff kam damals infolge einer breiten Rezeption des 1904 von dem amerikanischen Kinderpsychologen Stanley Hall verfassten Buches Adolescence in den Sprachgebrauch (vgl. Dahlke 2006, S. 34 ff.) – zu einem starken männlichen „Selbst“ werden? Die zeitgenössischen Auseinandersetzungen darüber sind inzwischen breit untersucht und dargestellt worden. Frühzeitig hatte z. B. der junge Freud-Schüler Bernfeld (1892–1953), beeinflusst von dem Schulreformer Wyneken (1875–1964) und Mitherausgeber der jugendkulturellen Zeitschrift Der Anfang, im Anschluss an Hall nachdrücklich die Eigengesetzlichkeit der Jugend und die notwendige Abkehr von den autoritären Verhältnissen in Schule und Elternhaus betont (hierzu und zum Folgenden Herrmann und Laermann in Koebner et al. 1985, außerdem Bernfeld 2010). Die Schule sei, so hieß es dort, letztlich nur ein „Lerngefängnis“, und in der Familie sei das Kind bloß „Eigentum der Eltern oder, extrem ausgedrückt, es befindet sich im Zustand der Sklaverei“. Bernfeld hatte im Frühjahr 1913 in der ersten Nummer des Anfang als Leitgedanken einer sich gegen diese Verhältnisse richtenden Jugendkulturbewegung plakativ verkündet: „Kindheit und Jugend sind nicht die zwecklosen Durchgangsstadien zum erwachsenen Menschen, sondern notwendige, in sich geschlossene Entwicklungsstufen. Jugend und Mannheit sind nicht graduelle, sondern qualitative Unterschiede. Die Jugend ist also nicht unvollkommene, unreife Mannheit, sondern ein vollkommener Zustand für sich“.

Solche Gedanken flossen mit ein in die Vorbereitung eines Ereignisses, das Mitte Oktober 1913 stattfand und einen für die damalige Zeit ungewöhnlichen Höhepunkt der nun in Gang gekommenen jugendlichen Selbstfindungsdebatte darstellte: das Freideutsche Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner, einem Bergrücken östlich von Kassel (Mogge und Reulecke 1988). Dort gelobten die über zweitausend anwesenden jungen Leute aus den akademischen Freischaren, aus Wandervogelbünden und einigen schul- und lebensreformerischen Kreisen in bewusster Absetzung vom gleichzeitig in Leipzig stattfindenden säbelrasselnden Erinnerungsfest an den hundert Jahre zurückliegenden Sieg über Napoleon feierlich und selbstsicher: „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten“ und fügten noch hinzu, dass man in Zukunft für „diese innere Freiheit geschlossen“ eintreten wolle. Dahinter stand die Vorstellung von einer zukünftigen Jugend, die – so hieß es in der Einladung zu diesem Fest auf dem Hohen Meißner – „ihr Selbst frei entwickeln (werde), um es dann dem Dienst der Allgemeinheit zu widmen“.

Wenn oben von „Bünden“ die Rede war, dann zielte dies auf die Tatsache, dass sich viele der jugendbewegten Gruppierungen im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg in einer spezifisch männerbündischen Art und Weise zusammengefunden hatten und damit, wie im einleitend zitierten Wolfenstein-Gedicht angesprochen, eine zumindest zeitweise Flucht aus der zivilisatorischen „Sumpfgemeinsamkeit“ vollziehen wollten. Männerbünde sind zwar, wie 1990 eine große ethnologische Ausstellung in Köln mit dem klingenden Titel „Männerbünde – Männerbande“ breit belegt hat (Völger und von Welck 1990), von alters her und weltweit eine in vielfältigen Formen nachweisbare Erscheinung, doch hatte das Männerbündische seit Beginn des 20. Jahrhunderts, konkret und exakt seit dem Jahre 1902, in Deutschland eine bemerkenswert eigenwillige Ausprägung mit historisch gravierenden Folgen erhalten. Auch das ist inzwischen gut untersucht worden (s. z. B. Reulecke 2001; Brunotte 2004; Bruns 2008), deshalb jetzt nur einige wenige Hinweise dazu!

Im Jahre 1902 war ein damals viel beachtetes und in den nächsten vier Jahrzehnten breit rezipiertes Buch auf den Markt gekommen, das man geradezu als Startsignal für ein neues Männlichkeitsideal bezeichnen kann: die umfangreiche ethnologische Studie von Schurtz (1863–1903) mit dem Titel Altersklassen und Männerbünde (Schurtz 1902, dazu Reulecke 2001, S. 35–46). Der Autor, der kurze Zeit später als erst Vierzigjähriger an Typhus starb, war als Angestellter des Bremer Übersee-Museums bereits weit in der Welt herumgekommen und hatte diverse Spezialstudien veröffentlicht. Den beträchtlichen Erfolg seines Werkes und die sich daran anschließende breite Diskussion seiner Kernthesen hat er also nicht mehr erlebt. Zugespitzt lässt sich wohl sagen, dass sein Buch die entscheidende Basis für alle weiteren Männerbunddebatten bis in die 1940er Jahre, also für die nächsten nahezu vier Jahrzehnte geliefert hat. Schurtz glaubte aufgrund ausgreifender Studien einfacher Völker aus den vielfältigen Erscheinungsformen von Männerbünden weltweit ablesen zu können, dass die entscheidenden historisch wirksamen Bewegungskräfte männlichen „sympathischen Vereinigungen“, also den Männerbünden entstammten: Aus ihnen gingen, so Schurtz, die wichtigsten Grundformen des öffentlichen Lebens bis hin zur Staatsbildung hervor. Die „Liebe zum Weibe“, die Ehe und die Rolle des Mannes als Familienvater seien nur Episode. Dem innersten Wesen des Mannes entspreche sehr viel mehr das männerbündische Miteinander. Schurtz wörtlich: „Hier liegt ein tiefer, kaum überbrückbarer Gegensatz zwischen Mann und Weib, der sich in tragischen Konflikten äußern kann, aber auch das Treiben des Alltags durchzieht und in Deutschland vorwiegend in dem ewigen Zwiespalt zwischen Stammtisch und Familienleben auftritt, um im Kampf um den Hausschlüssel den Gipfel kleinlicher Komik zu erreichen“ (Schurtz 1902, S. 21). Die kurz nach dem Erscheinen des Schurtz’schen Buches in großer Zahl erscheinenden, im Wesentlichen positiven Rezensionen zeigen, dass seine Thesen auf die Zeitgenossen geradezu faszinierend gewirkt haben. Ihre Wirkung lässt sich noch bis in die männerbündischen Prinzipien der NS-Formationen und der NS-Pädagogik nachweisen. Ein Schüler Gurlitts, Blüher (1888–1955), ein am Gymnasium zu Berlin-Steglitz mit dem Wandervogel in enge Berührung gekommener junger Autor, war es dann, der im Jahre 1917 als 29-Jähriger in seinem Buch Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (Blüher 1917) Kernthesen von Schurtz aufgriff, sie zuspitzte und ihnen in der Folgezeit eine neue Aktualität verschaffte – dies nicht zuletzt deshalb, weil sich nun auch massive Kritiker zu Wort meldeten, allen voran der streitbare Soziologe Plenge (1874–1963), der in seiner Schrift Antiblüher die Vorstellungen vom Männerbund à la Blüher als Propagierung eines „Affenbundes von Onanisten und Päderasten“ bezeichnete, die ein „sittlich gesundes Volk“ zu vergiften drohten und das grundlegende Werk von Schurtz „von Grund auf veräfft(en)“ (Plenge 1920, S. 3). Plenge baute dagegen als konstituierenden Elementen einer zukünftigen Männergesellschaft auf „Kameradschaft, Solidarität und Bruderschaft, und im Verhältnis zum Führer wie ähnlich zum Lehrer, [auf] echten Gefolgschaftsgeist und auf Treue“.

Blüher hatte zwei gegensätzliche erotische Beziehungsbedürfnisse des Jungmannes betont: die „Detumeszenz“ als sexuelle Begierde, die sich meist auf das Weib beziehe und oft im Orgasmus verpuffe, und die „Contrectation“, die er als das auf männliche Gesellung und auf die Sublimierung des Sexualtriebs hinauslaufende Miteinanderumgehen in der männlichen Kameraderie verstand (Blüher 1917, S. 75 f.). Der Autor, in der Wandervogelbewegung geprägt, nannte einen dieser „Contrectation“ voll entsprechenden Mann einen „Erasten“: Dieser Typ könne sich z. B. im jugendbewegten Jungmännerbund in besonderer Weise entfalten und bewähren: „Mit seinem oft hymnischen Freundschaftsdrange“ gebe er „den Jugendbewegten die eigentliche Grundfarbe“. Jungmännerbünde, so schrieb Blüher kurz nach der Veröffentlichung des oben zitierten Wolfenstein-Gedichts ebenfalls im Aufbruch, seien das „geschärfteste Organ zur Vergeistigung des Volkes“ (Blüher 1915). Das vergangene liberale Kulturzeitalter habe sich den geistigen Funktionswert der Männerbünde verscherzt, indem es durch eine voreilige Gleichsetzung von Mann und Weib das „gemischte Publikum“ geschaffen habe. Dagegen gebe im Männerbund der überlegende, charismatische Männerheld Geist nach unten weiter und schaffe auf diese Weise einen „Kasten-Ausgleich“. Deshalb rief er zu einer „Sozialisierung des Geistes“ auf, wobei er die Jugendbewegung als einen zentralen Startplatz für eine solche Sozialisierung ansah.

Die im Anschluss an das Buch von Schurtz in Gang gekommene breite Debatte über die Männerbundfrage, zugespitzt und weitergeführt im Anschluss an Blühers provozierende Thesen, ließe sich jetzt mit vielen weiteren klingenden Zitaten bis hin zu Alfred Bäumler, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler verfolgen, doch wäre das lediglich eine ideen- bzw. geistesgeschichtliche Schneise der damit angesprochenen Problematik im frühen 20. Jahrhundert. Die hier zu stellende Frage richtet sich jedoch eher auf die erfahrungsgeschichtliche und z. T. auch psychohistorische Bedeutung der Männerbundprägungen v. a. zweier Alterskohorten, nämlich einerseits der in den späten 1880er bzw. in den 1890er Jahren geborenen jungen Frontsoldaten und andererseits der Kriegskinder des Ersten Weltkriegs, geboren 1902 bis etwa 1913.

Die empathische Männerbundsehnsucht à la Wolfenstein fand nach Kriegsbeginn zunächst einmal in der Frontkameradschaft eine in dieser Form nicht vorausgeahnte Erlösung, auch wenn ihr nicht in allen jugendbewegten Kreisen unisono zugestimmt wurde. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld um die Zeitschrift Der Anfang wandten sich z. B. voller Empörung von ihrem bisherigen Ideengeber Gustav Wyneken ab, nachdem dieser in einer Broschüre die junge Generation zur Verteidigung des Deutschen Reiches aufgefordert hatte (dazu Sautermeister in Koebner et al. 1985, außerdem Dudek 2002). Benjamin sprach von einem „fürchterlichen scheußlichen Verrat“, und ein Hans Reichenbach schrieb an Wyneken: „Ihr Alten, die Ihr uns diese erbärmliche Katastrophe eingebrockt habt, Ihr wagt es überhaupt noch, uns von Ethik zu sprechen […] Ihr habt das Recht verwirkt, unsere Führer zu sein. Wir verachten Euch und Eure Zeit!“ (ebd.). Ganz allgemein lieferte jedoch die Kriegserfahrung für die weitere Ausbreitung einer Männerbundidealisierung eine erhebliche Schubkraft. Männliche Tugenden waren nun in besonders nachdrücklicher Weise gefordert: Tapferkeit und Härte, Treue und eiserner Wille, Kameradschaft und Liebe zum Volk sowie Einsatzbereitschaft bis zum Opfertod. Das Rauschhafte, ganz und gar nicht Rationale dieses Vorgangs kommt z. B. in einem Kriegsgedicht des 1892 geborenen Dichters Heinrich Zerkaulen (zit. n. Böhme 1934, S. 11) deutlich zum Ausdruck:

Aus zieh ich meiner Jugend buntes Kleid

und werf es hin zu Blumen, Glück und Ruh.

Heiß sprengt das Herz die Brust mir breit,

der Träume Türen schlag ich lachend zu.

Ein nacktes Schwert wächst in die Hand hinein,

der Stunden Ernst fließt stahlhart durch mich hin.

Da steh ich stolz und hochgereckt allein

Im Rausch, dass ich ein Mann geworden bin.

Beim Fronteinsatz, in der Schützengrabengemeinschaft, schlug dann die große Stunde des Männerbundes: „Langemarck“ sollte der neue sinnstiftende Mythos werden, mit dem dann die folgende Jungmännergeneration ein Vierteljahrhundert später erneut in einen Krieg geschickt wurde. Im Schützengraben erhielt jetzt infolge des krassen Ausgeliefertseins das mannmännliche Miteinander eine oft höchst emotionalisierende Bedeutung – schon im Weltkrieg, besonders aber dann seit den frühen 1920er Jahren für Millionen Leser idealisiert und nachvollziehbar gemacht durch den Bestseller von Flex (1887–1917), Wanderer zwischen beiden Welten. Unmittelbar nach Kriegsende schien aber zunächst für viele besonders jüngere Frontsoldaten diese emotionale Heimat verloren gegangen zu sein: Desillusioniert kehrten sie zurück und fanden sich im Alltag oft nicht mehr zurecht. „Zur Heimat fliehn, die keine Heimat haben; zur grauen Zukunft zieht das graue Heer“, heißt es in einem Gedicht des 1890 geborenen Soldaten Fritz Woike, und Otto Paust (geboren 1897) schrieb (beide Texte ebd., S. 32 ff.):

Wir schauen fremd uns in der Heimat um,

gehören nicht in Freude und Genuss,

gehören nicht in Alltagsmenschentum:

Um uns ist noch ein kalter Todesgruß.

Die Wiedereingliederung der zurückkehrenden Soldaten stellte zwar auch in anderen Ländern ein beträchtliches Problem dar, das v. a. psychische Dimensionen besaß. Spezifisch deutsch war jedoch, dass sich hier in jenem emotionalen Vakuum nach dem Krieg die Freikorps und weitere paramilitärische Organisationen wie der Jungdeutsche Orden unter Artur Mahraun (1890–1950) ansiedelten und den entwurzelten jungen Frontsoldaten neuen Halt und Sinn sowie die Weiterführung der kämpferischen Männergemeinschaft versprachen. Nicht zuletzt auch eine Reihe von vor dem Krieg in der Jugendbewegung geprägten jungen Männern stand jetzt vor der Frage, ob und wie das jugendbewegt Männerbündische der Vorkriegszeit weitergeführt werden könnte. Sie gründeten z. T. neue Bünde wie z. B. die Zwillingsbrüder Robert und Karl Oelbermann den „Nerother Wandervogel“ oder reformierten bzw. revolutionierten die noch bestehenden Bünde.

Um die Art der durchweg stark gefühlsbeladenen Auseinandersetzungen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und ihre oft langfristig nachwirkenden Auswirkungen an einem exemplarischen Beispiel vorzuführen, soll im Folgenden kurz auf die Entwicklung im deutschen Pfadfindertum eingegangen werden. Zur Vorgeschichte: Neben den Wandervögeln und den aus den Wandervogelbünden hervorgegangenen akademischen Freischaren hatte in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg – angeregt durch den englischen Kolonialoffizier Lord Robert Baden-Powell – auch das Pfadfindertum einen erheblichen Aufschwung genommen, dies seit 1909, als in München erste Scout-Gruppen gegründet worden waren. Die Wandervögel betrachteten die Pfadfinder zwar mit gewisser Neugier, aber auch mit deutlichem Abstand; sie galten allenfalls als „arme Verwandte der Jugendbewegung“ – von Erwachsenen, meist von Offizieren geleitet und auf eine paramilitärische Ausbildung ausgerichtet (zit. n. Laqueur 1983, S. 141). Der militärische Drill, die Schulmeisterei der oft schon betagten „Feldmeister“ und die ausgeprägte hierarchische Ordnung sowie der stark „moralische Beigeschmack“ der Pfadfindererziehung störten die jugendbewegten Wandervögel und Freideutschen und provozierten sie zu herablassend-ironischen Urteilen über diese „Jugendpflegerei“, während man sich selbst ja als eine selbstbestimmte „Bewegung“ verstand. Bei einem ersten großen Pfadfindertreffen in der Nachkriegszeit Mitte 1919 auf Schloss Prunn bei Regensburg startete dann eine engagierte Reformbewegung, getragen von mehreren jungen Frontsoldaten, um das Pfadfindertum aus seinem bisherigen Jugendpflegestil in eine „Jugendbewegung“ zu überführen. Die Wortführer, allen voran der 1894 geborene Franz Ludwig Habbel, profilierten sich von nun an als Erneuerer und kritisierten die älteren Feldmeister, die z. B. immer noch erwarteten, dass man sie siezte und vor ihnen stramm stand. „Werdet eine Jugendbewegung“, lautete jetzt der Aufruf der Reformer, die sich von nun an „Gesinnungspfadfinder“ oder „Neupfadfinder“ nannten. Immerhin konnten sich die beiden Pole auf Schloss Prunn noch auf ein gemeinsames Gelöbnis einigen. Es lautete: „Wir Pfadfinder wollen jung und fröhlich sein und mit Reinheit und innerer Wahrhaftigkeit unser Leben führen. Wir wollen mit Rat und Tat bereit sein, wo immer es gilt, eine gute und gerechte Sache zu fördern“, und dann im dritten Satz programmatisch: „Wir wollen unseren Führern, denen wir vertrauen, Gefolgschaft leisten“ (s. Dokumentation 1974, S. 389 ff.). Von Feldmeistern war nun keine Rede mehr. Ludwig Voggenreiter, ein enger Vertrauter von Habbel, hat diese zwar für die Wandervogelbewegung relativ selbstverständliche, für Pfadfinder jedoch etwas Neues darstellende Formulierung für einen entscheidenden Fortschritt gehalten: „Endlich einmal ist der Irrtum offen klargelegt, der in Führerabstufungen, Führerernennungen und ähnlichen naturwidrigen Maßnahmen liegt. Es ist unmöglich, einen zum Führer zu machen, wenn er keiner ist, denn er muss dazu geboren sein. Unsinnig ist es, den Ehrgeiz anzustacheln, um gute Führer zu bekommen. Wer Führer ist, wird sich trotz aller Hemmungen durchsetzen“ (zit. n. Siefert 1963, S. 35).

Ein hier wie auch in vielen anderen Bereichen des damaligen Jugendlebens ins Zentrum der Debatten rückender und schließlich vielfältig aufgeladener Kernbegriff war von nun an der Begriff „Führer“. Dazu unten weitere Ausführungen, doch vorab sollen noch einige Hinweise zur weiteren Entwicklung des Pfadfindertums folgen: Das Hin und Her zwischen den Traditionalisten und den „Neupfadfindern“ zog sich noch bis zum Frühjahr 1920 hin, bis es dann in Naumburg bei einem weiteren großen Pfadfindertreffen zum Bruch kam. Dort hatte sich auch eine andere Erneuerergruppe aus dem Berliner Raum eingefunden, die sich „Jungdeutsche Pfadfinderschaft“ nannte und von dem jungen Pfarrer Martin Voelkel geleitet wurde. Sie trat nun mit Habbel und seinen Leuten in engere Verbindung. Voelkels charismatische Persönlichkeit und sein Auftreten in Naumburg – er war damals 36 Jahre alt – faszinierten die etwa zehn bis fünfzehn Jahre jüngeren Neupfadfinder: „Da hatte keiner mehr Zeit, über Unterschiede und Richtungen nachzudenken. Da war zum erstenmal unter den Jünglingen der jünglinghafte Mann, und was hätten sie anders tun können, als ihm zu verfallen?“, fragte Habbel aus der Rückschau (Dokumentation 1974, S. 401). Was bisher eine Addition jugendpflegerischer Pfadfindergruppierungen gewesen war, wuchs in der Folgezeit zu einem jugendbewegten „Bund“ zusammen. Wie diese Naumburger Geburtsstunde dieses Bundes aussah, soll jetzt wegen der offenbar mitreißenden Gefühligkeit des damit verbundenen mannmännlichen Erlebens – wenn man so will: der männlichen „Contrectation“ im Sinne Blühers im Hinblick auf einen „Erasten“ – etwas ausführlicher dargestellt werden (Habbel 1920, S. 226).

Da gegen Ende des Naumburger Treffens den Erneuerern die Situation völlig verfahren zu sein schien, saß Voelkel allein an einem Hang und barg – so Habbel – „erschüttert seinen Kopf in den Händen“. Doch dann kam es noch zu einer Wende infolge der spontanen Idee eines Freundes von Habbel, der diesen aufforderte, Voelkel zu fragen: „Willst du unser Führer sein?“ Voelkel antwortete auf dessen Frage: „Wir wollen’s zusammen sein!“ Was dann folgte, soll wörtlich zitiert werden, weil darin ein völlig neuer, nämlich „bündischer“ Stil des Miteinanderumgehens unter den Pfadfindern sichtbar wird:

Da sagte ich: Ich will Dir dienen, Martin Voelkel! Und das Herz wurde mir leicht, da ich die Last von meinen Schultern genommen sah und unser heißester Wunsch in Erfüllung gegangen war. Da bildeten die andern einen Kreis um uns, voll Glück über ihre Führer und huldigten ihnen. Unzählig waren die Händedrücke und die tiefen Blicke, die sich ineinander bohrten, Treue gelobend. […] Und da sprach Hans Fritzsche zu mir, der ich unser Volk zu diesem Tag gerufen hatte, und dankte mir durch ein Heil. […] Das wusste auch ich ihm zu danken und schloss ihn in meine Arme, als er dem Kreis um den Holzstoß den Heilruf gebot […].

Das ist zwar höchst gefühlvolles Pathos, drückt aber eine offenbar mitreißende Gefühlslage aus, die von nun an mit den in spezifischer Weise aufgewerteten Begriffen „Führer“, „Bund“ und „Treue“ verbunden war. Das einerseits von den sich von nun an als „Jugendbewegte“ verstehenden Führern der Neupfadfinder immer wieder beschworene Zusammenspiel dieser drei Begriffe und andererseits die bei den heranwachsenden Knaben ab etwa 12/14 Jahren starke Gefühligkeiten erweckenden Stilformen, Verhaltensnormen und Riten des bündischen Gruppenlebens, wie sie in den meisten übrigen Bünden der bürgerlichen Jugendbewegung bereits üblich waren, waren es dann, die die sich immer ausschließlicher als reine Jungmännerbünde verstehenden Gruppierungen in der Folgezeit auszeichneten. Anzumerken ist, dass für viele der hiermit in Berührung kommenden Knaben solche in der Zeit ihrer Adoleszenz gemachten Erfahrungen lebenslang prägende Folgen hatten und die Gruppen der bürgerlichen, aber auch der z. T. davon angeregten Arbeiterjugendbewegung für eine nicht unbeträchtliche Zahl unter ihnen an die Stelle der Familie traten bzw. die Führer Ersatz für den im Krieg gefallenen Vater waren. Von Willy Brandt ist z. B. das Urteil überliefert: „Mir hat die Jugendbewegung viel bedeutet – durch die Gemeinschaftserlebnisse, wohl auch als Familienersatz und gewiss auch als Boden persönlicher Erprobung“ (Brandt 1982, S. 25 f.).

Das ehemals eher spielerisch-romantische und abenteuerliche Gruppenleben der Wandervögel und die früheren militärisch-disziplinierenden Formen des Pfadfindertums gehörten der Geschichte an. Einer der pfadfinderischen Wortführer hat rückblickend aus dem Jahre 1934 in einem von Will Vesper herausgegebenen Sammelband mit bündischen Selbstverortungen im Hinblick auf das nun startende NS-Regime das Geschehen ab etwa Mitte der 1920er Jahre folgendermaßen charakterisiert (Mattusch in Vesper 1933, S. 109): Das über allem schwebende Ziel sei seither eine neue Art „Bund“ gewesen – ein „Bund, gestützt auf starke und fest gefügte Gaue, deren gestaltende Führer und tragende Jungen durch eine lange Kette von Freundschaft miteinander verbunden sind […] So stellte unser Leben – durchaus abweichend vom (ehemaligen) Wandervogeltyp – einen neuen Menschentyp heraus mit anderem Lebensstil und anderer Haltung: den Tatsachenmenschen […] Organisatoren, Eroberernaturen […] diese Menschen müssen den Bund tragen“.

Es böte sich jetzt an, weiter zu verfolgen, wie verschiedene NS-Organisationen von der Hitlerjugend und dem Jungvolk bis hin zur SS und zur Gestapo in Form einer „Piraterie“ manche Anregungen aus dem jugendbündischen Leben der Weimarer Zeit aufgegriffen und für ihre Zwecke nutzbar gemacht haben. Das wäre jedoch lediglich eine organisations- und auch ideengeschichtliche Schneise. Stattdessen soll abschließend ein knapper erfahrungsgeschichtlich-psychohistorischer Versuch zur Einordnung des Geschehens unternommen werden. Die Anmerkung, dass häufig der jugendbewegte Führer für die Kriegskinder des Ersten Weltkriegs angesichts weit verbreiteter Vaterlosigkeit – sowohl ganz konkret und individuell als auch bezogen auf die von Federn (1919), einem Wiener Schüler Sigmund Freuds, insgesamt als eine „vaterlose“ bezeichnete Gesellschaft – bedeutsam war, wies ja bereits in diese Richtung. Das Gruppen-, Fahrten- und Lagerleben der bündischen Jugend, ihr Liedgut, ihre intensive Lektüre spezieller Literatur von Hölderlin und Nietzsche über George, Rilke und Flex bis zu Hesse und Jünger, kurzum: ihre vielfältigen emotionalen wie geistig-psychischen Impulse waren, wie eine Vielzahl von autobiographischen Quellen belegt, von oft umfassender adoleszenzprägender Bedeutung. Um in exemplarischer Absicht einen Berichterstatter darüber etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen: Szczesny (1918–2002), in den 1960er Jahren Gründer der Humanistischen Union, hat über die ihn prägenden Erfahrungen folgendermaßen berichtet: Das bündische Leben, wie er es Ende der 1920er Jahre erlebt habe, sei auf einen speziellen Typus „Jüngling“ hinausgelaufen. Als Eigenschaften, die man von ihm erwartete, nennt Szczesny „Tapferkeit und Standhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Großherzigkeit, Gelassenheit und Duldsamkeit, die Fähigkeit zu Freundschaft und Liebe“ (1990, S. 71 f.). Ein programmatisches Schlagwort in den um 1930 erheblichen Einfluss gewinnenden Jungenschaften – nach den Wandervögeln der Vorkriegszeit und der Bündischen Jugend der 1920er Jahre die dritte Welle der Jugendbewegung – lautete nicht zufällig „Selbsterringung“. Zwar engagierte sich eine Reihe von Jugendbewegten schließlich, oft aus anfänglich krasser Fehleinschätzung ihrer Einflussmöglichkeiten, im totalen Regime des Nationalsozialismus, wie z. B. die in den vergangenen Jahren geführten Diskussionen über die beiden bekannten Historiker Theodor Schieder und Werner Conze belegt haben, doch war es – wie Szczesny schreibt – ein „naiv-individualethischer Idealismus“, der viele von ihnen letztlich doch gegen allzu krasse Forderungen von

Faschismus, Nazismus, Kommunismus und (sonstigen) Totalitätsansprüche stellenden Politizismen immun machte. Wer auf Fahrt ging oder ein Lager mitmachte, wollte nicht eine gesellschaftliche Heilslehre erproben, sondern mit sich selbst Erfahrungen machen; er wollte empfindsamer, einsichtiger, mutiger, unabhängiger von Bequemlichkeit und Begehrlichkeit werden. Nur nach einer kurzen Übergangsphase unmittelbar vor und nach 1933, in der Hitler und seine Bewegung patriotische Ziele vortäuschten und ihre Kritik an den Weimarer Zuständen idealistisch missverstanden werden konnte, haben sich rechte Jugendführer und Jugendgruppen freiwillig der Hitlerjugend und dem Deutschen Jungvolk angeschlossen. Dann kam sehr rasch die Ernüchterung und der erbitterte Vernichtungsfeldzug Baldur von Schirachs gegen die ‚bündischen Hunde‘.

Von zentraler Bedeutung im bündischen Gefühlsleben war das Liedersingen v. a. am Lagerfeuer und in der Kohte, d. h. dem von den Jungenschaften nach lappischem Vorbild eingeführten Feuerzelt. Einerseits waren es mitreißende Landknechts-, Seeräuber- und Kosakenlieder zur Gitarre, manchmal auch zur Balalaika oder zum Banjo, andererseits – wenn dann das Feuer allmählich niedergebrannt war – nach dem Motto von Friedrich Gundolf, „Schließ Aug und Ohr für eine Weil’ vor dem Getös’ der Zeit: Du heilst es nicht und hast kein Heil, als wo Dein Herz sich weiht“ – stimmungsvolle und z. T. hochsentimentale Gesänge und Balladen. Alle solche Lieder und die am Lagerfeuer erzählten Geschichten waren – so Szczesny (1990, S. 73) – „romantische Chiffren für unser Bedürfnis nach Abenteuer und Risiko, nach einem intensiveren Leben, als wir es zu Hause und in der Schule führen mussten“. Zwar habe man sich manchmal von einem „großen Strom der Sentimentalität“ tragen lassen, der z. B. von alten Volksliedern mit ihren Themen, z. T. „wehleidig überzogen“, ausgelöst worden sei. Dennoch sei dadurch eine „bewegende (und menschlicher machende) Wahrnehmung“ erzielt worden: eine „Empfindung der Vergeblichkeit, der Vergänglichkeit und des unvermeidbaren Abschieds“. Hieraus ergibt sich, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl in den jugendbewegten Gruppen nicht Folge der Auslieferung an ein politisches Programm war, sondern auf einer „Lebensstimmung“ beruhte und eine quasi-religiöse Dimension besaß: Den Heranwachsenden wurde auf diese Weise (das ist die eine Seite der Medaille) in ihrer Adoleszenzphase eine Ahnung von der Rätselhaftigkeit und Offenheit der Welt vermittelt; andererseits konnten sie aber auch in die Gefahr geraten, von einem Gefühlsüberschwang ergriffen ihr „Selbst“ aufzugeben und sich nach dem HJ-Motto „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ umfassenden Ideologien zu unterwerfen.

Dass in dieser vielfältig herausfordernden Erfahrungswelt der jeweilige „Führer“ eine entscheidende Rolle spielte, liegt auf der Hand. Nicht nur war, wie bereits betont, die Führerfrage in den verschiedenen jugendbewegten Kreisen seit dem Kriegsende ein Kernproblem, sondern auch die geistigen Köpfe aus Philosophie und Pädagogik hatten seit Mitte der 1920er Jahre begonnen, sich mit der Alternative „Führen oder Wachsenlassen“ – so der Titel einer noch 1967 in 13. Auflage nachgedruckten Schrift des Kulturphilosophen und Erziehungswissenschaftlers Litt (1880–1962) aus dem Jahre 1927 – auseinander zu setzen. Der Jugendbewegung bescheinigte der Verfasser in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, dass sie sich inzwischen von dem anfangs vehement vertretenen Prinzip des individuellen Wachsenlassens abgewandt habe. Das Wachsenlassen sollte zwar, so Litt, weiterhin eine wichtige Rolle spielen, jedoch nicht irgendwie ziellos, sondern zielgerichtet in eine sich von einer „verworrenen Gegenwart“ abwendenden Zukunft erfolgen. Hierbei sei es günstigenfalls der Führer, der in der Lage sei, dem Heranwachsenden den Blick auf das zu richten, „was als Verheißung der Zukunft vor ihm auftaucht. [Er reißt] die Jugend, die ihm anvertraut ist, sich nach und dem lockenden Ziel entgegen. Denn eben dies ist es doch, was den ‚Führer‘ zu dem macht, was sein Name besagt. Er weiß, wo das Ziel liegt, er kennt den Weg, auf dem man zum Ziel gelangt, und schreitet kraft dieser Überlegenheit denen voran, die solchen Wissens noch ermangeln“ (Litt 1927, S. 20).

Jene Jugend, die zunächst den Erziehungsstil des Kaiserreichs mit seiner Suggestion und seinen Formen massiven Zwanges bekämpft und das Recht des selbstbestimmten Wachstums eingefordert habe, beginne sich jetzt, so glaubte Litt in den Gruppierungen der Bündischen Jugend festgestellt zu haben, darauf zu konzentrieren, ein Führertum einzufordern, das die kommende Gestalt des Lebens aus eigener Verantwortung in die „Wirklichkeit“ zu überführen helfe! Der „Führer“, so könnte man in Anschluss an Litt etwas ironisch sagen, sollte also so etwas wie ein begeisternder „Überführer“ in eine selbstbestimmte „Selbstverwirklichung“ sein. Eine solche Deutung des Führens in den jugendbewegten Zusammenhängen verwandelt also das „oder“ in Litts Buchtitel in ein differenzierendes „und“. Diese Auslegung zielt in eine durchaus andere Richtung als in jene, welche dann wenig später die Nationalsozialisten unter dem „Führen“ verstanden und durch ihre „Piraterie“ bündischer Formen und z. T. auch der jugendbewegten Begrifflichkeit seit Mitte 1933 radikal umzusetzen begannen. Ihr Führen lief auf eine Dressur zu „Dienst und Opfer“ hinaus, zu einer kompletten Aufopferungsbereitschaft also! Die Idee der HJ, so hat es von Schirach (1934, S. 16) programmatisch ausgedrückt, sei „eine Kameradschaft jener Deutschen, die nichts für sich wollen. Weil sie nichts für sich wollen, können sie alles für ihr großes Volk: keine Generation mit neuen Rechten – eine Generation der harten Pflichterfüllung!“

Vorausgegangen war in der Spätphase der Weimarer Republik eine sich weiter zuspitzende Auseinandersetzung mit der Vätergeneration. Das Argument, die Väter hätten durch ihr Versagen das Erbe und damit die Zukunft ihrer Söhne verspielt, war jetzt immer häufiger zu hören, nachdem Gregor Strasser 1927 die demagogische Forderung erhoben hatte: „Macht Platz, ihr Alten […], ihr Ehrlosen und Gemeinen, ihr Verräter und Feiglinge!“ (Strasser 1932, S. 171–174). Peter Suhrkamp (1932, S. 969) spitzte kurze Zeit später diese radikale Zeitdiagnose noch weiter zu, indem er lapidar feststellte: „Der Vater ist tot!“ Er meinte damit, dass das „System von Weimar“ den nachwachsenden Generationen letztlich keine überzeugenden „Väter, Lehrer und Meister“ mehr bereitgestellt habe, die junge Generation also einem von den Vätern verschuldeten Chaos preisgegeben und nun zu einem „mit Jammer, Hass und Wut und edler Empörung geladenen Material“ geworden sei, „bereit für jede Revolution“. Durch eine Revolution, verkündeten dann junge Frontkämpferkreise, müsse die „Republik der Greise“ hinweggefegt und im Zusammenwirken der Frontgeneration mit der nachfolgenden Generation ein neues, ein „Drittes Reich“ geschaffen werden. Da eine vaterlose Jugend, so hieß es schließlich 1934, immer zugleich auch eine staatenlose sei, müsse vor allen den entwurzelten Söhnen, deren aus dem Krieg zurückgekommenen Väter oft nur noch „Zerbrochene, Wehleidige, Klagende oder Erstarrte“ seien, vom NS-Regime ein Übervater in der Gestalt des Führers Adolf Hitler angeboten werden (Rauch 1934, S. 19 f.). Diese Vorstellung wurde in einer im selben Jahr erschienenen Greifswalder Dissertation mit dem Titel „Die bündischen Elemente in der deutschen politischen Gegenwartsideologie“ programmatisch noch weiter zugespitzt, indem gefordert wurde, unter der „echt bündischen Führung“ Hitlers müsse jetzt das ganz Volk zu einer bündischen Gefolgschaft werden (Kost 1934, S. 76). Deren Zusammenhalt beruhe nicht auf äußerem Zwang, sondern „auf dem inneren Gleichklang zwischen Führer und Geführten“ und sei „begründet auf einem tief inneren Mitschwingen“. Das ehemals in der Jugendbewegung auf einen überschaubaren Bund von Auserwählten bezogene Prinzip des Bündischen wurde nun zwar durch den Nationalsozialismus pervertiert, was der Verfasser auch erkannte, aber positiv interpretierte: Seine Deutung lautete jetzt: „Das bündische Prinzip von Führung und Gefolgschaft erlebt hier seine großartigste Ausweitung: Ein ganzes Volk wird bündisch ausgerichtet und bildet und lebt einen großen Bund“. Allerdings gebe es in ihm einen zweiten, einen inneren „bündischen Körper“, und dieser werde geschaffen durch die nationalsozialistischen Eliteverbände, zu verstehen als männerbündische Orden, deren Glieder auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden seien und so „in Opferbereitschaft und Entsagung, in herben soldatischen Formen der Lebensführung“ den Volksstaat garantierten.

Die entscheidende Schulungsstätte für den in solcher Weise zu disziplinierenden jungen Mann war das Lager. Hatten in wachsendem Ausmaß in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre schon die Bündische Jugend ebenso wie die verschiedenen soldatischen Verbände in ihren Zeltlagern ihr jeweiliges Wir-Gefühl ausgelebt, so wurde das Lager seit 1933 geradezu zu einem Massenphänomen – für Jugendliche ebenso wie für alle angehenden Funktionsträger wie z. B. Lehrer, Rechtsreferendare, junge Mediziner usw. (Steinacker 2007, bes. S. 477–484). Hier im Lager ging es um Bewusstseinsänderung und klare ideologische Ausrichtung – eine den Teilnehmern quasi übergestülpte Kameradschaft war das Vehikel dazu. Sebastian Haffner (1907–1999) hat in seinen in der englischen Emigration 1939 niedergeschriebenen, vor wenigen Jahren erst entdeckten und postum veröffentlichten Memoiren eindrucksvoll berichtet, wie es in einem solchen Lager zuging (Haffner 2002, S. 255, zum Folgenden s. ebd., S. 278–282). Als Rechtsreferendar war er im Herbst 1933 zu einer Teilnahme an einem Lager bei Jüterbog zwecks „weltanschaulicher Schulung“ verpflichtet worden. Anfangs fand Haffner das Erlebnis eher amüsant, denn man wollte ja eigentlich nur das Assessorexamen machen, zu dessen Vorbereitung ein solcher Lageraufenthalt verordnet worden war, doch stellte er dann aus der Rückschau auf seine Erfahrungen fest: „Noch heute wird mir schwindelig, wenn ich diese Situation durchdenke. Sie enthielt in einer Nussschale das ganze Dritte Reich“. Was wie ein Spiel mit dem Singen von Marschliedern und Marschübungen begann, entpuppte sich nämlich bald als massive Manipulation, bei der – so Haffner – „das Gift der Kameradschaft“ eine entscheidende Rolle spielte. „Indem wir uns auf das Spiel einließen, das da mit uns gespielt wurde, verwandelten wir uns ganz automatisch – wenn nicht in Nazis, so doch in brauchbares Material für die Nazis,“ lautete ein Fazit: Zum „Kameraden“ gemacht zu werden, sei ein „Lockmittel“ und „großer Köder der Nazis“ gewesen, um die jungen Männer „vom widerstandslosesten Alter an an dieses Rauschmittel“, also die Kameraderie des NS-Männerbundes, zu gewöhnen. „Sie haben die Deutschen mit diesem Kameradschafts-Alkohol, nach dem irgendetwas in ihnen verlangte, bis zum Delirium tremens überschwemmt“. Was vorher von manchen Beteiligten als ein „Glück der Kameradschaft“ in jugendbewegten Zeltlagern erlebt worden sei, habe sich durch den Zugriff der Nazis zu einem „der furchtbarsten Mittel der Entmenschlichung“ entwickelt. Diese Art von Kameradschaft in den Lagern der Nazis habe wie Gift gewirkt, „alle Elemente von Individualität und Zivilisation“ zersetzt und das Gefühl der Selbstverantwortung völlig beseitigt, weil dort keine Gedanken mehr hätten gedeihen können, sondern nur „Massenvorstellungen primitivster Art“. Was dann diese spezielle NS-Kameradschaftserziehung im Zusammenleben der Soldaten in der Kriegsendphase, besonders wenn Zweifel am „Endsieg“ geäußert wurden und diese zu Denunziationen von Kameraden führten, bewirkt hat, hat Kühne folgendermaßen auf den Punkt gebracht (2003, S. 278): „Der soziale Kitt der Volksgemeinschaft in der Endphase des verbrecherischen Krieges war ein unauflösbares Amalgam aus Vertrauen und Misstrauen in den Führer wie in die Kameraden“. Allenfalls im Zustand der „absoluten Wurstigkeit“ sei dieses Durcheinander noch zu ertragen gewesen.

Anfangs optimistisch als „Jahrhundert des Kindes“ und „Jahrhundert der Jugend“ begrüßt, verkam es also in seiner ersten Hälfte zu einem Jahrhundert krass übersteigerter, im Extremfall dann mörderischer Männlichkeits- und Männerbundfixierung. Nur abschließend noch angemerkt, ohne darauf hier noch eingehen zu wollen: Welche psychohistorischen, z. T. geradezu traumatischen Spuren dieses Erbe bei den nachfolgenden Generationen hinterlassen hat, zeigen nicht zuletzt diverse aus den Psychowissenschaften, der Erfahrungsgeschichte und der historischen Bildungsforschung stammende Studien aus den letzten Jahren. Wie heißt es doch im Alten Testament: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetaten der Väter an den Kindern heimsucht bis ins dritte und vierte Glied“ (2 Mose 20.5, nach der Lutherübersetzung).