Viele, wenn auch nicht alle Emotionstheorien stimmen dahingehend überein, dass der menschliche Säugling (und nicht nur er) mit einer bestimmten emotionalen Grundausstattung zur Welt kommt. Außerdem gehen zahlreiche Ansätze darauf ein, dass kulturelle Einflüsse zur Veränderung und Formung dieser angeborenen Anlagen beitragen. Wie die Bildung bzw. Formung der Emotionen, die mit der Identifizierung bestimmter Emotionen einhergeht, von statten geht und welchen Anteil soziales Miteinander und kulturelle Einflüsse darauf haben, ist hinsichtlich der einzelnen Emotionstheorien allerdings durchaus unterschiedlich. Dementsprechend unterschiedlich ist es auch, welchen Einfluss das soziale Miteinander auf die Bildung der Gefühle,Footnote 1 auf ihre Identifizierung und auf die Emotionsregulierung hat, und damit einhergehend, welche Bedeutung der Spracherwerb für Formung, Bestimmung und Beherrschung von emotionalen Prozessen hat.

Dass in einer sozialen Gemeinschaft erst gelernt werden muss, die eigenen emotionalen Empfindungen zu identifizieren, wozu Begriffsfähigkeit erforderlich ist, wird meist gar nicht gesehen. Auf Grund dieses Mankos wird allerdings auch nicht diskutiert, inwiefern dieser Lernprozess, der es erst ermöglicht, die eigenen emotionalen Empfindungen bestimmen und einordnen zu können, erforderlich ist, um die emotionalen Ausdrucksnuancen von anderen und die daraus resultierenden Handlungsmuster richtig verstehen zu können.

1 Verschiedene Emotionstheorien und die Berücksichtigung kultureller Einflüsse

1.1 Evolutionstheoretische Emotionstheorien

Evolutionstheoretische Theorieansätze gehen zumeist auf Charles Darwins Überlegungen zurück, die er in seinem Buch The Expression of the Emotions in Man and Animal von 1872 dargelegt hat. Dort stellt er die Frage, ob wir die Mimik, die wir zeigen, wenn wir traurig sind, fröhlich oder wütend, erlernt haben oder ob sie ererbt ist. Zwar interessiert ihn dieses Problem im großen Kontext seiner Evolutionstheorie, doch wenn er zu zeigen versucht, dass die verschiedenen Ausdrucksformen und das mit ihnen einhergehende emotionale Empfinden vererbt und nicht erworben sind, verfolgt er damit auch ganz spezielle gesellschaftspolitische Interessen. Zum einen möchte er nachweisen, dass zusammen mit dem emotionalen Ausdruck (der schon nach Darwin Mimik, Laute, Körperhaltung und Bewegung umfasst) auch das phänomenale Empfinden eine evolutionäre Geschichte hat, die bereits in der Tierwelt nachweisbar ist, aber auch, dass es hinsichtlich des emotionalen Ausdrucks und den damit einhergehenden Gefühlen keine Unterschiede zwischen den Rassen und den Geschlechtern gibt.

Der Nachweis der Evolutionsgeschichte der Emotionen hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Emotionsausdruck und Empfinden nach Darwin immer zusammen auftreten und man, da der Ausdruck sich in der Evolution der Organismen herausgebildet hat, zudem davon ausgehen kann, dass sich auch das phänomenale Empfinden in der Evolution herausgebildet hat. Wesentlich ist für Darwin, und in dessen Nachfolge auch für Paul Ekman und seine Schule (Ekman 1972), dass bei so genannten Basisemotionen, die universal bei allen Menschen gleich auftreten, also angeboren sind, stets ein unmittelbarer Zusammenhang von Gefühlsausdruck und Gefühlsempfindung besteht.

Da sich die Universalität aus der gemeinsamen Evolutionsgeschichte ergibt, sind emotionale Ausdrucksformen (und man darf annehmen, damit einhergehend auch das emotionale Empfinden) für Darwin auch nicht durch Kultur, soziale Umgangsformen oder Sprache geprägt. Prosodie und sprachlicher Ausdruck folgen nach Darwin eher den angeborenen emotionalen Empfindungen, als dass Empfindungen bzw. Emotionen von Sprache geformt wären.Footnote 2

Folgte man einem solchen Ansatz, wären sowohl Emotionsausdruck als auch Emotionsempfindung angeboren und es wäre dementsprechend determiniert, was man sich an emotionalen Zuständen und Situationen vorstellen kann. Um einen universalistischen Ansatz zu belegen, werden von Darwin allerdings kulturelle Dokumente wie die Werke Homers oder die Bibel herangezogen, um zu zeigen, dass der Emotionsausdruck auch zu den damaligen Zeiten derselbe war wie zu seiner eigenen.

1.2 Neurophysiologische Emotionstheorien

Anders verhält es sich hinsichtlich kultureller Formung von Emotion hingegen bei den Theorien, die Emotionen als so genannte angeborene Affektprogramme (innate affect program) verstehen. Auch im Rahmen dieser Theorien wird davon ausgegangen, dass die biologischen Anlagen für den emotionalen Ausdruck und das emotionale Empfinden angeboren sind, aber eben nur im Sinne eines Programms, das Vorgaben macht, deren Umsetzung nicht im Einzelnen determiniert ist.

Dieser Ansatz ist daher prinzipiell offener für kulturelle Formung und Bildung von Emotionen. Ein solches angeborenes Affektprogramm wollen bspw. Le Doux (1996, 2000) und Panksepp (1998, 2004) entdeckt haben. Sie verweisen darauf, dass der Mensch diese angeborenen Affektprogramme mit anderen Säugetieren teilt und postulieren, dass das Programm und die dazugehörigen diskreten Emotionen phylogenetisch determiniert sind. Sie liefern zudem ein Konzept für so genannte Basisemotionen (wie Freude, Angst,Footnote 3 Ekel, Wut und Trauer) als biologisch determinierte emotionale Prozesse.

Dennoch, diese Mechanismen werden von den Forschern, obgleich als angeboren, nicht als unmodifizierbar angesehen. So hat Jaak Panksepp etwa argumentiert, dass basale emotionale Prozesse bei Säugetieren durch „homologe“ Gehirnmechanismen entstehen. Durch die weitere Entwicklung des Organismus und durch die Erfahrungen, die er im Verlauf der Entwicklung macht, werden diese Mechanismen oder Affektprogramme dann weiter geformt. Bemerkenswerter Weise führt Panksepp im Falle des Menschen eigens die Denkfähigkeit als eine besondere Weise der Einflussnahme auf diese Mechanismen an, durch welche sie geformt werden.

Emotionsausdruck und Emotionsempfindung sind gemäß diesen neurophysiologischen Theorien dann zwar angeboren, werden jedoch im Laufe der Entwicklung eines Organismus noch geformt. Dementsprechend ist, was man sich an emotionalen Zuständen und Prozessen vorstellen kann, zwar biologisch partiell determiniert, wird aber z. T. in der Ontogenese noch geformt.

Der spezifische Einfluss von Sprache auf Emotionsausdruck und emotionales Empfinden ist im Rahmen dieser Theoriebildung jedoch nicht gezielt untersucht worden. Hingegen wurde untersucht, inwiefern die emotionale Ausstattung eine Grundlage zur Voraussetzung für das Entstehen von Sprache gewesen sein könnte (Panksepp 2008). Die Bedeutung von Sprache und Narration für das, was als Gefühle oder Emotionen bezeichnet wird und für das emotionale Empfinden, ist indessen für die Vertreter narrativer Ansätze in der Emotionsforschung der vorrangige Ansatzpunkt.

2 Emotionen und Sprache

2.1 Narrative Emotionstheorien

Ein prominenter Vertreter einer narrativen Emotionstheorie ist etwa Peter Goldie. Für Goldie sind die einzelnen Komponenten emotionaler Erfahrungen durch so genannte Narrative in einer narrativen Struktur miteinander verbunden (Goldie 2002). Ein solches Narrativ muss erstens Ereignisse miteinander erzählend verbinden und zweitens dürfen diese Verbindungen keine logischen Ableitungen darstellen (Lamarque 2004).

Auf den Fall der Emotionen angewendet, bedeutet das, dass es für jede emotionale Erfahrung eine paradigmatische narrative Struktur in einer Kultur gibt, die paradigmatische Reaktionen ebenso enthält wie Motivation und Empfindungen (Goldie 2002). Oft werden Märchen herangezogen, um das etwa für die Emotion der Angst zu illustrieren. Dabei ist zu bemerken, dass bei der Gattung der Märchen noch keine psychologischen Erklärungsmuster vorkommen, sondern in erster Linie Gesichtsausdruck und Körperausdruck beschrieben werden, um den Angstausdruck zu beschreiben. Märchen haben für Vertreter narrativer Emotionstheorien den Vorzug, dass sie sehr viel älter sind als Romane, womit man dem Einwand entgehen kann, narrative Emotionstheorien passten nur auf eine Zeit nach der Entstehung des modernen Romans, in dem emotionsbezogene Narrative eine besondere Rolle spielen.

Einer Fokussierung auf das rein verbale, erzählende Moment als ausschlaggebendem für Emotionen kann man entgehen, wenn man das Augenmerk auf den Spracherwerb und die Verbindungen von Sprache und Emotionen oder Gefühle richtet. Dieses Vorgehen lässt zudem mehr Raum für die Rolle natürlicher Reaktionen, kann daher auch das universale Moment bei Emotionen erklären und die Formung bzw. Bildung von Emotionen und Gefühlen durch Sprache und Kultur berücksichtigen.

2.2 Emotionen und Spracherwerb

Um sowohl die biologische Basis von Emotionen berücksichtigen zu können als auch die Rolle von Sprache und Kultur für ihre Bildung, greift der hier vorzustellende Ansatz durchaus auf die so genannten Basisemotionen zurück, um dann ein bekanntes Modell für den Spracherwerb zu nutzen, weil damit sowohl die Bedeutung und der Einfluss von Sprache auf die Emotionsempfindung erklärt werden kann als auch die kulturelle Formung von Emotionen durch Sprache.

Dafür ist zunächst einiges dazu zu erläutern, wie Spracherwerb heute erklärt wird und damit zu dem, was Michael Tomasello hinsichtlich sprachlicher Referenz als einem sozialen Akt dargelegt hat.Footnote 4 Nach Tomasello sind für den Spracherwerb bekanntermaßen Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit erforderlich, in denen das Kind, das Sprache erlernt, seine Aufmerksamkeit gemeinsam mit den Bezugspersonen auf einen dritten Gegenstand richtet. Wichtig ist dabei, dass es jeweils auch auf die Aufmerksamkeit des Anderen hinsichtlich des dritten Gegenstands achtet (Tomasello 2006), es sich bei dieser Form der gemeinsamen Aufmerksamkeit also um einen sozialen Vorgang handelt und nicht um einen solchen, welcher ein Nebeneinander von Aufmerksamkeitsausrichtungen darstellt.

Szenen gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit stellen erst den intersubjektiven Kontext bereit, in dem sprachliche Referenz als solche verstanden werden kann. Die Intersubjektivität und die damit einhergehende soziale Verfasstheit der Situationen sind daher Voraussetzung für Sprachentstehung, Sprachentwicklung und Spracherwerb.

Zum Konzept der gemeinsamen Aufmerksamkeit gehört, dass sie zumeist auf einen dritten Gegenstand gerichtet ist. Hier wird nun vertreten, dass das nicht so sein muss, da das Vorhandensein eines Gegenstandes als Fokus der gemeinsamen Aufmerksamkeit nicht unbedingt erforderlich ist. Macht man diese Annahme, lässt sich Tomasellos sprachtheoretischer Ansatz auch heranziehen, um zu erläutern, inwiefern Emotionen semantisiert sind und selbst so genannte Basisemotionen in der jeweiligen (Sprach-)Kultur geformt sind und einer Bildung unterzogen werden, die auch das phänomenale Empfinden umfasst.

Im hier vorgestellten emotionstheoretischen Ansatz wird davon ausgegangen, dass der dritte Gegenstand kein eigentlicher Gegenstand ist, sondern eine angeborene physiologische emotionale Reaktion, auf die sich die Aufmerksamkeit nur deshalb gemeinsam richten kann, weil sie für die Beteiligten jeweils eine ihnen entsprechende Ausdrucksform hat. Die physiologische emotionale Reaktion ist das Moment, auf das sich die Aufmerksamkeit des Spracherwerbenden und des Sprachlehrenden sowie die Worte des Sprachlehrenden beziehen können. Emotionen sind zwar kein unabhängiger, dritter Gegenstand im Sinne der Referenz, sondern körperliche Veränderungen des Organismus, die gespürt werden. Aber der Erwachsene kann sich so bspw. sprachlich und in anderer Weise auf den emotionalen Ausdruck eines spracherwerbenden Kindes beziehen, also auf sein Lachen und Weinen, das Erstaunen oder den Ekel. Diese zeigen sich sowohl in Mimik und Körperhaltung als auch in prosodischen Äußerungen.

Das spracherwerbende Kind kann seine eigenen emotionalen Ausdrücke hingegen nicht sehen, im Höchstfall könnte man annehmen, dass es sie im Falle akustischer Äußerungen hören kann. Um Letzteres annehmen zu können, müsste man aber unterstellen, dass es zudem in der Lage ist, zu erkennen, dass es sich dabei um die eigenen Laute handelt, um sie auch auf eigene Empfindungen und damit auf den phänomenalen Ausdruck der Emotion beziehen zu können. Da das Kleinkind, das seinen eigenen Ausdruck nicht sehen kann, die emotionalen Veränderungen aber spürt, hat es auf Grund dieses phänomenalen Ausdrucks der emotionalen Reaktion die Möglichkeit, zu verstehen, worauf sich die Bezugsperson mit ihrer Aufmerksamkeit richtet.

Um das Gesagte nochmals kurz zusammenzufassen und anschließend weiter ausführen zu können: Die Aufmerksamkeit des Lehrenden richtet sich auf den Emotionsausdruck des Kleinkindes und die Aufmerksamkeit des spracherwerbenden Kindes ist auf das eigene phänomenale Empfinden gerichtet. Der dritte Gegenstand als Gegenstand der Referenz bei Tomasello ist mithin kein eigentlicher Gegenstand, sondern etwas, das sich zur Konzeptualisierung dennoch eignet, weil die Sprachteilnehmer gemeinsam darauf ihre Aufmerksamkeit richten können, obgleich es für sie einen jeweils gänzlich anderen Ausdruck hat.

Die gemeinsame Bezugnahme wird zum einen durch die soziale Verfasstheit ermöglicht, die es erlaubt, Unterschiedliches als Ausdrucksformen desselben Phänomens zu begreifen, das sich für den einen, Sprache erwerbenden, Sprachteilnehmer als emotionales Empfinden äußert und für den der Sprache mächtigen Sprachteilnehmer als Ausdruck dieses Empfindens in Gestalt von Mimik, Körperhaltung und Formen prosodischer Äußerungen. Ohne die soziale Verfasstheit der Situation könnten die unterschiedlichen Ausdrucksformen nicht aufeinander bezogen werden.

Hinzu kommt, die biologische Verfasstheit, die schon Darwin herausgestellt hat und die obendrein von Paul Ekman und seiner Schule (Ekman 1993, 2004) weiter untersucht und bestätigt worden ist. Diese besteht eben darin, dass emotionales Empfinden und emotionaler Ausdruck nicht unabhängig voneinander auftreten.Footnote 5 Auch dieser Umstand ist eine Voraussetzung, in diesem Falle eine biologische, dafür, dass die Sprachteilnehmer die unterschiedlichen Facetten emotionalen Ausdrucks als verschiedene Aspekte desselben Phänomens begreifen können, weil die verschiedenen Ausdrucksformen durch diese Koppelung erst zu einem Phänomen, nämlich einer Emotion gemacht werden.

Die soziale (und damit auch kulturelle) und biologische Verfasstheit zusammen konstituieren also erst ein Phänomen, das dann mit einem sprachlichen Ausdruck versehen werden kann. Eine Pointe dabei ist, dass das evolutionstheoretische Modell für Emotionen, das explizit die kulturelle Formung von Emotionen marginalisiert, um einen universalen Theorieansatz hinsichtlich Emotionen zu vertreten (Ekman 1972, 1994), so zu einer Voraussetzung eines Ansatzes wird, der erklärt, inwiefern Emotionen durch Semantisierung kulturell geformt sind und inwiefern auch das phänomenale Empfinden selbst im Falle solch semantisierter Emotionen, kulturell bedingt, verschieden ist.

2.3 Semantisierung von Emotionen als Bildung der Gefühle

Wie geht die Semantisierung von Emotionen nun von statten? Um dies erläutern zu können, ist bereits die Spracherwerbstheorie von Tomasello vorgestellt worden und auf den speziellen Fall von Emotionen als „drittem Gegenstand“ angewendet worden.

Die intersubjektive Bezugnahme auf die sensu-motorischen Prozesse, welche bei einem emotionalen Prozess ablaufen, wird durch die Worte, mit denen sich die Bezugspersonen eines Kleinkindes oder Säuglings auf den emotionalen Ausdruck beziehen, möglich. Dass diese Worte sich überhaupt auf die Emotion beziehen können, liegt, wie dargelegt, daran, dass sie sich auf einen visuell oder auditiv wahrnehmbaren Emotionsausdruck beziehen können. Dass das Kleinkind die Möglichkeit hat, zu verstehen, worauf sich die sprachlichen Ausdrücke für Emotionen beziehen, liegt daran, dass es sie als phänomenalen Ausdruck empfindet.

Die emotionalen Prozesse werden so mit sprachlichen Ausdrücken verbunden, aber darüber hinaus – und das ist für die kulturelle Bildung von Emotionen von besonderer Bedeutung – auch mit Handlungsverläufen. Meist werden sie in für eine Gesellschaft als paradigmatisch geltenden Situationen eingeführt. Zu beachten ist, dass am Ende dieses Lernprozesses die Bedeutung des erlernten Emotions-Vokabulars zum sensu-motorischen Prozess dazugehört und das phänomenale Fühlen der Emotion mitbestimmt. Der begriffliche, bedeutungsbezogene Aspekt des emotionalen Empfindens und sein nach außen hin erkennbarer visueller und akustischer Ausdruck durch den Körper lassen sich also nach Erwerb des Emotionsbegriffs nicht mehr voneinander trennen.

Wir wollen uns nun ansehen, wie dieser Spracherwerb im Falle von Emotionen im Detail vor sich geht, auch wenn dafür keine empirische Forschung herangezogen wird, sondern dies in Gedankenexperimenten geschieht. Die Schreckreaktion eines Säuglings wird etwa mit dem Begriff der Angst belegt, indem ein Laut durch Wiederholung mit einer Empfindung gepaart wird. Damit dieses Wort für das heranwachsende Kind zu einem Begriff werden kann, muss es nicht nur eine Vokabel lernen, sondern wird zusammen mit der Gebrauchsweise der Vokabel auch mit einigen Verhaltensformen vertraut, die die Bedeutung des Wortes mit ausmachen. Paradigmatische Situationen in westlichen Industrie-Gesellschaften, in denen der Begriff der Angst eingeführt wird, wären etwa solche, in denen Knallgeräusche auftreten, plötzlich Dunkelheit herrscht, aber auch Begegnungen mit Hunden oder anderen Tieren, sowie bestimmte Situationen im Straßenverkehr.

Solche Szenarien mag man sich auch in anderen Gesellschaften gut als paradigmatische Situationen vorstellen können. Der kulturelle Unterschied wird dann ggf. in den Reaktionen und Handlungen in den jeweiligen Situationen zum Tragen kommen. Welche Geräusche werden bspw. in welchen Gesellschaften als Signale für Gefahr für das Kind als solche bestätigt und welche nicht? Welche Tiere werden in welchen Gesellschaften als potentiell gefährlich oder als ganz und gar harmlos behandelt? Und in welchen Gesellschaften herrscht überhaupt ein so reger Straßenverkehr, dass er als Gefahrenquelle angesehen wird, und in welchen Gesellschaften hat der Verkehr zwar ein beträchtliches Aufkommen, wird aber gar nicht als Gefahrenquelle des Alltags angesehen?

Darüber hinaus wird das Kleinkind schon vom Säuglingsalter an lernen, wann ihm eine Emotionsempfindung zugestanden wird und wann nicht. Vielleicht wird die Bezugsperson auf das zum Weinen bereite Gesicht des Kindes, das Blickkontakt mit der Bezugsperson sucht, sagen: „Du musst doch keine Angst vor dem Meerschweinchen haben“. Bei Anwesenheit einer Ratte mag die Bezugsperson anders reagieren. Dabei wird das Kind eine Empfindung haben, einen bestimmten Gesichtsausdruck bei den Anderen wahrnehmen und es wird u. U. getröstet und beschützt werden. Wird es nicht getröstet oder nicht geschützt, aber dennoch angegriffen oder bedroht und sieht es bei der Bezugsperson ein ausdrucksloses Gesicht, wird es für seine Empfindung keine Bestätigung hinsichtlich der Gefahreinschätzung und keine Hilfe für die Gefühlsregulation finden. Seine Empfindung mag daher diffus und ungeformt bleiben.

Manche Angstreaktionen werden nur geschlechtsspezifisch zugestanden werden und in manchen Kulturen wird versucht werden, Angstausdruck für ein Geschlecht fast ganz zu unterdrücken. Da es für das Empfinden einer Emotion aber einen Unterschied macht, ob eine Empfindung mit einem Ausdruck einhergeht, etwa mit Mimik, oder nicht, hängt von dem Zugeständnis, die Angst ausdrücken zu dürfen, auch die Intensität der Empfindung ab und damit in einem bestimmten Umfang auch die Fähigkeit, sie anderen in diesen Situationen „zuschreiben“ zu können, was nichts anderes heißt, als sie empathisch mit- oder nachvollziehen zu können. In anderen Gesellschaften wird der Angstausdruck hingegen nur in der Öffentlichkeit unterdrückt und im familiären Rahmen oder im intimen Rahmen zugestanden.

Das Wort „Angst“ wird somit in Handlungs- und Situationszusammenhänge eingebettet und mit einer bestimmten Emotionsempfindung „verschmolzen“ (im Falle der Nicht-Reaktion der Umwelt geschieht genau dies allerdings nicht). Hinzu kommt, dass Weisen der Emotionsregulation konzeptuell, d. h. zusammen mit dem Begriff erlernt werden, bzw. diese zur vollen Bedeutung des Begriffs dazu gehören. Erst wenn das Wort auf diese Art und Weise eingeführt ist, kann man sagen, dass das Kind mit dem Begriff der Angst vertraut gemacht worden ist. Emotionsempfindung und Emotionsbegriff lassen sich dann letztlich nicht mehr voneinander trennen. Es gibt für das Kind, das mit dem Begriff vertraut gemacht wurde, dahingehend keine „reine“, nicht semantisierte Körpersensation mehr und wir können uns beim besten Willen nicht mehr vorstellen, wie sich eine Emotionsempfindung der Angst angefühlt hat, als wir noch keinen Begriff dafür erworben hatten.

Das Kind kann seine Angst also nicht allein dadurch als Angst identifizieren, weil es sie spürt, sondern auch weil die Reaktionen der Bezugsperson eine gemeinsame Ausrichtung und damit eine Identifizierung der Empfindung als Angst ermöglicht. Der so identifizierte emotionale Prozess erlangt seine Bedeutung also in zahlreichen Situationen, die zum Erwerb eines Begriffs dazugehören, und zwar nicht allein auf Grund der physiologischen Reaktion, aber auch auf Grund der physiologischen Reaktion, die die Bezugnahme/Referenz erst ermöglicht (Engelen 2012).Footnote 6

So kann man davon ausgehen, dass so genannte Basisemotionen angeboren und deshalb universal gegeben sind, ohne deshalb den kulturellen und sprachlichen Einfluss vernachlässigen oder gar leugnen zu müssen (Engelen et al. 2009a). Vielmehr handelt es sich bei ihnen, wie bereits gezeigt wurde, um eine der Voraussetzungen dafür, dass es sich bei Emotionen überhaupt um ein intersubjektiv zugängliches Phänomen handelt, auf das man sich zu mehreren als ein Phänomen beziehen kann.

Ludwig Wittgenstein weist daher zu Recht darauf hin, dass Sprache auch für die Identifizierung von Empfindungen eine herausragende Rolle einnimmt: „Wenn man sagt ‚Er hat der Empfindung einen Namen gegeben‘, vergißt man, dass schon viel in der Sprache vorbereitet sein muss, damit das bloße Benennen einen Sinn hat. Und wenn wir davon reden, dass Einer dem Schmerz einen Namen gibt, so ist die Grammatik des Wortes ‚Schmerz‘ hier das Vorbereitete; sie zeigt den Posten an, an den das neue Wort gestellt wird.“ (Philosophische Untersuchungen, Nr. 257)

2.4 Das Verstehen der eigenen Emotionen und das Verstehen der emotionalen Befindlichkeiten anderer

Es wurde bereits angedeutet, dass die Identifizierung der eigenen Emotionen (und nichts anderes ist hier zunächst gemeint, wenn vom Erfassen und Verstehen der eigenen Emotionen gesprochen wird), die immer schon eine begriffliche Leistung darstellt, sowohl Einfluss auf das Empfinden der eigenen Emotionen hat als auch auf die Fähigkeit, die emotionale Befindlichkeit von anderen nachvollziehen zu können und in den jeweiligen Situationen empathisch reagieren zu können.

Zu einem vollen Verständnis einer Empfindung wie der der Angst gehört jedoch dazu, dass wir die entsprechende Empfindung auch als eine der Angst identifizieren können (Engelen 2009b). Damit ist gemeint, dass wir nicht nur lediglich eine Empfindung haben, sondern sie auch als eine spezifische Empfindung haben, d. h., dass wir die Angst auch als Angst empfinden und dass wir daher auch Kriterien der Identifizierung für Angst als Angst haben, sowie Kriterien dafür, dass das, was wir gerade empfinden, Angst ist. Eine solche Identifizierungsleistung ist ohne den sozialen Kontext, in dem die Identifizierung erfolgt und in dem die Kriterien zur Identifizierung erworben werden, nicht möglich. Denn wie erwähnt reicht das bloße Empfinden hierfür nicht aus.

Dass das bloße Empfinden nicht genügt, kann man sich klar machen, wenn man überlegt, woher ein Wesen, das eine Empfindung hat, die mit Reaktionen einhergeht, wie wir sie gewöhnlich den Empfindungen zurechnen, die wir Angst nennen, erkennen kann, dass es sich um Angst handelt. Es müsste in einem sozialen Kontext Kriterien erwerben können, die es ihm ermöglichen, diese Empfindung als Angst zu identifizieren.Footnote 7 Hat es diese nicht, hat es lediglich eine Empfindung, kann jedoch nicht einordnen, um was für eine Empfindung es sich dabei handelt.

Die sozialen und kulturellen Handlungsmuster, die bei der Emotionsbestimmung und dem damit verbundenen Spracherwerb für Emotionsausdrücke miterlernt werden, ermöglichen es also nicht nur, die Bedeutung eines Wortes erfassen zu können, sondern darüber hinaus auch ein Empfinden als spezielle Emotion empfinden zu können, was Einfluss auf das phänomenale Empfinden hat und auf das empathische Verstehen dessen, was der Andere empfindet. Denn nur, wenn wir gelernt haben, unsere eigenen Empfindungen in dieser Weise zu bestimmen und phänomenal als solche wahrzunehmen, sind wir auch in der Lage, die Gefühlsausdrücke anderer als solche einordnen und empathisch in vollem Umfang mitvollziehen zu können. Dabei kann es hinsichtlich kultureller Unterschiede zwangsläufig zu Missverständnissen und d. h. zu Missverstehen kommen.

Dass es zu Missverständnissen hinsichtlich der Emotionsempfindungen anderer kommen kann, mag vielleicht plausibel sein, denn wenn Emotionsempfindungen durch einen anderen kulturellen Umgang mit dem Ausleben von Emotionen, der Emotionsregulation, oder auch der Bedeutung, die dem Ausdrücken von Emotionen in einer Gesellschaft zugewiesen wird, geformt werden, werden sich auch die Stärke der Emotionsempfindung, die Anlässe für eine solche Emotionsempfindung und die im Anschluss daran als adäquat und angemessen angesehenen Reaktions- und Handlungsmuster unterscheiden.

Dabei wird die Existenz einer dem Emotionsprozess zu Grunde liegenden universalen Anlage, die dazu führt, dass weltweit ein Angstausdruck als Angst erkannt wird, gar nicht in Abrede gestellt. Das Missverstehen bezieht sich in dem hier diskutierten Fall also nicht auf die Möglichkeit, dass ein Angstausdruck nicht als Ausdruck der Angst erkannt wird, sondern darauf, dass sich aus den kulturell unterschiedlichen Formungen von Emotionen Missverständnisse und Vorurteile ergeben, welche die Empathiefähigkeit einschränken könnten.Footnote 8

Wie steht es aber mit der Behauptung, dass es auch hinsichtlich des Verstehens eigener Emotionsempfindungen zu Missverstehen kommen kann und dass daher eine Bildung der Emotionen oder Gefühle erforderlich ist? Wie kann es zu einem Missverstehen in Fällen kommen, in denen eine biologische, universale Anlage in sozialen Kontexten kulturell geformt wird? Wie kann es sein, dass man seine Emotionsempfindungen vor dem Hintergrund dieser Annahmen nicht „richtig“ versteht?

Zunächst einmal sieht es so aus, als könne man sich, d. h. seine emotionalen Empfindungen, vor einem solchen theoretischen Hintergrund nicht nicht richtig verstehen, da es zum einen biologisch festgelegte Emotionsabläufe gibt, denen man automatisch unterliegt, und zum anderen kulturell erworbene Identifikationskriterien, die in sozialen Kontexten erworben werden. Wo ist also noch Spielraum für ein Subjekt, das sich selbst missverstehen könnte, wenn die Emotionen sowohl biologisch als auch sozial festgelegt sind und das Subjekt somit keinen Einfluss auf seine Bildung und seine Empfindungen zu haben scheint?

Verwerfungen kann es dennoch bspw. an der Schnittstelle zwischen den biologischen und den kulturellen Aspekten geben. So, wenn in einer Kultur oder einer sozialen Gemeinschaft der Ausdruck bestimmter emotionaler Empfindungen systematisch unterdrückt oder ignoriert wird. Die angelegten Empfindungen kommen dann weder zur Entfaltung noch können sie vom Empfindenden überhaupt eingeordnet werden. So mögen sich manche Menschen nicht darüber im Klaren sein, dass sie Angst oder Trauer empfinden, oder dass sie verliebt sind, weil es die kulturelle Formung nicht erlaubt, bestimmte biologisch angelegte Expressionen dazu jedoch vorhanden sind (Röttger-Rössler 2006, S. 66 f.). Dabei wird es zu einem Missverstehen des Subjekts hinsichtlich seiner eigenen emotionalen Empfindungen allerdings lediglich dann kommen, wenn biologisch angelegte emotionale Phänomene überhaupt nicht geformt werden, nicht hingegen, wenn sie bloß eine andere kulturelle Formung erfahren.

Andererseits ist es aber auch so, dass angelegte emotionale Empfindungen eine kulturelle Überhöhung erfahren können und dann schon auf das kleinste körperbasierte Anzeichen hin die Weise der kulturellen Formung dazu führt, dass der Emotionsausdruck in jeder Facette extrem entfaltet und gezeigt wird, so dass auch das emotionale Empfinden dadurch intensiviert wird. Zu denken wäre hier etwa daran, dass jede zunächst niedrigschwellige freudige Erregung in einen manifesten Freudenausdruck in mimischer, akustischer und gestischer Form überführt wird.

Das Bewertungsmoment für eine Situation, eine Handlung oder Geste, das in der emotionalen, freudigen Reaktion mit enthalten ist, würde damit ebenfalls überbetont werden und könnte zu unangemessenen Einschätzungen führen; wobei nicht geleugnet werden kann, dass die Angemessenheit ihrerseits kulturell festgelegt wird.

Die Bildung der Gefühle, d. h. ihre kulturelle Formung ist daher sowohl von großer Bedeutung, um sich in andere einfühlen zu können und mit ihnen empathisch zu sein als auch um die eigenen biologisch angelegten emotionalen Empfindungen deuten zu können. Diese Formung oder Bildung kann jedoch nur im sozialen Kontext erfolgen und erfordert eine Semantisierung der Emotionen.