Sammelrezension zu

  1. 1.

    Ingo Kramer (Hrsg.): Herausforderung Bildungsgerechtigkeit. Zum fairen Umgang mit dem Leistungsprinzip. Hamburg: Murmann 2011. 132 S. ISBN 978-3-86774-137-8. Preis: 19,90 €.

  2. 2.

    Peter J. Brenner: Bildungsgerechtigkeit. Stuttgart: Kohlhammer 2010. 133 S. ISBN 978-3-17-021096-7. Preis: 14,80 €.

  3. 3.

    Krassimir Stojanov: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktion eines umkämpften Begriffs. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 176 S. ISBN 978-3-531-18056-4. Preis: 24,95 €.

In aktuellen politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskursen ist die Gerechtigkeit in der Bildung ein zentraler Bestandteil. Letztlich haben die PISA-Studien und deren attestierte Herkunftsabhängigkeit der Bildungsbeteiligung bzw. der erreichten Kompetenzen in Deutschland (vgl. Prenzel et al.2004; Klieme et al.2010) zu einer neuen Dynamik in der Debatte um die Bildungsgerechtigkeit geführt, die in den 1980er- und 90er-Jahren nach der Bildungsreform in den 1970er-Jahren aus dem Fokus der Bildungsdebatte geriet. Folgt man den Diskursen, hat jeder eine Vorstellung darüber, was Bildungsgerechtigkeit und – daraus abgeleitet – was Bildungsungerechtigkeit bedeutet. Eine wirklich klare begriffliche Konturierung stand bislang allerdings aus.

Diese Sammelrezension behandelt drei Publikationen zur Thematik Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Methodisch handelt es sich hierbei um einen Essayband und zwei theoretische Bände. Kramers Essayband erläutert die theoretischen Grundlagen und pädagogische Umsetzungsmöglichkeiten von Bildungsgerechtigkeit. Brenners und Stojanovs theoretische Bände greifen hingegen den politischen und bildungswissenschaftlichen Diskurs um die Bildungsgerechtigkeit auf. Sie kritisieren die Uneindeutigkeit und schlicht nicht haltbaren Annahmen, die den Begriff Bildungsgerechtigkeit zu einem Sammelbecken von Forderungen und Erwartungen an die Bildung in Deutschland werden lassen. Letztlich wird der Begriff Bildungsgerechtigkeit in beiden Bänden eindeutig konturiert.

Kramer, Herausforderung Bildungsgerechtigkeit.

Der vorliegende Essayband betrachtet das Thema Bildungsgerechtigkeit in Deutschland und erweitert das Konzept des Leistungsprinzips um die Potenzialförderung. Der Essayband entstand anlässlich des Ausscheidens von Hans-Jürgen Brackmann aus dem Amt des Generalsekretärs der Stiftung der Deutschen Wirtschaft. Er umfasst acht Essays. Die Autoren stammen sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Wirtschaft und setzen sich vor ihrem jeweils spezifischen Hintergrund mit der Bildungsgerechtigkeit und den damit einhergehenden Herausforderungen auseinander.

Der Herausgeber Ingo Kramer, Vorstandsvorsitzender der Stiftung der Deutschen Wirtschaft, stellt in seinem Vorwort den bestehenden Konsens der verschiedenen Autor(inn)en vor, indem er einen Begriff aus der Wirtschaft auf die Bildungsdebatte überträgt: die „hidden champions“ unserer Gesellschaft schöpfen ihre Potenziale nicht aus. Deren Unterstützung stellt den Ansatzpunkt für einen fairen Umgang mit dem Leistungsprinzip dar. Nach Kramer muss das Leistungsprinzip, das sich nur an bisher erbrachten Leistungen orientiert, erweitert werden um die Orientierung auf potenzielle Leistungen in der Zukunft (vgl. S. 13). Die Potenzialförderung der sowohl schwachen als auch starken Personen kann zusammen mit dem Leistungsprinzip zur Bildungsgerechtigkeit beitragen. Hierbei folgt Kramer keineswegs der Annahme, dass allein durch individuelle Förderung alle Menschen zu leitungsstarken Personen werden können. Das um die individuelle Potenzialförderung erweiterte Leistungsprinzip löst nach Kramer bei einer grundsätzlichen Leistungsbereitschaft das Spannungsfeld zwischen sozialer Gerechtigkeit und dem Leistungsprinzip auf, weil bei gleicher Begabung trotz unterschiedlicher Bedingungen jede Person die gleichen Chancen erhalte (vgl. S. 12).

Auch Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, hält in seinem Essay, der in wesentlichen Teilen bereits 2008 veröffentlicht wurde (vgl. Kraus2008), an dem Leistungsprinzip fest und fordert zugleich – wie Kramer – ein „individuelles Anspruchs- und Herausforderungsniveau“ (S. 39). Die durch PISA neu entstandene Debatte um die Bildungsgerechtigkeit sei eine sozialpolitische Debatte. Nach Kraus speist sie das Gefühl von Ungerechtigkeit unter anderem durch statistische Artefakte der internationalen Abitur- und Akademikerquoten, „[…] denen eine Gleichsetzung von Quote mit Qualität zugrunde liegt“ (S. 36). So werden beispielsweise in Finnland Studienberechtigungen flächendeckend vergeben, was die hohe soziale Durchlässigkeit des finnischen Schulsystems belegt. Ein Ungerechtigkeitsgefühl werde ebenfalls von einigen Bildungspolitikern und Bildungsforschern erzeugt, indem behauptet werde, Akademiker würden Kinder von Nichtakademikern von der Bildung ausschließen. Da Bildung ein frei verfügbares Gut ist (vgl. S. 39), stimme – so Kraus – diese Behauptung nicht. Ein freies Gut kann nicht den einen genommen und den anderen gegeben werden. Kraus setzt der Kritik am gegliederten deutschen Schulsystem die Entkopplung von besuchter Schulform und formal erreichten Bildungsabschluss entgegen, wobei in einigen Bundesländern über 50 % der Menschen die Studienberechtigung nicht auf dem herkömmlichen Weg des Gymnasiums erhalten (vgl. S. 38). Die Selbstselektion der Arbeiterkinder erfolgt erst bei den Hochschulzugängen. Nach Kraus kann es nur das Leistungsprinzip als gerechtes Allokationskriterium in der Schule geben – bei gleichzeitiger individueller Förderung der Schwachen und Starken. Die Chancen müssen eigenverantwortlich genutzt werden und schließlich ist Verschiedenheit keine Ungerechtigkeit (vgl. S. 39). Wie bereits aus anderen Veröffentlichungen bekannt, hält Kraus an dem gegliederten Schulsystem fest und fügt dem Leistungsprinzip deutlich mehr Bedeutung zu als andere Autor(inn)en in diesem Essayband. Kraus muss sich entgegenhalten lassen, dass gerade Kinder und Jugendliche nicht eigenverantwortlich für ihre Bildungsaspirationen sind (vgl. dazu Stojanov weiter unten).

Stephan Gerhard Huber leitet seinen Essay damit ein, dass die Bildungsgerechtigkeit nicht nur die Bildungs- bzw. Schulstrukturdebatte (vgl. S. 43) tangiert, sondern das Gesamtsystem der Bildung mit all seinen Institutionen und Ebenen. Das bildungspolitische Ziel Bildungsgerechtigkeit benötigt ein kohärentes Gesamtsystem, indem es die Verantwortungsübernahme aller Führungskräfte verschiedener Institutionen und auf verschiedenen Systemebenen fordert (vgl. S. 44). Nach Huber kann durch das Konzept dersystem leadership eine Bildungssystemverbesserung und -entwicklung erreicht werden, die Bildungsgerechtigkeit berücksichtigt (vgl. S. 56 f.). System leadership „[…] ist eine Praxis, in der einzelne pädagogische Einrichtungen über ihre eigenen Organisationsgrenzen hinaus tätig werden, damit das Bildungssystem als Ganzes profitiert“ (S. 48). Bevor Huber näher auf dieses Konzept eingeht, stellt er die Schulnetzwerke und deren mögliche Vernetzungsstufen vor, deren Gemeinsamkeit in den Synergieeffekten für ihre Arbeit besteht (vgl. S. 48). Huber referiert nachfolgend über die Erkenntnisse David Hopkins, der drei Kernaspekte für pädagogische Führungskräfte beschreibt: die pädagogische Praxis, Lerngemeinschaften und die Organisationsentwicklung (vgl. S. 51). Ausführlich beschreibt Huber die Eigenschaften vonsystem leaders nach Hopkins, wobei er insbesondere die strategische Führung betont (vgl. S. 53). System leaders zeichnen sich durch eine geteilte Führungsverantwortung aus, „[…] durch die andere Lehrkräfte sich in Führungsaufgaben weiterentwickeln können“ (S. 52 f.). Huber betont die Auswirkung außerschulischer Faktoren auf den Schulerfolg (vgl. S. 55), weswegen Netzwerk- und Kooperationsarbeit mit Strukturen, Beratung und finanziellen Ressourcen unterstützt werden müssen (vgl. S. 54). Dahinter steht die Annahme, dass ohne eine Gesamtsystementwicklung sich die pädagogischen Einrichtungen nicht nachhaltig entwickeln. Flächendeckendessystem leadership ist nach Hopkins eine Schlüsseltriebkraft für die Wirksamkeit pädagogischer Einrichtungen und für deren Vermögen, individuell zu fördern, womit man sich schließlich der Bildungsgerechtigkeit annähert (vgl. S. 57).

Insgesamt stellt dieser Sammelband, von dem hier nur drei Essays eingehender besprochen werden können, verschiedene Perspektiven auf die Bildungsgerechtigkeit dar und spiegelt das bildungspolitische Engagement der Wirtschaft wider. Er bietet einen Einblick in die vielfältigen Ansichten zur Bildungsgerechtigkeit und zeigt Initiativen der Wirtschaft auf, Bildungsgerechtigkeit umzusetzen.

Brenner, Bildungsgerechtigkeit.

Der Autor greift die bildungspolitische Debatte auf und erweitert diese um die Aspekte Gerechtigkeit im Klassenzimmer und Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung, was derzeit in vielen Publikationen vernachlässigt wird. Das Buch setzt sich aus fünf Kapiteln zusammen, die aufeinander aufgebaut sind. Nach einer Einführung im ersten Kapitel zum Zusammenhang von Bildung und Gerechtigkeit wird im zweiten Kapitel geklärt, was überhaupt Gerechtigkeit bedeutet. Die historische Genese wird im dritten Kapitel dargestellt, wodurch Brenner die Voraussetzungen für das vierte Kapitel schafft. Hier stellt er das deutsche Sonderschulsystem für Menschen mit Behinderung vor und stellt für diese Gruppe die Frage nach der Gerechtigkeit, die für Brenner eben nicht mit der bekannten Mitleidsethik und juristischen Deklamationen beantwortet werden kann. Abschließend fokussiert Brenner sein fünftes Kapitel auf die Rolle des Staates. Er stützt sich dabei auf Hannah Ahrendts Einteilung in private, soziale und politische Sphäre. Für Brenner ist die Schule ein öffentlicher und privater Raum, in dem die Durchsetzung gesetzlicher Regelungen mit anderen Maßstäben und letztlich auch mit anderen Mitteln zu betreiben ist als im öffentlichen Raum (vgl. S. 10). Diese Auffassung zieht sich durch das gesamte Buch.

Im ersten Kapitel werden grundlegende Begriffe und Kontexte von Bildungsgerechtigkeit anhand konkreter Beispiele dargestellt. Die Ursache für Bildungsmisserfolg konzentriert sich in der deutschen Wahrnehmung s. E. auf die „materielle Armut“ (S. 21), wobei es sich nicht um monetäre Armut, sondern um Wohlstandsverwahrlosung handelt (vgl. S. 23). Bildungserfolg ist schließlich abhängig von bildungsfernen und bildungsnahen Schichten. Brenner kritisiert weiter die ausschließliche Fokussierung auf das Schulsystem, wenn die Bildungsgerechtigkeit diskutiert wird (S. 26) und denkt dabei an die vernachlässigte Perspektive der Schüler(innen), die sich für die Gerechtigkeit im Klassenzimmer interessieren (vgl. S. 27). Für das erste Kapitel lässt sich resümieren, dass Brenner auffordert, das Problem Bildungsgerechtigkeit neu zu denken und sich dabei an den Aufgaben der Schule und an den Bedürfnissen der Schüler(innen) zu orientieren (vgl. S. 34 ff.).

Im zweiten Kapitel stellt Brenner verschiedene Gerechtigkeitstheorien vor und favorisiert dabei die empirische Gerechtigkeitsforschung, die sich von normativen Gerechtigkeitsvorstellungen löst und danach fragt, was die Menschen für gerecht halten. Gegenwärtig wird nach Brenner der Gerechtigkeitsbegriff überfrachtet (vgl. S. 54). Er plädiert für eine angemessene Bildungsgrundausstattung im Schulwesen. Die Bildungspolitik hingegen solle lediglich ein Minimum an Hilfe zur Selbsthilfe bereitstellen, für mehr sei jeder Einzelne selbst verantwortlich (vgl. S. 55 f.).

Im dritten Kapitel rekonstruiert Brenner die Bildungsgerechtigkeit in ihrer historischen Entwicklung. Er gibt Einblicke in die Schulgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts (vgl. S. 57–66), beschreibt die Errungenschaft der einheitlichen Volksschule durch den „Weimarer Kompromiss“ (S. 67), die Konstellation nach Kriegsende sowie die Bildungsreform und die -expansion. Er nimmt Fokussierungen auf Sprache und Individualisierungen auf und resümiert, dass die PISA-Studien zwar deutliche Defizite des deutschen Schulsystems aufzeigten, „[…] aber keine Handlungsmöglichkeiten eröffne[n], mit denen politisch, pädagogisch und didaktisch darauf reagiert werden könnte“ (S. 79).

Ebenso verdrängten die PISA-Studien nach Brenner existierende Problemgruppen, die das PISA-Konzept nicht erfasst: Menschen mit Behinderung, was im vierten Kapitel behandelt wird. Das differenzierte Sonderschulwesen zeigt in seiner historischen Genese vor allem, dass es sich zu einer „Abschiebestation“ für lern- und erziehungsschwierige sowie für sprachauffällige Kinder entwickelt hat (vgl. S. 84 f.). Die Schule erzeugt selbst Behinderungen, was Brenner berechtigterweise kritisch resümieren lässt: „Wenn es keine Schule gäbe, gäbe es auch diese Behinderungen nicht“ (S. 85). Weiterhin fehlt der Diskussion und auch dem Umgang mit dieser Problemgruppe eine pädagogische Ethik als Grundlage, ohne die keine praktische Umsetzung möglich ist. Brenner schlägt Levinas formulierte Ethik des „Anderen“ vor und betont damit die Einzigartigkeit des Menschen, der sich durch Sonderschularten nicht kategorisieren lässt (vgl. S. 98 f.).

Im fünften Kapitel betrachtet Brenner die Rolle des Staates, der Bildungsgerechtigkeit nicht über die Schule herstellen könne, auch nicht über die Reformen des Bildungswesens (vgl. S. 103). Die Debatte um Bildungsgerechtigkeit kreise letztlich um zwei Forderungen: die Abschaffung des gegliederten Schulsystems und den Aufbau eines integrierten Schulsystems. Von diesen Forderungen distanziert Brenner sich und führt mehrere Studien an, die dem Gesamtschulsystem keinen Mehrwert bescheinigen (vgl. S. 107). Nach Brenner „[…] finden sich die eigentlichen Probleme nicht am obigen, sondern am unteren Ende des Schulsystems“ (S. 109). Er formuliert daher die Rehabilitation der Hauptschule als Kernaufgabe der Bildungspolitik und als eine Annäherung zur Bildungsgerechtigkeit (vgl. S. 109). Brenner moniert die Entwicklung der staatlichen Interventionen, die nun zunehmend Erziehungs- und Betreuungsaufgaben wahrnehmen und warnt vor einer „Erziehungsdiktatur“ (vgl. S. 120). Insgesamt ist das letzte Kapitel sehr ernüchternd geschrieben und zeigt keine weiteren Handlungsansätze auf. Pessimistisch resümiert Brenner: „Habitus schlägt Bildung“ (S. 116).

Das Buch ist eine diskussionswürdige Einführung, die in einer verständlichen Darstellung den Begriff der Bildungsgerechtigkeit klar definiert und Aspekte jenseits des öffentlichen Diskurses berücksichtigt.

Stojanov, Bildungsgerechtigkeit.

Entgegen den Veröffentlichungen von Kraus und Brenner, die die Verantwortung für Bildungsprozesse an das Individuum delegieren, darf man nach Stojanov Letztere nicht als eigenverantwortlich ansehen. Der Bildungstheoretiker und -philosoph hat in dem vorliegenden Band sieben bereits erschienene Aufsätze und zwei Erstveröffentlichungen zu drei Teilen zusammengefügt, wobei jeder Aufsatz für sich gelesen werden kann und die Aufsätze zusammenhängend den Begriff der Bildungsgerechtigkeit rekonstruieren. Im ersten Teil werden die Begriffe Bildung und Gerechtigkeit fokussiert. Bildungsgerechtigkeit muss nach Stojanov primär als Anerkennungs- und nicht als Verteilungsgerechtigkeit betrachtet werden. Der zweite Teil umfasst den anerkennungstheoretischen Ansatz, der die sozialen und institutionellen Voraussetzungen herausarbeitet, die für die Entwicklung der Autonomieführung des Einzelnen erforderlich sind. Im letzten Teil des Buches erörtert Stojanov bildungspolitische und pädagogische Praktiken, die Ungerechtigkeit im Bildungswesen generieren und perpetuieren. Bildungsgerechtigkeit verwandelt sich hier in ein Ideologiekonstrukt, wie beispielsweise in der Verklärung hin zur „begabungsgerechten Selektion“. Stojanov kritisiert den mangelnden wissenschaftlichen Diskurs, weswegen er der begriffsanalytischen Arbeit nachgeht, um die Bedeutungskomponenten von Bildungsgerechtigkeit zu identifizieren.

Im ersten Teil erörtert Stojanov, dass Bildungsgerechtigkeit eine eigenständige Kategorie ist. Das Gerechtigkeitsverständnis aus dem Beruf, das materielle Güter und Aufstiegsmöglichkeiten durch Leistung als „verdient“ begreift, ist nicht auf die Schule übertragbar (vgl. S. 16). Kinder sind keine autonomen Subjekte, sondern es ist eben gerade Aufgabe der Schule, „[…] zur Subjektautonomie und somit Verantwortungsfähigkeit erst einmal hinzuführen“ (ebd.). Die Fokussierung auf die Verteilung von Ressourcen ist daher nicht angemessen, sondern es muss eine Perspektive eingenommen werden, die zur individuellen Autonomie befähigen möchte. Hierfür verwendet Stojanov den anerkennungstheoretischen Ansatz. Nach diesem intersubjektivitätstheoretischen Ansatz sind die Fähigkeiten und Kompetenzen des Einzelnen abhängig von seinen Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen innerhalb von Bildungsinstitutionen (vgl. S. 24). Danach ist für Stojanov die Hauptquelle für Ungerechtigkeit im Bildungswesen die Missachtung der Entwicklung der Autonomiefähigkeit (vgl. S. 25). Bildungsgerechtigkeit ist aber auch nicht durch Chancengleichheit erfüllt, da Chancengleichheit auf einem Verständnis beruht, das Bildung als Summe verteilbarer Güter begreift (vgl. S. 32) und damit autonome Subjekte voraussetzt. Schließlich verwirft Stojanov die Modelle der Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit zugunsten des anerkennungstheoretischen Ansatzes mit den Anerkennungsformen der Empathie, des moralischen Respekts und der sozialen Wertschätzung. Das Prinzip der egalitären Autonomiestiftung umfasst für ihn den Kern von Bildungsgerechtigkeit (vgl. S. 61) und erfordert die Gewährung von moralischen Respekt (S. 62). Schulische Selektion hingegen bezieht sich auf die Begabungen des Einzelnen und verursacht Missachtungserfahrungen und die Verneinung von autonomer Entwicklungsfähigkeit (vgl. ebd.).

Im zweiten Teil geht Stojanov auf Einwände und Kritiken bzgl. des anerkennungstheoretischen Ansatzes ein und weist sie zurück. Die Anerkennungstheorie Honneths, auf die er rekurriert, vernachlässigt allerdings die Herstellung von Weltbezügen des Einzelnen (vgl. S. 78), weswegen für ihn auch die Welterschließungsprozesse die drei Anerkennungsformen voraussetzen (vgl. S. 79). Auch im zweiten Teil kritisiert Stojanov die Fixierung auf Begabungen bzw. auf „kognitive Ausgangsvoraussetzungen“ (vgl. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft2007), wie es der Aktionsrat Bildung formuliert. Für den Bildungstheoretiker ist die „[…] kognitive Entwicklung eine notwendige und strukturell zentrale Kerndimension jedes Bildungsprozesses“ (S. 83) und abhängig von Formen intersubjektiver Anerkennung in schulischen Kontexten: der Anerkennung vor-begrifflicher Ideale sowie des Fähigkeitspotenzials des Einzelnen (vgl. S. 94). Im letzten Kapitel des zweiten Teils erweitert Stojanov die anvisierte kritische Bildungstheorie um den Respektbegriff von Peters (vgl.1966), der die Gesamtheit der Individualität und des Bewusstseinslebens des Einzelnen neben dem rechtlichen Status und der moralischen Zurechnungsfähigkeit umfasst (vgl. S. 102–109).

Im dritten Abschnitt des Buches stellt Stojanov die Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie zur Kategorie der Bildungsgerechtigkeit vor. Auf der Grundlage von aktuellen Zeitungsartikeln und parteipolitischen Dokumenten wird nachgezeichnet, wie Bildungsgerechtigkeit in der bildungspolitischen Diskussion verstanden und rezipiert wird. Die Dokumentenanalyse erfolgt durch die qualitative Inhaltsanalyse, wobei die drei zentralen Modelle der Verteilung-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit als vorläufiges Kategoriensystem verwendet und im Forschungsprozess ausdifferenziert werden (vgl. S. 119). Als Ergebnis stellt Stojanov die überwiegende Verwendung der Verteilungsgerechtigkeit fest. Unterschiedliche Begabungen werden schon vor dem Schuleintritt als gegeben betrachtet. Ihnen wird durch Herstellung von Chancengleichheit sowie dem Ausgleich von Herkunftsbenachteiligungen begegnet (vgl. S. 135). Hierbei fokussieren sich die Maßnahmen auf vor- und frühschulische Maßnahmen. Die Selektion wird in dieser Denkfigur als optimierungswürdig eingestuft, damit die Beschulung des Einzelnen seinen Begabungen entspricht. Im zweiten Kapitel zeigt Stojanov, dass sich selbst in der Bildungsforschung der Gerechtigkeitsdiskurs auf die Schulbildungskarrieren von Migrantenfamilien fokussiert. Durch eine Dokumentenanalyse, die sich hauptsächlich auf das Jahresgutachtens 2007 des Aktionsrates Bildung stützt, wird geprüft, wie die Bildungsgerechtigkeit verstanden wird und welche Lösungsansätze vorgeschlagen werden. Als Ergebnis stellt Stojanov in Bezug auf die zuvor dargestellte Studie fest, dass die Begabungsgerechtigkeit auch als dominante Diskursfigur in der Bildungsforschung vorherrscht (vgl. S. 141 f.). Die Problematik der Bildungsgerechtigkeit reduziert sich auf die Ausschöpfung von Bildungsreserven, die als wirtschaftliches Gut betrachtet werden (vgl. S. 147). Der Gegenstand von Akkulturationsmaßnahmen erschöpft sich vor allem auf das Erlernen der deutschen Sprache. In dieser Auffassung spiegeln sich für Stojanov assimilationistische Tendenzen wider (vgl. S. 148). Im letzten Kapitel des Buches wird das gegliederte Schulsystem kritisiert, was auch durch eine leistungsbasierte Selektion nicht zu rechtfertigen sei. Stojanov fordert drei strukturelle Reformen des Bildungssystems: 1) die gemeinsame Beschulung bis zum 14. Lebensjahr, 2) die Entlastung der Schule von der Hochschulzugangsberechtigungsvergabe und 3) die Entkopplung der Berufsprofilfestlegung von einer besuchten Schulform (vgl. S. 177).

Das Buch ist insgesamt sehr zu empfehlen. Die besondere Stärke des Buches liegt in der Identifizierung der Bedeutungskomponenten von Bildungsgerechtigkeit.