1 Einleitung

Die naturwissenschaftliche BildungFootnote 1 ist in den letzten zehn Jahren wieder vermehrt in den Fokus des Bildungsinteresses gerückt. Hierzu beigetragen haben zum einen die nach wie vor großen Veränderungen in unserer natürlichen Umwelt und die weiterhin stark zunehmende Technisierung unseres Alltags, zum anderen das unerwartet mittelmäßige Abschneiden in internationalen Vergleichsstudien undlast but not least der gravierende Fachkräftemangel in Naturwissenschaften und Technik. Über die Notwendigkeit einer naturwissenschaftlichen Bildung für das Individuum besteht heute weitgehend ein gesamtgesellschaftlicher und bildungspolitischer Konsens. Wie die Ziele einer solchen allgemeinen Grundbildung erreicht werden können, ist Gegenstand der aktuellen Forschung und Entwicklung in der Naturwissenschaftsdidaktik.

Im vorliegenden Beitrag werden die Ist-Situation der naturwissenschaftlichen Bildung, Schwerpunkte der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung und Zukunftsperspektiven des naturwissenschaftlichen Unterrichts vorgestellt: Im Kap. 2 geht es im weitesten Sinn um die Ziele naturwissenschaftlicher Bildung, d. h. um eine eher hermeneutische Annäherung an das Thema. Es folgen Fokusse empirischer Forschung und Entwicklungsarbeiten zur inhaltlichen Erneuerung des Unterrichts (Kap. 3 und 4). Ausführungen zur Weiterentwicklung und Implementation naturwissenschaftlicher Bildung sowie ein Resümee (Kap. 5 und 6) runden den Beitrag ab.

2 Naturwissenschaftliche Bildung im Diskurs

Was bedeutet naturwissenschaftliche Bildung? Welche Ziele werden mit ihr verfolgt? In einem ersten Abschn. 2.1 wird auf die aktuelle, weltweit geführte Diskussion überscientific literacy eingegangen, um daran anschließend auf zwei für die naturwissenschaftliche Bildung bedeutsame Aspekte zu fokussieren. Zum einen wird das Experimentieren als die zentrale naturwissenschaftliche Methode thematisiert (2.2), zum anderen die Frage diskutiert, inwieweit naturwissenschaftliche Bildung eher im disziplinären Unterricht mit Biologie, Chemie und Physik als Einzelfächern oder eher im interdisziplinären Unterricht in einem Integrationsfach zu fördern ist (2.3).

2.1 Scientific Literacy – Die Globalisierung naturwissenschaftlicher Bildung

Die stark ausgeprägte Fachsystematik der Biologie, Chemie und Physik führte dazu, dass Bildungspläne in Bezug auf Gliederung, fachliche Begriffe und Definitionen, wie Molekül oder Energie, und in Bezug auf Gesetzmäßigkeiten, wie Ohmsches Gesetz oder chemisches Gleichgewicht, weltweit ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten aufweisen. Weniger Übereinstimmung gab es hinsichtlich der Fragen, was naturwissenschaftliche Bildung charakterisiert und welche Ziele mit ihr verfolgt werden (Waddington et al.2007).

Dies änderte sich mit der seit dem Sputnik-Schock sukzessiv erfolgten Etablierung der Naturwissenschaftsdidaktiken als Wissenschaften, der Entwicklung einer internationalenscientific community sowie länderübergreifendenlarge-scale-assessments wie PISA und TIMSS. Ziele und Merkmale naturwissenschaftlicher Grundbildung bilden inzwischen einen Schwerpunkt des internationalen fachdidaktischen Diskurses.

Im Zentrum steht dabei die Frage nach einem Konzept vonscientific literacy, einer naturwissenschaftlichen Grundbildung, welche nicht nur zukünftige Fachleute ansprechen und heranziehen, sondern im Sinne vonscience for all zukünftige Staatsbürgerinnen und -bürger in einem weiten Sinne bilden soll (Roberts2007). Zu den grundlegenden Arbeiten der letzten 20 Jahre gehören diejenigen von Bybee (1997). Sie wurden auf nationaler Ebene, auch in Deutschland und der Schweiz, rezipiert und beeinflussten die Diskussionen und Entwicklung von Bildungsstandards (vgl. Gräber und Nentwig2002; Konsortium HarmoS Naturwissenschaften2008). Auf internationaler Ebene prägten sie das Konzept vonscientific literacy in PISA, das naturwissenschaftliche Grundbildung wie folgt definiert (OECD2007, S. 41 f.):

  • „Das naturwissenschaftliche Wissen einer Person und deren Fähigkeit, dieses Wissen anzuwenden, um Fragestellungen zu identifizieren, neue Erkenntnisse zu erwerben, naturwissenschaftliche Phänomene zu erklären und auf Beweisen basierende Schlüsse über naturwissenschaftliche Sachverhalte zu ziehen.

  • Das Verständnis der charakteristischen Eigenschaften der Naturwissenschaften als eine Form menschlichen Wissens und Forschens.

  • Die Fähigkeit zu erkennen, wie Naturwissenschaften und Technologie unsere materielle, intellektuelle und kulturelle Umgebung prägen.

  • Die Bereitschaft, sich mit naturwissenschaftlichen Themen und Ideen als reflektierender Bürger auseinanderzusetzen.“

In derscientific community besteht weitgehender Konsens darin, dass naturwissenschaftliche Grundbildung verschiedene fachliche Kompetenzen und Wissensarten inklusive überfachliche Kompetenzen, z. B. Problemlöse-, Reflexions- und Kooperationsfähigkeit, beinhaltet. Hinzu kommen affektive Komponenten wie Neugierde und Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen (Noriss und Philipps2003; Osborne und Dillon2008). Es erstaunt daher nicht, dass in neuen Curricula der letzten Jahre die Idee derscientific literacy aufgenommen wird und in Lehrplänen der Länder Kapitel mit dem Titel „Naturwissenschaftliche Grundbildung“ auftauchen.

2.2 Erkenntnisgewinnung

Neben inhaltsbezogenen Kompetenzen wird in den deutschsprachigen Ländern wie auch international die naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung als wichtiger Kompetenzbereich naturwissenschaftlicher Grundbildung genannt. Während solche prozessbezogenen Fähigkeiten in Lehrplänen der Bundesrepublik Deutschland früher eher eine implizite Rolle spielten und fachlichen Inhalten untergeordnet waren, sehen die derzeitigen Bildungsstandards hierfür einen eigenständigen Bereich vor. Dabei werden z. B. für die Physik (KMK2004) fünf Tätigkeiten unterschieden: ZumWahrnehmen gehören das Beobachten und Beschreiben eines Phänomens und das Erkennen einer Problemstellung, zumOrdnen das In-Beziehung-Setzen und Systematisieren, zumErklären u. a. das Aufstellen von Hypothesen, zumPrüfen das Experimentieren und Auswerten und zumModellbilden das Idealisieren, Abstrahieren, Theoriebilden und Transferieren. In den Standards zur Biologie werden z. B. dasBeobachten,Vergleichen, Experimentieren, Modelle Nutzen undAnwenden von Arbeitstechniken genannt. Als weitere wichtige Felder naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung heben Duit et al. (2004) dasRecherchieren undKommunizieren einschließlich desArgumentierens hervor. Diese Auflistung ist nicht als festgelegte Abfolge zu verstehen und bildet auch keine Entwicklung zunehmender Komplexität, Schwierigkeit oder Wichtigkeit ab.

Dem Experimentieren als zentraler naturwissenschaftlicher Methode kommt besondere Bedeutung zu. Es umfasst Prozesse wie das Entwickeln einer Fragestellung, das Aufstellen von Vermutungen, das Planen und Durchführen eines Versuchs (wobei insbesondere die Kontrolle und Variation von Variablen eine wichtige Rolle spielen), das Beobachten, Messen und Dokumentieren wie auch das Aufbereiten von Daten und Schlüsse Ziehen (Hamann2004; Lunetta et al.2007; s. a. Abschn. 5.1). International ist für ein solch forschendes Vorgehen der BegriffScientific Inquiry bzw. Enquiry gebräuchlich. Das weit verbreitete sogenannte 5E-model von Bybee et al. (2006), das im Forschungsprozess die Schritteengaging, exploring, explaining, elaborating undevaluating unterscheidet, betont die Notwendigkeit der Einbindung von Experimenten in vor- und nachbereitende kognitive Aktivitäten. Eine Metastudie zur Effektivität vonscientific inquiry-orientiertem Unterricht belegt die Bedeutung der Verknüpfung von Handlungsprozessen mit kognitiven Prozessen: Unterricht, der das aktive Denken der Lernenden förderte und das Schlussfolgern aus vorliegenden Daten betonte, war im Hinblick auf konzeptuelles Verständnis erfolgreicher als ein eher auf Wissensvermittlung ausgerichteter Unterrichtsstil. Die alleinige Durchführung von Experimenten i. S. von sogenanntenhands-on-Aktivitäten zeigte sich dagegen als nicht wirksam (Minner et al.2010).

Während über die Bedeutung dieser Komponente naturwissenschaftlicher Grundbildung in derscientific community große Einigkeit besteht, ist die Frage, wie sich die Fähigkeit des Experimentierens entwickelt und wie sie im Unterricht gefördert werden kann, noch ein aktuelles Forschungsfeld. Grundlagen des Verständnisses wissenschaftlicher Forschungsmethoden im Sinne der Fähigkeit zur Planung von Experimenten, zur Interpretation von Daten und zur Reflexion über diesen Prozess sind in neuerer Forschung schon im Grundschulalter demonstriert worden. Allerdings benötigen Grundschulkinder viel unterstützenden Kontext; die selbständige Entwicklung eines kontrollierten Experiments gelang in einer vergleichenden Studie zwischen 12- und 18-jährigen Jugendlichen erst den 18-Jährigen (Bullock et al.2009). Grundschulkinder wie auch jüngere Sekundarstufenschüler scheinen zudem epistemologisch eher naiv zu sein. Sie stellen spontan keinen Bezug zwischen Befunden und Beobachtungen einerseits und Theorien oder Fragestellungen andererseits her. Wissenschaftliches Arbeiten wird häufig als Beschreibung von Beobachteten, Sammeln von Fakten oder Erzielen von Effekten im Sinne von Tüfteln und Probieren verstanden; Experimente werden nicht in Bezug zu Theorien und Hypothesen gesetzt; Daten werden als objektive Fakten betrachtet (Sodian et al.2002). Diese Befunde machen deutlich, dass es nicht ausreicht, das Experimentieren lediglich als Fertigkeit einzuüben. Vielmehr muss der Stellenwert des Experimentes im Rahmen eines vertieften Verständnisses über den Prozess der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung einsehbar gemacht werden.

Entsprechende Unterrichtsziele werden unter den Stichwortennature of science undnature of scientific inquiry international diskutiert (Lederman2007). Dass Unterricht ein elaboriertes Verständnis von Wissenschaft und wissenschaftlichem Forschen fördern kann, zeigte eine amerikanische Vergleichsstudie in der Sekundarstufe zu einem über mehrere Jahre erteilten Unterricht mit expliziten Anteilen zum Wissenschaftsverständnis (Smith et al.2000). Auch bei Grundschulkindern konnten das Wissenschaftsverständnis und die Experimentierkompetenz durch einen entsprechenden Unterricht, der auch die Meta-Ebene berücksichtigte, gefördert werden (Grygier2008).

Im deutschen Grundschulunterricht spielt das Experimentieren noch immer eine geringe Rolle, wie die TIMS-Studie (Martin et al.2008) für die 4. Klasse der Primarstufe zeigte: Nur ein Viertel der befragten Schüler gab an, mindestens einmal im Monat ein Experiment zu planen bzw. durchzuführen. In der Sekundarstufe hingegen wird ein Großteil der Unterrichtszeit dem Experimentieren gewidmet; allerdings scheint die Einbindung in vor- und nachbereitende kognitive Aktivitäten häufig unzureichend zu sein (Minner et al.2010; Börlinim Druck). Die sinnvolle Einbindung von Experimenten in den Unterrichtsprozess und die Förderung naturwissenschaftlicher Arbeits- und Denkweisen einschließlich der Förderung eines Verständnisses über den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess bleiben Forschungsdesiderata.

2.3 Fächerübergreifender naturwissenschaftlicher Unterricht

InterdisziplinaritätFootnote 2 – von Erziehungswissenschaft, Fachdidaktiken und Bildungspolitik immer wieder gefordert – präsentiert sich als Forschungs- und Spannungsfeld in nur wenigen Fächern so paradigmatisch wie in den Naturwissenschaften. Auf der einen Seite, so in Deutschland und Frankreich, gibt es Bildungssysteme mit Biologie, Chemie und Physik als getrennten Fächern, auf der anderen Seite, z. B. in der Schweiz oder in Kanada, Systeme mit einem Integrationsfach wie „Natur–Mensch–Mitwelt“ (Adamina und Müller2008) oder „Science–Technology–Society (STS)“ (Solomon und Aikenhead1994).

Im naturwissenschaftsdidaktischen Diskurs werden als Argumente für fächerübergreifenden Unterricht (füU) genannt (vgl. Labudde2008,2009): die Orientierung an den noch nicht in „Fachschubladen“ eingeordneten Präkonzepten der Lernenden, die Entwicklung der Bereitschaft, sich „Schlüsselproblemen der Menschheit“ zu stellen, die Förderung der Motivation der Schülerinnen und Schüler, ein mögliches Lernen in Projekten, die Förderung überfachlicher Kompetenzen wie vernetztes Denken oder Teamfähigkeit und ein gendergerechter Unterricht. Als Gegenargumente werden ins Feld geführt: Das Nicht-Erreichen fachlicher Ziele, die Komplexität fächerübergreifender Themen und die damit verbundene schwierige inhaltliche Auseinandersetzung, die Bevorzugung biologischer Themen im füU, die ungenügende, weil disziplinäre Fachausbildung der Lehrkräfte und die Gefahr der Stundenreduktion in den naturwissenschaftlichen Schulfächern.

Die Entwicklung fächerübergreifender Unterrichtskonzepte stand in den vergangenen 30 Jahren regelmäßig im Fokus fachdidaktischer Arbeiten. Dabei ging es – oft im Rahmen von Lehrplanentwicklungen – um Ziele und Inhalte eines Fachs Naturwissenschaften. Zu den Zielen zählen u. a.: „Kinder und Jugendliche [sollen] ihre Mitwelt selbständig entdecken und verstehen, Grundlagen für die persönliche Orientierung schaffen können, eigene Perspektiven für ihre Zukunft in der Mitwelt entwickeln und lernen verantwortungsvoll zu handeln.“ (Kanton Bern1995, NMM, S. 1) Im Sinne von STS wird unter Mitwelt nicht nur die naturwissenschaftliche, sondern auch die soziale „Welt“ eingeschlossen. Bei den Inhalten orientiert man sich nicht primär an der Fachsystematik, sondern an Themenfeldern wie z. B. „Von den Sinnen zum Messen“ oder „Körper und Gesundheit“. Mit den Themenfeldern, d. h. mit einem kontextorientierten Ansatz, wird so versucht, die Lebenswelt der Lernenden zu erschließen, ein Orientierungswissen aufzubauen sowie Alltagserfahrung und Fachwissen zu vernetzen.

So viele hermeneutisch basierte Diskussionen über füU geführt werden und so viele Unterrichtskonzepte existieren, so wenige empirische Untersuchungen gibt es. Einen Teil der empirischen Standards genügenden Studien fassen Bennet et al. (2007) in einer Meta-Analyse zusammen. Sie kommen bzgl. kontextbasiertem STS-Unterricht zu dem Schluss, dass dieser konventionellen, eher am Fach orientierten Ansätzen in folgenden Punkten überlegen ist: Verstehen naturwissenschaftlicher Ideen (starke empirische Evidenz), positive Einstellung zum Schulfach Naturwissenschaften (starke Evidenz), Reduktion der Genderdifferenzen hinsichtlich der Einstellung zu den Naturwissenschaften (mittlere Evidenz). Gegen mehrere empirische Studien lassen sich allerdings Vorbehalte anbringen. So kritisieren Bennet et al. (2007) und Labudde (2009) fehlende Kontrollgruppen, ungenügende Unabhängigkeit der für die Evaluation Verantwortlichen von den Zielen der Intervention sowie die Konfundierung der Vernetzung von Inhalten und Einsatz individualisierender Unterrichtsformen.

Als Forschungsdesiderata notieren sie: eine Theorie und Didaktik des füU entwickeln, fächerübergreifende Kontexte und fachliche Bezüge verknüpfen, dem füU angemessene Verfahren zum Beurteilen und Bewerten konzipieren, die interdisziplinäre fachliche und fachdidaktische Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ausbauen, Wirkungen von füU in Bezug auf naturwissenschaftliche Kompetenzen inkl. Fachwissen analysieren, die Instrumente zur Evaluation von füU standardisieren, das Design empirischer Studien zum füU qualitativ verbessern.

3 Naturwissenschaftlicher Unterricht im Fokus empirischer Forschung

Die empirische Forschung hat in den Naturwissenschaftsdidaktiken in den letzten 20 Jahren eine erhebliche Ausweitung erfahren. Beigetragen hat hierzu auch das Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Bildungsqualität in Schulen (BiQua), das auf eine Verbesserung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Bildung zielte (Prenzel und Allolio-Näcke2006), dieDFG-Forschergruppe und das DFG-Graduiertenkolleg zum naturwissenschaftlichen Unterricht an der Universität Duisburg-Essen wie auch verschiedene länderübergreifende Forschungsprojekte. Es lassen sich im Wesentlichen drei große Forschungsfelder unterscheiden: Die Erforschung von Schülervorstellungen, die bereits in den 1970er-Jahren begann und sich später zunehmend auf die Veränderung von Vorstellungen durch Unterricht konzentrierte (Abschn. 3.1), die Unterrichtsqualitätsforschung (3.2), in der nach Bedingungen und Voraussetzungen für Unterricht und erwünschte Wirkungen von Unterricht auf Zielkriterien gefragt wird, sowie Untersuchungen zur Wirksamkeit von Unterricht im Rahmen der sogenanntenlarge scale assessments (3.3). Einen zentralen Forschungsbereich stellen auch genderbezogene Untersuchungen dar (3.4). Dem wichtigen und neueren Bereich der Kompetenzmodellierung wird später ein eigenes Kap. 5 gewidmet.

3.1 Schülervorstellungen und deren Veränderung durch Unterricht

Forschungen zu Schülervorstellungen und deren Bedeutung für das Lehren und Lernen sind seit 40 Jahren ein wichtiges naturwissenschaftsdidaktisches Forschungsfeld (Wandersee et al.1994; Duit2009). Während die früheren Studien sich vor allem auf die Erforschung inhaltlicher Vorstellungen bezogen, werden seit den 1980er-Jahren auch Vorstellungen zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess, zum Wesen der Naturwissenschaft sowie zu metakognitiven Vorstellungen über das Lernen und Lehren von Naturwissenschaften erforscht (Treagust und Duit2008). Mit dem Begriff Schülervorstellungen werden sehr allgemein die von Lernenden gehaltenen Vorstellungen zu naturwissenschaftlichen Phänomenen, Prozessen und Denkweisen bezeichnet; zur Kennzeichnung der besonders intensiv erforschtenvorunterrichtlichen Vorstellungen sind Begriffe wiealternative conceptions, naive conceptions, Präkonzepte bzw. Alltagsvorstellungen gebräuchlich. Robuste Befunde der Schülervorstellungsforschung sind, dass Lernende mit Vorstellungen in den Unterricht eintreten, die sie durch Alltagserfahrungen oder in informellen Lernsituationen erworben haben, dass diese Erfahrungen häufig im Konflikt zu den wissenschaftlichen Sichtweisen stehen und dass nicht nur jüngere Lernende, sondern auch Erwachsene solche wissenschaftlich unzureichenden Vorstellungen haben (z. B. Müller et al.2004).

Der Aufbau angemessener wissenschaftlicher Vorstellungen erfordert in vielen Fällen eine Umstrukturierung bereits vorhandener Schülervorstellungen. Theoretisch werden Art und Bedingungen solcher Umstrukturierungen durchconceptual change-Ansätze beschrieben; die bedeutsamsten sind der auf dem kognitiven Konflikt basierende epistemologische Ansatz von Posner et al. (1982), der kognitive Umstrukturierungen von den Bedingungen der Unzufriedenheit mit dem vorhandenen Konzept sowie der Einsehbarkeit, Plausibilität und Fruchtbarkeit des neuen Konzepts beeinflusst sieht, der auf die zusätzliche Bedeutung von affektiven und sozialen Faktoren hinweisende Ansatz von Pintrich et al. (1993), die Statustheorie von Hewson et al. (1992), nach der im Unterricht erworbene Konzepte die Alltagsvorstellungen nicht ablösen, sondern diesen lediglich einen begrenzteren Status zuweisen, der Kohärenzansatz von Vosniadou et al. (2008), nach dem das anfängliche Wissen durch theorieähnliche, kohärente Strukturen gekennzeichnet ist und dieses Wissen auf dem Weg zur wissenschaftlichen Vorstellung verschiedene synthetische theorieähnliche Modelle durchläuft, sowie der Fragmentierungsansatz, der die Veränderung von Schülervorstellungen als Entwicklung eines fragmentarisierten, unstrukturierten und nur lose verknüpften Wissens zu einem zunehmend integrierten und generalisierten Wissen beschreibt (diSessa2008; ausführlich dazu: Treagust und Duit2008).

Während die Ansätze von Pintrich et al. und Hewson et al. als Erweiterungen und Differenzierungen des Modells von Posner et al. angesehen werden können, werden die beiden letzten Ansätze derzeit konkurrierend diskutiert. Aktuelle Forschungsbefunde deuten aber darauf hin, dass diese beiden Erklärungsmodelle nicht unbedingt alternativ zu betrachten sind, sondern die konzeptuelle Entwicklung in verschiedenen Subgruppen beschreiben könnten (Kleickmann et al.im Druck). Einig sind sich die Ansätze darin, dassconceptual change nicht als einfacher Austausch falscher gegen richtige Konzepte betrachtet werden kann, sondern eher als individueller Lernweg hin zu wissenschaftlich adäquateren Konzepten angesehen werden muss. Entsprechend wird vorgeschlagen, den im Deutschen gebräuchlichen, missverständlichen Begriff „Konzeptwechsel“ durch die Begriffe „konzeptuelle Entwicklung“ bzw. „konzeptuelle Rekonstruktion“ zu ersetzen (Treagust und Duit2008).

Eine große Herausforderung besteht darin, den Unterricht so zu gestalten, dass konzeptuelle Entwicklung unterstützt wird. Hierzu wurden die sog. Konfrontations-, Anknüpfungs- und Brückenstrategien entwickelt. Welche Strategie sich am besten eignet, hängt sowohl von den vorhandenen Schülervorstellungen als auch von den aufzubauenden wissenschaftlichen Vorstellungen ab (Möller2010). Trotz solcher konkreter methodischer Hilfen besteht nach Anderson (2007) noch eine große Lücke zwischen dem theoretischen Wissen überconceptual change und der Umsetzung in die Praxis.

Obwohl es eine Reihe von Untersuchungen gibt, die zeigen, dass ein an Schülervorstellungen orientierter Unterricht wirksamer ist als ein traditioneller Unterricht, ist die Forschungslage insgesamt schmal und teilweise uneinheitlich (für eine Übersicht: Ewerhardy2010). So legen die Ergebnisse einzelner Untersuchungen nahe, dass ein simples Erfragen von Schülervorstellungen nicht ausreicht, um konzeptuelle Veränderungen zu unterstützen (Ewerhardy2010). Treagust und Duit (2008) halten es daher für wesentlich, dassconceptual change-orientiertes Unterrichten in ein instruktionales Gesamtkonzept eingebettet sein muss und auf eine kognitive und motivationale Beteiligung der Lernenden ausgerichtet ist. Im Grundschulbereich scheinen zudem unterstützende Maßnahmen zur kognitiven Strukturierung notwendig, um anhaltende Konzeptveränderungen zu bewirken (Hardy et al.2006).

Weitere Untersuchungen machen auf die Bedeutung des professionellen Wissens und der Überzeugungen von Lehrpersonen aufmerksam. So wurde z. B. in einer Studie zum naturwissenschaftlichen Unterricht in der Primarstufe gezeigt, dass adäquate Vorstellungen von Lehrkräften überconceptual change und Schülervorstellungen mit einemconceptual change-fördernden Handeln im Unterricht (Kleickmann et al.2010) sowie mit dem Aufbau wissenschaftsnaher Vorstellungen bei Schülerinnen und Schülern signifikant zusammenhängen (Kleickmann2008). Da in der Schulpraxis transmissive Vorstellungen zum Lehren und Lernen noch weit verbreitet sind (Duit et al.2007), kommt der Veränderung solcher Vorstellungen im Rahmen der Lehreraus- und -weiterbildung eine große Bedeutung zu.

3.2 Unterrichtsqualität

Die Frage nach Merkmalen „guten“ Unterrichts wird in der Unterrichtsqualitätsforschung untersucht. Ziel dieser Forschung ist es, Merkmale von Unterricht, Lehrpersonen, Lernenden und systemischen Bedingungen zu identifizieren, die sich auf Zielkriterien von Unterricht auswirken. Zu den untersuchten Wirkungen von Unterricht gehören sowohl leistungsbezogene wie auch motivatonale und persönlichkeitsbezogene Variablen. Bedingungen und Wirkungen guten Unterrichts stellt Helmke (2009) in einem Angebots-Nutzungs-Modell dar (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Vereinfachtes Angebots-Nutzungs-Modell zur Wirkungsweise von Unterricht (Helmke2009; Lipowsky2006; modifiziert)

Im Hauptfokus der Untersuchungen zum naturwissenschaftlichen Unterricht stehen Merkmale des Unterrichts sowie das professionelle Wissen von Lehrkräften in ihrer Bedeutung für Wirkungen des Unterrichts. Eine Reihe von Studien hierzu wurde im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms zur Bildungsqualität des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts durchgeführt (zum Abschlussbericht: Prenzel und Allolio-Näcke2006). Methodisch kommen in den Untersuchungen zur Unterrichtsqualität vor allem Videostudien sowie Befragungen von Lehrpersonen und Lernenden zum Einsatz.

Neben individuellen Voraussetzungen (z. B. Vorwissen, allgemeine kognitive Fähigkeiten, Geschlecht) und fachunspezifischen Unterrichtsmerkmalen (z. B. Lernzeit,classroom management, allgemeine Strukturierung) werden aufgrund verschiedener Befunde (Lipowsky2006; Roth et al.2006; Einsiedler und Hardy2010; Ewerhardy et al.2012) folgende Unterrichtsmerkmale des naturwissenschaftlichen Unterrichts als lernförderlich angenommen:

  • eine klare und verständliche Präsentation von Inhalten,

  • die Aktivierung des Vorwissens der Lernenden und die Unterstützung von notwendigenconceptual change-Prozessen,

  • eine kognitiv anspruchsvolle Aufgabenkultur,

  • die Einbettung in sinnvolle Kontexte und die Anwendung von erworbenem Wissen durch die Lernenden,

  • die Etablierung einer diskursiven Unterrichtskultur,

  • das Ermöglichen von Selbsttätigkeit mit kognitivem Freiraum und Handlungsmöglichkeiten,

  • eine adaptive Unterstützung der Lernenden,

  • eine inhaltliche Strukturierung von Lernprozessen.

Weitere Forschungen sind notwendig, um einzelne Befunde zu erhärten bzw. widersprüchliche Befunde – z. B. zur Wirksamkeit des sogenannten konstruktivistisch orientierten Unterrichts – aufzuklären. Dabei sind neben Merkmalbündeln auch der Einfluss einzelner Merkmale sowie mediierender Faktoren zu untersuchen. Eine aktuelle tri-nationale vergleichende Videostudie zum Physikunterricht in Finnland, Deutschland und der Schweiz fand signifikante Unterschiede im Unterricht zwischen den Ländern mit Einflüssen auf die Wirkungen des Unterrichts (Neumann et al.2010). Danach wird in Finnland u. a. signifikant mehr geübt und wiederholt (Börlin et al.2011), hingegen weniger Zeit für das Experimentieren aufgewendet (Börlinim Druck). Weitere Analysen auf der Ebene der Tiefenstrukturen sind in Vorbereitung.

Besonderes Augenmerk muss auch auf die multikriteriale Zielerreichung gelegt werden, da neben leistungsbezogenen Wirkungen des Unterrichts motivationale und selbstbezogene Zielkriterien nicht vernachlässigt werden dürfen. Erste Ergebnisse hierzu liegen vor (Lange, in diesem Heft). Eine empirisch noch weitgehend ungeklärte Frage ist die nach der Schulstufen- bzw. Schulformabhängigkeit von Unterrichtsqualitätsmerkmalen.

Die Untersuchung des professionellen Wissens von Lehrpersonen ist ein aktuelles Forschungsgebiet der Expertiseforschung (Baumert und Kunter2006; Baumert et al.2010; Kunter et al.2011). Dabei geht es um die Frage, welches Wissen Lehrpersonen benötigen, um kognitiv und motivational anregende Lernumgebungen zu inszenieren und gewünschte Zielkriterien auf der Ebene der Lernenden durch Unterricht zu erreichen. Das Wissen wird zumeist in Anlehnung an Shulman (1986) in fachliches, pädagogisches und fachdidaktisches Wissen unterteilt. Hinzu kommen Vorstellungen zum Lernen und Lehren (beliefs) in den jeweiligen Unterrichtsfächern (Kleickmann2008). Die Forschung zu Zusammenhängen zwischen Merkmalen des Professionswissens und Wirkungen auf Seiten der Lernenden befindet sich in der Naturwissenschaftsdidaktik allerdings noch am Anfang. In Grundschuluntersuchungen erwiesen sich z. B. eine konstruktivistische Orientierung in den Vorstellungen von Lehrkräften zum Lehren und Lernen als förderlich für den Lernzuwachs zum Thema Schwimmen und Sinken, und das themenspezifische Wissen über Präkonzepte und Lernschwierigkeiten konnte einen bedeutsamen Anteil des Lernfortschritts in einem Unterricht zu Verdunstung/Kondensation aufklären (Kleickmann2008; Lange, in diesem Heft). Forschungsdesiderata sind die reliable und valide Erfassung von Aspekten des naturwissenschaftsdidaktisch relevanten Professionswissens, die Frage nach der Themenspezifität professionellen Wissens, der Zusammenhang zwischen Professionswissen und erteiltem Unterricht (Kleickmann et al.2010) sowie die Wirkung professionellen Wissens und motivationaler und selbstbezogener Merkmale der Lehrpersonen auf multikriteriale Zielkriterien von Unterricht.

3.3 Bedeutung von large-scale-assessments

Der naturwissenschaftliche Unterricht und seine Fachdidaktiken haben wichtige Anstöße durch internationale Vergleichsstudien erhalten bzw. diesen gegeben (Sumfleth2002). Zu den Studien zählen das „Programme for International Student Assessment“ (PISA, seit 2000 alle drei Jahre) und die „Trends in Mathematics and Science Study“ (TIMSS 2007 – vgl. Martin et al.2008).

Auf medialer und politischer Ebene interessieren meist nur die Länder-Rankings: So lagen Deutschland und die Schweiz in PISA 2009 signifikant über, Österreich unter dem OECD-Mittelwert, in allen drei Ländern aber unter den eigenen Erwartungen. Für den naturwissenschaftlichen Unterricht, die Fachdidaktiken und die Erziehungswissenschaft sind eher die zahlreichen Detailergebnisse von Interesse. Für denSekundarbereich (OECD2007; Prenzel et al.2007; Klieme et al.2010) sind dies zum Beispiel:

  • In den drei deutschsprachigen Ländern finden sich keine Hinweise auf besondere Stärken oder Schwächen in den drei von PISA definierten Teilkompetenzen „naturwissenschaftliche Fragestellungen erkennen, Phänomene erklären und Evidenz nutzen“.

  • Bei den Testleistungen gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Gegensatz zu vielen anderen OECD-Ländern kaum statistisch signifikante Genderdifferenzen. Hingegen weisen Jungen ein signifikant höheres Fähigkeitsselbstkonzept auf als Mädchen. Zudem sind sie in der Spitzengruppe, d. h. in den PISA-Niveaus V und VI, welche in Deutschland 12 % eines Jahrgangs umfassen, mit 60 % gegenüber den Mädchen (40 %) deutlich überrepräsentiert. Dass diese 40 % Mädchen ein geringeres Interesse an Naturwissenschaften aufweisen würden, ließ sich hingegen nicht bestätigen.

  • Die allgemeine und auch die persönliche Bedeutung, welche die deutschen, österreichischen und Schweizer 15-Jährigen den Naturwissenschaften beimessen, liegen signifikant unter den OECD-Mittelwerten. Ebenso liegt der Anteil der Jugendlichen, welche sich vorstellen können im Alter von 30 Jahren einen naturwissenschaftlichen Beruf auszuüben, in den drei Ländern mit ca. 20 % deutlich unter dem OECD-Schnitt von 25 %.

  • Die Unterrichtszeit für Naturwissenschaften weist in Österreich und der Schweiz gegenüber dem OECD-Mittel einen signifikant tieferen, in Deutschland einen leicht höheren Wert auf.

Für denGrundschulbereich ermöglichte die TIMS-Studie 2007 erstmalig einen internationalen Vergleich (Martin et al.2008):

  • Deutschland liegt im oberen Leistungsdrittel aller Teilnehmerstaaten, aber nicht signifikant über dem EU-Durchschnitt. Die Grundhaltung der Kinder zu den Naturwissenschaften ist ausgesprochen positiv und spiegelt sich in einem hohen Vertrauen in die eigene Kompetenz, wodurch sich positive Bedingungen für weiteres Lernen ergeben.

  • Unter den teilnehmenden OECD- und EU-Staaten ist Deutschland das Land mit den höchsten Geschlechterdifferenzen, wobei die Mädchen niedrigere Leistungen aufweisen als die Jungen. Deutschland gehört auch zu den wenigen Ländern, in denen Jungen ein signifikant höheres Fähigkeitsselbstkonzept haben.

  • In keinem der beteiligten Länder gibt es einen engeren Zusammenhang zwischen gemessener Kompetenz und Buchbesitz der Eltern als in Deutschland.

  • Ungefähr die Hälfte des abgetesteten Wissens wurde nach Auskunft der Lehrkräfte nicht in der Schule unterrichtet. Ein großer Teil der gemessenen Kompetenzen scheint daher auf außerschulischen Lerngelegenheiten zu basieren, wodurch sich auch der sozioökonomische Einfluss erklären könnte.

  • Die Lehrpersonen von zwei Drittel aller getesteten Kinder geben an, nicht gut auf das Unterrichten von chemischen und physikalischen Inhalten vorbereitet zu sein.

PISA und TIMSS liefern nicht nur diese und weitere deskriptive statistische Befunde, sondern haben in verschiedensten Bereichen zu Veränderungen geführt: zunehmendes Globalisieren der naturwissenschaftlichen Bildung durch das Konzept derscientific literacy (s. a. Abschn. 2.1), Entwickeln von Kompetenzmodellen und Bildungsstandards (5.1), Initiieren von Forschungsprogrammen und Modellversuchen zum naturwissenschaftlichen Unterricht (3.3, 5.3), auch im Hinblick auf Gendergerechtigkeit (3.4), Steigern der Bedeutung der Psychometrie in der fachdidaktischen Forschung, Sensibilisieren von Öffentlichkeit und Politik für die naturwissenschaftlich-technische Bildung.

Large-scale-assessments haben zudem dem naturwissenschaftlichen Unterricht und der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung starke Impulse gegeben und zahlreiche Forschungsfelder offen gelegt: Suche nach Gründen für die Länderdifferenzen, insbesondere die Analyse der Unterrichtsqualität auf nationaler Ebene wie auch im internationalen Vergleich (3.2), Professionalisierung der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, Stärkung der frühkindlichen Bildung (5.2), Förderprogramme für Kinder und Jugendliche aus dem untersten bzw. obersten Teil des Leistungsspektrums.

3.4 Gendergerechter naturwissenschaftlicher Unterricht

Die Leistungsdifferenzen zwischen Jungen und Mädchen inlarge-scale-assessments, die Abwahl von Physik und Chemie in der Oberstufe durch junge Frauen sowie deren geringe Neigung, einen naturwissenschaftlich-technischen Beruf zu ergreifen, lösten Fragen nach den Gründen aus. Viele sind gesellschaftlich bedingt, andere schulisch. Vor allem im Physik-, Chemie- und Technikunterricht, kaum hingegen in der Biologie, stellen sich u. a. folgende Probleme (für eine Übersicht siehe Murphy und Whitelegg2006): Mädchen bringen andere Vorerfahrungen und Interessen mit als Jungen – der Unterricht knüpft aber an diese Erfahrungen und Interessen zu wenig an; das Fähigkeitsselbstkonzept bezüglich der Naturwissenschaften liegt bei Mädchen markant tiefer als bei Jungen; Physik und Technik sind bei Jugendlichen und Erwachsenen männlich konnotiert, daher können sie bei Mädchen wenig zum Aufbau einer eigenen Geschlechtsidentität beitragen, was die Genderdifferenzen mit dem Einsetzen der Pubertät verschärft; Lehrkräfte widmen Mädchen weniger Aufmerksamkeit und Zeit als Jungen, manche trauen ihnen weniger zu.

Welche belastbaren Resultate liefert die naturwissenschaftsdidaktische Forschung, um den Physik- und Chemieunterricht gendergerechter zu gestalten? Die unterrichtlichen Maßnahmen lassen sich auf sechs Ebenen verorten (vgl. Labudde und Bruggmann Minnig2010, S. 204–207):

  1. 1.

    Selbstkonzept und Stereotypisierungen: Das Fähigkeitsselbstkonzept der Mädchen gezielt fördern, Erfolgserlebnisse ermöglichen, Stereotypisierungen von Schulfächern abbauen.

  2. 2.

    Vorerfahrungen und Inhalte: Die individuellen und z. T. geschlechtsspezifischen Vorerfahrungen und Interessen integrieren, Bezüge zu Menschen und zur Lebenswelt herstellen.

  3. 3.

    Interaktionen und Zutrauen: Den Schülerinnen gleich viel Aufmerksamkeit zukommen lassen wie den Schülern, ihnen ebenso viel zutrauen, sie nicht nur für Anstrengung und Wohlverhalten loben, sondern auch für naturwissenschaftliche Begabung und Leistung.

  4. 4.

    Lernformen und Lernklima: Vermehrt individualisierende Unterrichtsformen einsetzen, den Unterricht kommunikativer und kooperativer gestalten, dem assoziativen Denken genügend Platz einräumen.

  5. 5.

    Begleiten und Bewerten: Die einzelnen Lernenden aktiv begleiten und ihnen immer wieder individuelle Rückmeldungen geben, das ganze Spektrum naturwissenschaftlicher Kompetenzen fördern und bewerten, die Prüfungskultur erweitern.

  6. 6.

    Monogeschlechtliche Gruppen: Bei Gruppenarbeit geschlechterhomogene Teams bilden, wenn möglich den Unterricht phasenweise getrenntgeschlechtlich durchführen.

Die unterrichtlichen Maßnahmen sind durch entsprechende Schulentwicklungen, Weiterbildungen von Lehrpersonen, Elternarbeit und eine adäquate Frühbildung zu ergänzen (Abschn. 5.2).

Die Genderfrage liegt derzeit nicht im Mainstream naturwissenschaftsdidaktischer Forschung, obwohl zahlreiche Forschungsfelder zu bearbeiten wären: Weitere Maßnahmen zum Stärken des Fähigkeitsselbstkonzepts entwickeln und ihre Effektstärken bestimmen; den Aufbau weiblicher Geschlechtsidentität und das Lernen von Physik, Chemie und Technik in Einklang bringen; Prüfungsformen und Beurteilungsformate erweitern, um das ganze Spektrum naturwissenschaftlicher Kompetenzen zu überprüfen und Erfolgserlebnisse zu ermöglichen; geeignete Formen der Elternarbeit entwickeln; nachhaltige Weiterbildungsangebote für Lehrpersonen konzipieren. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das letztgenannte Forschungsfeld das kurzfristig erfolgversprechendste: Viele Maßnahmen für einen gendergerechten Unterricht sind bekannt, aber Lehrkräfte setzen sie im Unterricht noch zu wenig um.

4 Inhaltliche Erneuerung des naturwissenschaftlichen Unterrichts

Neue biologische, chemische und physikalische Forschungsresultate führen bzw. sollten zu einer regelmäßigen Überprüfung und Erneuerung der Unterrichtsinhalte führen. Die sog. Stoffdidaktik widmet sich dieser wichtigen Aufgabe. Die von ihr bearbeiteten Fragen werden im ersten Teilkapitel vorgestellt. Ein zweiter Abschn. 4.2 ist einer der inhaltlichen Erneuerungsarbeit angemessenen Vorgehensweise, der sogenannten didaktischen Rekonstruktion, gewidmet.

4.1 Nanotechnologie, Gentechnologie, Quarks und Co.

Es gibt kaum andere Schulfächer, bei welchen die Bezugsdisziplinen, hier Biologie, Chemie, Physik und Technikwissenschaften, kontinuierlich so viel neues Wissen produzieren wie in den naturwissenschaftlichen Fächern. Das Aufarbeiten neuer Stoffinhalte für verschiedene Schulstufen und -typen gehört daher zu den genuinen Aufgaben der Naturwissenschaftsdidaktiken. Die Mehrzahl der Publikationen in fachdidaktischen Journalen oder in Zeitschriften für Lehrkräfte liegt in diesem Bereich. Dabei lassen sich verschiedene Typen von Arbeiten – nicht immer ganz trennscharf – unterscheiden:

Aufarbeitung neuen Fachwissens. Typische Beispiele aus dem zurückliegenden Jahrzehnt sind das Handy, das Global Positioning System (GPS), die Nanotechnologien und die Gentechnologie. Bei der fachdidaktischen Aufarbeitung geht es primär um Fragen, die eng an die Fachinhalte gekoppelt sind: Welche Inhalte sind für die Schule relevant? Wie lassen sich Komplexität und Abstraktion stufengerecht reduzieren? Gibt es, von der Fachsystematik her gedacht, besonders einleuchtende Erklärungswege? Welche Unterrichtsmaterialien, insbesondere welche Demonstrations- oder Schülerexperimente, helfen beim Veranschaulichen der Inhalte? Gerade der letzten Frage, deren Beantwortung ein hohes Maß an Fachwissen und Kreativität voraussetzt, widmen viele Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker einen Großteil ihrer Arbeit.

Aufarbeitung neuen Fachwissens gekoppelt mit ergänzenden fachdidaktischen Fragen. In einzelnen Fällen geht man über die Aufarbeitung neuen Wissens hinaus und verbindet sie mit unterrichtsmethodischen oder lernpsychologischen Fragen: Welches methodische Vorgehen wäre im Unterricht besonders geeignet, z. B. Lernen an Stationen oder Projektmethode? Wie lassen sich Kleingruppenarbeit und Aktivitäten von Jugendlichen, die einfache Experimente z. B. zur Gentechnologie durchführen, auf der Basis von Videoaufnahmen kategorisieren? Bei derartigen Fragen geht die sogenannte Stoffdidaktik, welche mit der Aufarbeitung neuen Fachwissens und der Konzeption neuer Unterrichtseinheiten eng an den Stoff bzw. die jeweilige Fachdisziplin gebunden ist, Hand in Hand mit einer eher lernpsychologisch und empirisch orientierten Fachdidaktik.

Einsatz neuer Technologien. Ähnlich wie auch in anderen Schulfächern halten neue Technologien Einzug in den naturwissenschaftlichen Unterricht. Widmete sich in den 1970er-Jahren die Fachdidaktik der Frage nach dem Einsatz von Taschenrechnern im Unterricht, sind es seit den 80er- bzw. 90er-Jahren der Computer sowie die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (Abell und Lederman2007).

Als Folge des erweiterten Fachwissens müssen die Stoffkataloge für die Schule und damit die Lehrpläne immer wieder überprüft und angepasst werden. Traditionelle Inhalte, wie z. B. Artenkenntnisse in der Biologie oder die geometrische Optik in der Physik, sind zugunsten neuer Inhalte zu kürzen. Die Aufarbeitung neuer Erkenntnisse aus der aktuellen biologischen, chemischen und physikalischen Forschung gehört deshalb zu den wichtigen Daueraufgaben der Naturwissenschaftsdidaktiken. Bei der Entwicklung neuer Unterrichtsthemen sollten allerdings stärker als bisher die naturwissenschaftsdidaktische Forschungslage sowie die Untersuchung der Wirksamkeit der entwickelten Unterrichtsszenarien berücksichtigt werden.

4.2 Didaktische Rekonstruktion aus Fach- und Lernendenperspektive

Mit dem Modell der Didaktischen Rekonstruktion schafften Kattmann et al. (1997) eine theoretische Basis zur Entwicklung von Unterrichtskonzepten, -einheiten und -materialien, in welchem sie Fachsystematik und Lernprozesse in eine Balance bringen. Sie postulieren einerseits die fachliche Perspektive (Abschn. 4.1), andererseits die Präkonzepte und Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler zu erfassen (Abschn. 3.2), um dann beides aufeinander zu beziehen und auf diese Weise den Unterricht didaktisch zu strukturieren (s. Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Modell der Didaktischen Rekonstruktion (Metzger2010, S. 45; Kattmann et al.1997)

In dem Modell wird davon ausgegangen, dass die Unterrichtsinhalte nicht von den Fachwissenschaften und ihrer Systematik vorgegeben sind, sondern in pädagogischer und fachdidaktischer Zielsetzung erst hergestellt, d. h. didaktisch rekonstruiert werden. „Grundlage […] ist die Interpendenz fachdidaktischer und fachlicher Perspektiven. […] Bei der fachlichen Klärung handelt es sich um eine hermeneutisch-analytische, bei der Erfassung der Lernerperspektive um eine empirische und bei der didaktischen Strukturierung um eine konstruktive Untersuchungsaufgabe.“ (Kattmann et al.1997, S. 4 f., 10)

Die fachliche Klärung führt zur so genannten Elementarisierung, d. h. zur Vereinfachung des Inhalts, zur Bestimmung der elementaren Kernideen und zur Zerlegung des Inhalts in (methodische) Elemente. Das Erfassen der Lernerperspektive beinhaltet Interessen und Präkonzepte der Lernenden, mögliche Lernschwierigkeiten und avisierte Konzeptwechsel. In der didaktischen Strukturierung werden zunächst die Lernziele bestimmt, um dann die fachliche Perspektive und diejenige der Lernenden einzubringen, aufeinander zu beziehen und so den Unterricht zu strukturieren bzw. entsprechende Lernumgebungen zu entwerfen (Metzger2010). Dabei wird implizit davon ausgegangen, dass sich die Lernziele aus den Lehrplänen ergeben. Kritiker/-innen wenden ein, dass dies nur beschränkt möglich sei und dass die Analyse der fachlichen Perspektive und derjenigen der Lernenden zu einer Veränderung der ursprünglich avisierten Lernziele führen könne bzw. müsse.

Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion wurde vielfach aufgegriffen: Der Artikel von Kattmann et al. gehört zu den meistzitierten deutschsprachigen fachdidaktischen Publikationen und dient vielen Forschungsarbeiten als methodische Grundlage. Auch die Professionalisierung von Lehrpersonen im Rahmen der Aus- und Weiterbildung erhielt durch das Modell wichtige Impulse.

Aus der Forschungsperspektive bestehen folgende Desiderata: Die Ausdifferenzierung des Modells; das Einbeziehen weiterer Perspektiven, z. B. von Zielen, Kompetenzen, Unterrichtsmethoden, Sozialformen und Beurteilungsformen; die Implementation der didaktischen Rekonstruktion in die Curricula der Lehreraus- und Weiterbildung und die Evaluation der Wirkung rekonstruierter Unterrichtsszenarien.

5 Weiterentwicklung und Implementation naturwissenschaftlicher Bildung

Wie gelangen neue naturwissenschaftliche Bildungs- und Unterrichtskonzepte in die Schule bzw. wie erreichen sie Lehrende und Lernende? Die aktuellste Antwort der Bildungspolitik lautet „Kompetenzmodelle und Standards“ (5.1). Dabei spielt nicht nur in diesen, sondern auch in neueren fachdidaktischen Studien die frühe naturwissenschaftliche Bildung eine besondere Rolle (5.2). Wenn es schlussendlich um die Umsetzung neuer Konzepte in die tägliche Schulpraxis geht, sind Lehrpersonen die entscheidenden Akteure. In mehreren Modellversuchen hat man im zurückliegenden Jahrzehnt hierzu positive Erfahrungen sammeln können (5.3).

5.1 Kompetenzmodelle und Bildungsstandards

Zur schulischen Qualitätsentwicklung setzt die Bildungspolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf eine Kombination von Schulautonomie und zentralen Evaluations- und Prüfungsverfahren (Altrichter und Maag Merki2010; Klieme et al.2010, S. 288–329). Letzteren liegen Kompetenzmodelle und Bildungsstandards zugrunde, welche von den politischen Instanzen verabschiedet worden sind (KMK2004; EDK2011). Im Folgenden werden das Schweizer Kompetenzmodell Naturwissenschaften und die zugehörigen Bildungsstandards vorgestellt.

Im Rahmen des bildungspolitischen Großprojektes HarmoS (Harmonisierung der obligatorischen Schule) ließ die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) für fünf Fächer je ein Kompetenzmodell und Bildungsstandards für das Ende des 2., 6. und 9. Schuljahres entwickeln. Das Kompetenzmodell für die Naturwissenschaften umfasst acht sogenannte Handlungsaspekte und sieben Themenbereiche (s. Abb. 3). Bei letzteren handelt es sich um Themenfelder, wie sie für den fächerübergreifenden Unterricht typisch sind (s. Abschn. 2.3). Eine Kompetenz ist im Schnittpunkt eines Handlungsaspekts mit einem Themenbereich zu verorten. Zu den Handlungsaspekten zählen kognitive, wie die für die Naturwissenschaften konstitutiven Aspekte „Fragen und untersuchen“ oder „Ordnen, strukturieren, modellieren“, affektive Aspekte „Interesse und Neugierde entwickeln“ und eher fächerübergreifende Aspekte wie „Eigenständig arbeiten“. Jeder Aspekt umfasst mehrere Teilaspekte (Konsortium HarmoS Naturwissenschaften2008).

Abb. 3
figure 3

Das Schweizer Kompetenzmodell für die Naturwissenschaften (EDK2011, S. 6)

Die hier beschriebenen repräsentativen Validierungstests ermöglichten es, auf das Kompetenzmodell bezogene Aufgaben bzw. Items dahingehend zu überprüfen, ob sie sich in eine Dimension naturwissenschaftlicher Kompetenz einordnen lassen und über die kulturellen und didaktisch-unterrichtlichen Grenzen der Sprachregionen hinweg verwendbar sind. Damit konnten insbesondere die Basisstandards mit empirisch verankerten Aufgaben von bekannter Schwierigkeit illustriert werden. Weiter konnten die Dimensionalität des Kompetenzmodells überprüft und der Kompetenzunterschied zwischen 6. und 9. Schuljahr sowie die Überlagerung der beiden Kompetenzverteilungen untersucht werden.

Weiter wurde die Dimensionalität des Kompetenzmodells überprüft und der Kompetenzunterschied zwischen 6. und 9. Schuljahr sowie die Überlagerung der beiden Kompetenzverteilungen untersucht (Ramseier et al.2011). Die empirischen Resultate sowie belastbare Ergebnisse der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung, hermeneutisch-analytische Überlegungen aus Fachdidaktik und Pädagogik sowie politische Argumente führten in einem mehrjährigen wissenschaftlich und bildungspolitisch bestimmten Prozess zu den jetzt verabschiedeten Bildungsstandards. Als Beispiel seien die Grundkompetenzen für das Ende des 6. Schuljahres zu „Fragen und untersuchen“ genannt (EDK2011, S. 26):

„Die Schülerinnen und Schüler können:

  • einfache Situationen und Phänomene mit mehreren Sinnen wahrnehmen, beobachten und beschreiben und dazu Fragen […] aufwerfen;

  • angeleitet Erkundungen, Untersuchungen und Experimente durchführen und dabei […] Daten sammeln und auswerten;

  • beim Erkunden, Untersuchen und Experimentieren sowie beim technischen Konstruieren geeignete Werkzeuge, Instrumente und Materialien auswählen und einsetzen;

  • Ergebnisse aus Erkundungen, Untersuchungen und Experimenten in verschiedenen Formen einfach darstellen und sie kommentieren;

  • die Planung, Durchführung und Auswertung beschreiben und aus persönlicher Sicht beurteilen.“

Ergänzt und veranschaulicht werden diese Beschreibungen durch Bezüge zu den Themenbereichen und durch Aufgabenbeispiele. Auf der Basis von Kompetenzmodell und Standards werden bis 2014 sprachregionale Lehrpläne erarbeitet und anschließend Tests im Rahmen eines nationalen Bildungsmonitorings durchgeführt. Darüber hinaus wollen einzelne Kantone neben den Grundkompetenzen (Basisstandards) auch „erweiterte Leistungsanforderungen“ (Regelstandards) und „hohe Leistungsanforderungen“ (Maximalstandards) definieren sowie selektive Abschlussprüfungen am Ende der Primar- und SI-Stufe durchführen. Das Kompetenzmodell in Abb. 3 wird also durch eine dritte Achse mit drei Anforderungsniveaus ergänzt.

Welche Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede bestehen zu den deutschen KMK-Standards für Biologie, Chemie, Physik? Deutschland formuliert Standards für jede der drei Naturwissenschaften, die Schweiz für das Integrationsfach Naturwissenschaften (vgl. Abschn. 2.3). In der Schweiz und in Deutschland liegen, nimmt man die Achse mit den Anforderungsniveaus hinzu, dreidimensionale Kompetenzmodelle vor: eine Achse mit Handlungsaspekten (EDK) bzw. Kompetenzbereichen (KMK), eine mit Themenbereichen bzw. Basiskonzepten, eine mit Niveaus (vgl. Schecker und Parchmann2006). Bei den Handlungsaspekten gibt es große Überschneidungen, z. B. „Kommunikation“ (KMK) und „Mitteilen und austauschen“ (EDK), „Bewertung“ (KMK) und „Beurteilen und bewerten“ (EDK). Zur Illustration wurden in beiden Ländern Aufgabenbeispiele entwickelt, z. T. unterlegt durch entsprechende theoretische Modelle (z. B. Kauertz2008). In der Schweiz dienten die Beispiele zusätzlich zur Validierung des Kompetenzmodells. Die KMK erließ Regelstandards für den Mittleren Schulabschluss, die EKD hingegen Basisstandards für 2., 6. und 9. Schuljahr.

Die von der Politik initiierten Kompetenzmodelle und Bildungsstandards lösten zahlreiche Diskussionen und Arbeiten aus, welche die Naturwissenschaftsdidaktiken derzeit und auch in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen werden. Zu den Forschungsdesiderata zählen (vgl. Labudde2007; Labudde et al.2009):

  • Bisher noch wenig elaborierte naturwissenschaftliche Kompetenzbereiche wie Kommunikation (Kulgemeyer2010) und Bewertung (Bögeholz et al.2004) sind zu modellieren, zugehörige Standards sind auszudifferenzieren und zu validieren.

  • Es sollten Lernumgebungen für einen kompetenzorientierten Unterricht entwickelt und evaluiert werden, um so einen Beitrag zur Implementation von Standards zu leisten (vgl. Oelkers und Reusser2008).

  • Ebenfalls sind Aufgaben und Testkonzepte für das Bildungsmonitoring (in Deutschland für Biologie, Chemie, Physik für 2012 geplant) bzw. für Vergleichsarbeiten und zentrale Abschlussprüfungen zu entwickeln und zu evaluieren.

  • Bezüglich Begriffen und Konzepten muss die Anschlussfähigkeit an die internationalen naturwissenschaftsdidaktischen Diskussionen gewährleistet werden; diese ist – anders als im deutschsprachigen Raum – weniger durch den Kompetenz- und Standardbegriff geprägt (Waddington et al.2007; Bernholt et al.2012).

  • Die Kritik an Bildungsstandards, wie „Reduktion von Bildung auf das Messbare“, „Teaching to the test“ oder „Vernachlässigung von nicht in Papier-und-Bleistift-Tests überprüfbaren Kompetenzen“ muss beachtet werden.

  • Die hohe Verantwortung beim Thema Bildungsstandards sollte diskutiert werden.

5.2 Implementation einer frühen naturwissenschaftlichen Bildung

Seit den 1990er-Jahren wird die naturwissenschaftliche Bildung im Grundschulalter wieder verstärkt diskutiert, nachdem die erste Phase der Wissenschaftsorientierung in den 70er-Jahren nicht zu einer dauerhaften Verankerung einer frühen naturwissenschaftlichen Bildung führen konnte (Möller2002). Zur Wiederbelebung der Diskussion haben Ergebnisse aktueller Schulleistungsstudien (Bos et al.2003; Martin et al.2008), der offensichtlich gewordene Nachwuchsmangel in naturwissenschaftlich und technisch orientierten Berufen wie auch neuere Ergebnisse aus der grundschulbezogenen Lehr-Lernforschung beigetragen. Inzwischen sind naturwissenschaftliche Inhalte in den amtlichen Vorgaben für den Primar- sowie für den Elementarbereich in vielen Staaten etabliert.

Über die Ziele einer frühen Förderung gibt es einen weitgehenden Konsens. Sie werden in Anlehnung an das oben beschriebene Konzept vonscientific literacy in ähnlicher Form in internationalen Lehrplänen wie auch im Perspektivrahmen der deutschen Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU2002) beschrieben, sind multikriterial angelegt und beziehen sich auf

  • die Entwicklung von naturwissenschaftlichem Wissen und Verständnis

  • die Entwicklung von Wissen über naturwissenschaftliche Arbeits- und Denkweisen sowie ein beginnendes Verständnis über das Wesen der Naturwissenschaft (scientific inquiry undnature of science)

  • die Entwicklung motivationaler Orientierungen, wozu das Interesse am Nachdenken über Naturphänomene und das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten, etwas herausfinden und verstehen zu können, gehören.

Dass auch Grundschulkinder schon in der Lage sind, konzeptuelles Verständnis, Methodenverständnis sowie ein zumindest beginnendes Verständnis für das Wesen der Naturwissenschaften zu entwickeln, konnte in mehreren Studien gezeigt werden (vgl. dazu Möller et al.2011,2012). Untersuchungen deuten aber auch darauf hin, dass z. B. die naiven Vorstellungen von Grundschulkindern zu Phänomenen der Natur (wie z. B. Verdunsten und Kondensieren, Auftrieb) auch noch in der 4. Klasse stark fragmentiert und kontextabhängig sind und konzeptuelle Veränderungen erfordern (Kleickmannim Druck). Leider vernachlässigen viele der auf dem Markt befindlichen Lernmaterialien die Unterstützung konzeptueller Entwicklung und fokussieren stattdessen aufhands-on-Aktivitäten, die nur unzureichend in Denkprozesse eingebunden sind und mit einer transmissiven Wissensvermittlung durch die Lehrperson einhergehen (Mayer2004; Möller2009).

Erschwert wird die Implementation eines verstehensfördernden Unterrichts durch das bei vielen Lehrpersonen im Primar- und Elementarbereich begrenzte fachdidaktische und fachliche Wissen (Appleton2007; Möller2004). Welches Wissen Lehrende benötigen, um an die Lernmöglichkeiten von jüngeren Kindern angepasste Lernumgebungen zu entwickeln und gewünschte Wirkungen bei den Lernenden zu erzielen, wie dieses Wissen erfasst werden kann und wie Aus- bzw. Fortbildungsveranstaltungen für den Primar- und Elementarbereich konzipiert werden sollten, um dieses Wissen zu erzeugen, sind Desiderata zukünftiger Forschung. Ein weiteres Problem stellt die mangelnde Verzahnung des Unterrichts im Elementar-, Primar- und Sekundarbereich dar. Nicht selten werden dieselben Inhalte mit denselben Zielsetzungen in aufeinanderfolgenden Schulstufen simpel wiederholt, ohne dass ein sequentieller Aufbau von Kompetenzen beachtet wird. Ob und wie eine naturwissenschaftliche frühe Bildung späteres naturwissenschaftliches Lernen sowie motivationale Orientierungen bei Jugendlichen zu fördern vermag, müsste in längsschnittlichen Studien zur Entwicklung von naturwissenschaftlichen Kompetenzen über die Schulstufen hinweg untersucht werden (für einen Überblick vgl. Möller et al.2011).

5.3 Unterrichtsentwicklung in Modellversuchen

Ausgelöst durch die unerwartet schlechten Resultate von TIMSS und PISA wurde das letzte Jahrzehnt zum Jahrzehnt der Modellversuche: Die bekanntesten sind SINUS und SINUS-Transfer (Prenzel et al.2009), SINUS-Grundschule, das Trio „Physik, Chemie und Biologie im Kontext“ (Literatur unter http://www.ipn.uni-kiel.de/projekte/abgeschl_projekte.html) sowie das österreichische Projekt IMST (Innovations in Mathematics andScience Teaching, Krainer et al.2009). Der Umfang der Modellversuche ist eindrücklich; so nahmen im größten Versuch, SINUS-Transfer, mehr als 1.800 Schulen mit 10.000 Lehrkräften teil.

Allen Modellversuchen gemeinsam war das Ziel einer Erneuerung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts, wie er auch auf internationaler Ebene diskutiert wird (Osborne und Dillon2008). Reformelemente waren dabei z. B.: das selbstständige Lernen fördern, die Aufgabenkultur erneuern, die Fachinhalte in lebensweltliche Kontexte einbetten, den Unterricht gendergerechter gestalten und das experimentelle Arbeiten qualitativ weiterentwickeln. Die Modellversuche setzten auf der Ebene der Lehrkräfte an; aus jeder Modellschule arbeiteten zwei oder mehr Lehrpersonen mit. Dank einer Entlastung von ein oder mehr Jahresstunden hatten sie Zeit Fortbildungen zu besuchen, innovative Unterrichtskonzepte zu entwickeln und zu erproben, diese anderen auf den websites des Modellversuchs oder in Publikationen zugänglich zu machen und in ihrem Umfeld Schulentwicklung zu initiieren. Die beteiligten Lehrpersonen sollten sich zureflective practitioners entwickeln und ihrpedagogical content knowledgeerweitern (Krainer et al.2009; Prenzel et al.2009).

Je fünf bis zehn Modellschulen waren regions- oder länderweise in sogenannten Sets zusammengefasst und wurden von Set-Koordinatoren bzw. -Koordinatorinnen begleitet. Letztere waren bundesweit zusammengeschlossen. Sie betreuten nicht nur die einzelnen Schulen, sondern kooperierten auch mit Schulleitungen und -behörden und organisierten regionale Weiterbildungsveranstaltungen sowie Treffen zwischen den Schulen. Die Leitung der Modellversuche lag in den meisten Fällen bei Naturwissenschaftsdidaktik- bzw. Pädagogikfachleuten. Sie sahen ihre Arbeit mit den Lehrkräften als „symbiotische Kooperation“ (Mikelskis-Seifert und Duit2010). Alle Modellversuche wurden wissenschaftlich begleitet und evaluiert (Krainer et al.2009; Prenzel et al.2009). In mehreren Büchern und Zeitschriftenartikeln wurden wichtige Resultate festgehalten.

Folgende Maßnahmen scheinen günstige Voraussetzungen für Unterrichtsentwicklungen und Modellversuche zu schaffen: Schwerpunktsetzungen innerhalb einer Modellschule gemäß den Bedürfnissen der beteiligten Lehrpersonen; strukturierte, regelmäßige Kooperation der Lehrkräfte innerhalb einer Schule; kontinuierliche Begleitung und Unterstützung der Lehrpersonen und Schulen; Weiterbildungsveranstaltungen mit umsetzbaren Anregungen für den täglichen Unterricht; Entwicklung einer professionellen Rückmeldekultur auf allen Ebenen, insbesondere bei Lehrkräften; frühzeitiger Einbezug der Schulleitung; Einbringen verschiedener Expertisen, u. a. aus Fachdidaktik und Schulentwicklung.

Auch wenn die Evaluationen der Modellversuche insgesamt sehr positiv ausfallen, bestehen einige Entwicklungsmöglichkeiten für zukünftige Versuche: die Schulentwicklung – ähnlich wie bereits in IMST geschehen – noch stärker gewichten; einen Modellversuch in die regulären Aus- und Weiterbildungsstrukturen einbetten, um so eine zumindest indirekte Fortführung nach Projektende zu gewährleisten; die Evaluationen von unabhängigen Stellen durchführen lassen, dabei auch die Lernenden einbeziehen und die langfristige Wirkung überprüfen; die Effektstärken der verschiedenen Maßnahmen und deren Zusammenspiel analysieren.

6 Resümee

Die in den vorhergehenden Abschnitten dargestellten Forschungsfelder zeigen, dass die Naturwissenschaftsdidaktiken sich inzwischen als empirische Wissenschaften etabliert haben, wenngleich der Forschungsbedarf in vielen Feldern noch erheblich ist. Die häufig beklagte Trennung zwischen empirisch arbeitenden Lehr-Lernforschern und inhaltlich arbeitenden Entwicklern scheint sich zudem zu verringern; auch die sog. Entwicklungsforschung nutzt zur Evaluation der Wirkungen von Unterrichtsmodellen zunehmend Methoden aus der Lehr-Lernforschung. Allerdings ist die Kluft zwischen theoretischem Wissen und der Schulpraxis, wie auch in anderen Fachdidaktiken und in der Erziehungswissenschaft, groß. Wie neuere Ergebnisse aus der empirischen Lehr-Lernforschung sowie aus der Entwicklungsforschung in die Unterrichtspraxis transferiert werden können, bleibt deshalb eine essenzielle Frage.

Naturwissenschaftlicher Unterricht und die zugehörigen Fachdidaktiken zeichnen sich durch eine hohe Internationalität aus. Das Konzept vonscientific literacy (Abschn. 2.1), internationale Vergleichsstudien (3.1) und das Benchmarking in Form von Bildungsstandards (5.1) tragen möglicherweise zu einer Globalisierung von Bildungszielen, -strukturen und -inhalten und somit langfristig – auf nationaler wie internationaler Ebene – zu einer Konvergenz der Curricula bei. Auffällig ist allerdings – bei aller Konvergenz der internationalen Ansätze – die starke Fachbezogenheit der naturwissenschaftlichen Bildung in Deutschland, die sich in der Separation dreier Schulfächer ausdrückt. Die Verstärkung fächerübergreifender Ansätze wird deshalb eine Aufgabe der Zukunft sein.

In diesem Überblicksbeitrag werden zahlreiche Forschungsdesiderata hergeleitet und diskutiert. Sie zielen auf die Verbesserung der Qualität des naturwissenschaftlichen Unterrichts an unseren Schulen, wobei eine Förderung des Verständnisses von naturwissenschaftlichen Methoden und Inhalten wie auch eine Steigerung von Interesse und selbstbezogenen Fähigkeiten angestrebt wird. Politik und Wirtschaft verfolgen im Erneuerungsprozess des naturwissenschaftlichen Unterrichts darüber hinaus eigene Zielrichtungen, wie den Abbau des gravierenden Nachwuchsmangels in den Natur- und Ingenieurwissenschaften oder das bessere Abschneiden in internationalen Schulleistungsstudien. Die Naturwissenschaftsdidaktik hat die Aufgabe, Forschungsbefunde, programmatische Ziele und Entwicklungsperspektiven für den naturwissenschaftlichen Unterricht in diese gesamtgesellschaftliche Diskussion einzubringen.