1 Sammelrezension zu

  1. 1.

    Jürgen Budde/Ingelore Mammes (Hrsg.): Jungenforschung empirisch. Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. 248 S. ISBN 978-3-531-16683-4. Preis: 29,90 €.

  2. 2.

    Oliver Holz (Hrsg.): Jungenpädagogik und Jungenarbeit in Europa. Standortbestimmungen, Trends, Untersuchungsergebnisse. Münster: Waxmann 2008. 200 S. ISBN 978-3-8309-1942-1. Preis: 24,90 €.

  3. 3.

    Barbara Koch-Priewe/Arne Niederbacher/Annette Textor/Peter Zimmermann: Jungen – Sorgenkinder oder Sieger? Ergebnisse einer quantitativen Studie und ihre pädagogischen Implikationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. 209 S. ISBN 978-3-531-15859-4. Preis: 29,95 €.

  4. 4.

    Michael Matzner/Wolfgang Tischner (Hrsg.): Handbuch Jungen-Pädagogik. Weinheim: Beltz 2008. 413 S. ISBN 978-3-407-83163-7. Preis: 39,90 €.

  5. 5.

    Michael Matzner/Irit Wyrobnik (Hrsg.): Handbuch Mädchen-Pädagogik. Weinheim: Beltz 2010. 414 S. ISBN 978-3-407-83166-8. Preis: 39,95 €.

In den letzten Jahren sind eine Vielzahl von populärwissenschaftlichen Büchern über „die Jungen“ veröffentlicht worden, darunter so verkaufsträchtige Publikationen mit Titeln wie „Jungen! Wie sie glücklich heranwachsen“ (Steve Biddulph), „Jungen. Was sie vermissen, was sie brauchen“ (William F. Pollack und Elisabeth Prada), „Die Jungenkatastrophe. Das überforderte Geschlecht“ (Frank Beuster) oder „Rettet unsere Söhne. Wie den Jungs die Zukunft verbaut wird und was wir dagegen tun können“ (Arne Hoffmann). Gemeinsam ist ihnen zumeist – neben einer antifeministischen Attitüde –, dass sie eine sogenannte „Jungenkrise“ konstatieren und – nicht selten in Form von griffigen Maßnahmepaketen – (pädagogische) Antworten darauf geben und Problemlösungsvorschläge unterbreiten wollen. Dabei wird „das Jungenproblem“ bei ihnen zu einer der bedeutendsten nationalen, wenn nicht sogar übernationalen Herausforderungen stilisiert. Gemeinsam ist diesen Autoren und Autorinnen häufig auch eine eklatant große Theorieferne und die äußerst selektive Rezeption empirischer Ergebnisse. Der Verkäuflichkeit der Bücher tut dies in den meisten Fällen keinen Abbruch: Das Jungenthema hat auf dem Buchmarkt im Speziellen und in den Medien allgemein Konjunktur.

Diese Konjunktur spiegelt sich auch in der Vielzahl an wissenschaftlichen Tagungen und Publikationen zum Thema wider. Standen in den 1970er- und 1980er-Jahren „die Mädchen“ im akademischen und bildungspolitischen Fokus, sind es nun zunehmend „die Jungen“. Als Legitimationsgrundlage für die Jungenforschung und die Jungenpädagogik gereicht dabei in vielen Fällen ein Blick in die Ergebnisse internationaler Schulleistungsvergleiche oder in die aktuellen Jugendstudien. Die Autor(inn)en stellen dort geringere Bildungserfolge und -aspirationen der Jungen im Verhältnis zu denen der Mädchen fest und nutzen dies als wirkmächtigen, weil auch massenmedial breit rezipierten Ausgangspunkt für jungenspezifische Forschung und Pädagogik. Dabei wird nicht selten schon überwunden geglaubten differenztheoretischen Annahmen gefolgt, werden „die Jungen“ zu einer homogenen Gruppe, deren Mitglieder sich in Anlagen und Verhaltensdispositionen gleichen und grundlegend von „den Mädchen“ unterscheiden. Ausnahmen bilden wissenschaftliche Publikationen, die differenziert auf die reale Vielfalt von Jungensein und Männlichkeit verweisen und ebenso differenziert nach der Bedeutung der verschiedenen sich verwirklichenden Männlichkeitskonzepte der Jungen im Bildungssystem fragen.

Die hier zu besprechenden Werke sind Teil des aktuellen Jungendiskurses in der sozialwissenschaftlichen Forschung und in der pädagogischen Praxis. Sie ermöglichen dem Leser bzw. der Leserin Einblick in Problemfelder der Jungenforschung und spiegeln den gegenwärtigen Stand der pädagogischen Diskussion. Ergänzt wird diese Sammelrezension zur Jungenforschung und -pädagogik durch die Besprechung des „Handbuch Mädchenpädagogik“, herausgegeben von Michael Matzner und Irit Wyrobnik. Diese fügt sich insofern stimmig ein, da sie aufzeigt, dass Problembereiche und Begründungszusammenhänge der Mädchenpädagogik derjenigen der Jungenpädagogik nicht unähnlich sind.

Budde/Mammes, Jungenforschung empirisch. Der Band „Jungenforschung empirisch. Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur“ sammelt auf 248 Seiten verschiedene theoretische und empirische Aufsätze zur Jungenforschung. Er ist in drei Teile untergliedert. Nach einer kurzen Einleitung der Herausgeberin und des Herausgebers stehen zu Beginn drei Aufsätze, die – etwas knapp gehalten – theoretische Grundlinien der Jungenforschung zeichnen. Dies geschieht unter Rückgriff auf die Arbeiten von Connell und deren Konzept der hegemonialen Männlichkeit wie auch mit Bezug auf Bourdieus Konzept des männlichen Habitus. An den ersten theoretischen Teil schließen in einem zweiten Teil fünf Aufsätze zu aktuellen empirischen Befunden der Jungenforschung aus dem deutschsprachigen Raum an. Bei diesen liegt der Fokus darauf, Männlichkeitskonzepte von Schülern zu eruieren und zu beschreiben, wie diese in den alltäglichen Praxen in der Schule konstruiert werden. Der dritte und letzte Teil des Sammelbandes hat die größte Gewichtung erfahren und wirft in Form von weiteren acht Aufsätzen Schlaglichter auf die aktuelle internationale Jungenforschung, darunter auch der Beitrag von Claudia Schneider über Jungen im Bildungssystem Österreichs, der als Forschungsbericht aus dem deutschsprachigen Raum auch im ersten Teil hätte untergebracht werden können. Neben diesem stehen im dritten Teil weitere Beiträge aus den angelsächsischen Ländern, aus Kanada, Norwegen und Japan.

Der Schwerpunkt der Aufsätze liegt deutlich im Bereich der qualitativen Sozialforschung. Zwar zitieren die meisten Autorinnen und Autoren auch quantitative Studien. Nur der Beitrag von Heike Großkurth und Birgit Reißig über geschlechtsspezifische Übergänge von der Schule in den Beruf fokussiert quantitative Ergebnisse eines DJI-Panels. Alle anderen Beiträge sind wissenschaftstheoretisch und methodisch qualitativ orientiert. So wurden in einem Großteil der im Band vorgestellten Studien zur Jungenforschung offene Interview- und (Gruppen-)Diskussionsverfahren wie auch ethnografische Beobachtungsverfahren als Erhebungsmethoden eingesetzt. Dies ist jedoch kein Nachteil des Sammelbandes, weil er dadurch – trotz der variierenden Themen und der sehr unterschiedlichen Qualität der Beiträge – homogen wirkt.

Bereits in der Einleitung nennen die Herausgeberin und der Herausgeber die Ziele, die sie mit der Publikation verbinden und die den Einbezug der unterschiedlichen Aufsätze begründen sollen. Ausgangspunkt der Argumentation ist dabei der (vornehmlich von den Massenmedien getragene) Diskurs über die neue Risikogruppe „der Jungen“ und damit auch ein Perspektivwechsel in der bildungspolitischen Geschlechterdebatte, weg von „den Mädchen“. Aus den niedrigeren Schulabschlüssen und den geringeren Bildungsaspirationen der Jungen wird fast automatisch deren Benachteiligung im Bildungssystem allgemein abgeleitet. Dies geschehe speziell aufgrund der weiblichen Lehrkräfte in der allgemeinbildenden Schule. Wie die verschiedenen internationalen Beiträge deutlich machen, ist dieser Diskurs nicht auf Deutschland beschränkt, sondern kann in vielen (westlichen) Staaten beschrieben werden. Der stark verkürzten Sichtweise im aktuellen Jungendiskurs möchten die Herausgeberin und der Herausgeber einen differenzierten, theoretisch angeleiteten und durch empirische Arbeiten abgesicherten Blick entgegensetzen. Dazu gehört es ihres Erachtens auch, die Gefahr einer die Gruppe der Jungen homogenisierenden Betrachtungsweise zu vermeiden und dieser ein Bild entgegenzustellen, dass Jungensein und Männlichkeit in ihrer Vielfältigkeit widerspiegeln. Nicht alle Jungen sind „Bildungsverlierer“ und nicht alle Mädchen sind „Bildungsgewinnerinnen“, sondern Bildungserfolg in der Schule ist immer auch in großem Maße mitbedingt durch diverse soziale und kulturelle Faktoren. Deshalb muss die Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit in der Schule diese mit berücksichtigen. Dieses Ansinnen stellt zugleich die gemeinsame Schnittmenge der auf die Einleitung folgenden Aufsätze der anderen Autorinnen und Autoren im betreffenden Sammelband dar. Die Herausgeberin und der Herausgeber machen deutlich, dass mit der Publikation zudem die Ziele verfolgt werden, das Empirie- und Theoriedefizit in der Jungenforschung zu verringern und dabei neben einer nationalen auch eine internationale Perspektive zu entwickeln. Wie der Untertitel des Bandes bereits andeutet, geht es ihnen auch darum, Jungensein und Männlichkeit unter Bezugnahme auf die schulische Kultur und die Peerkultur zu reflektieren und deren Zusammenwirken nachzuzeichnen. Dieser sehr spannende und Ertrag versprechende Ansatz gelingt in den verschiedenen Aufsätzen des Bandes unterschiedlich gut.

Nicht alle der genannten Ziele – Beheben des Theorie- und Empiriedefizits, Differenzierung des Blicks auf Männlichkeit, Einnehmen einer internationalen Perspektive – konnten mit dem Sammelband vollständig erreicht werden. Der Band ist aber durchaus in der Lage, die aktuellen Publikationen zur Jungenforschung sinnvoll zu ergänzen und die – zum Teil sehr aufgeregt und hitzig geführte – Debatte um die „Jungen in der Krise“ abzukühlen und auf ihre empirische Evidenz hin kritisch zu prüfen. Dabei wird unter anderem deutlich, dass es nicht „die Jungen“ sind, die als Bildungsverlierer aus dem Bildungssystem exkludiert werden, sondern Jungen, die eine bestimmte Männlichkeitskultur praktizieren, deren Habitus weniger passfähig mit der Schulkultur ist. Interessanterweise kann den betreffenden Jungen genau dieser Habitus außerhalb der Schule – bspw. im Berufsleben – zum Vorteil gereichen.

Der Sammelband ist nicht ob eines einzelnen Beitrags zu empfehlen – auch wenn der Aufsatz von Margrit Stamm zum „Underachievement von Jungen in der Schule“ aufgrund seiner Systematik und klaren Argumentationsstruktur besonders hervorsticht – sondern weil es der Herausgeberin und dem Herausgeber gelungen ist, viele unterschiedliche Beiträge zu einem Thema zu bündeln und damit den Blick der interessierten Forschenden zu erweitern. Gerade die internationalen Beiträge zur Jungenforschung tragen nicht nur inhaltlich zu einem breiten Verständnis bei, indem sie deutlich machen, dass es in der Jungenforschung immer auch spezifische nationale Kontextfaktoren zu berücksichtigen gilt. Sie erweitern auch den theoretischen und methodologischen Blick. Der Gewinn, den Lesende gerade daraus ziehen, wiegt den etwas knapp gehaltenen theoretischen ersten Teil auf. Diesem hätte es sicher gut getan, zumindest auch in historischer Perspektive die Entwicklungslinien der Jungenforschung nachzuzeichnen. Gerade eine solche Perspektive hätte die theoretische Diskussion durchaus anregen können, fällt doch beispielsweise beim Blick auf die Arbeiten am Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham in den 1970er-Jahren auf, wie eng Männlichkeitskonzepte, Sexismusstrukturen und soziale Faktoren im Kontext der Schule aneinander gebunden sind.

Holz, Jungenpädagogik in Europa. Im Sammelband „Jungenpädagogik in Europa. Standortbestimmungen – Trends – Untersuchungsergebnisse“ sind Aufsätze publiziert, deren Autorinnen und Autoren zum Teil in der politischen Bildung und der Jungenarbeit aktiv sind oder sie arbeiten als wissenschaftliches Personal in verschiedenen Instituten in Europa. Die Publikation entstand im Rahmen des dreijährigen COMENIUS 2.1 Projektes „Kleine Helden in Not – Jungen auf der Suche nach ihren Identitäten“, an dem nach Angaben des Herausgebers zehn unterschiedliche Einrichtungen aus neun europäischen Ländern mitgearbeitet haben.

Nach einem kurzen Vorwort, in dem der Herausgeber die Bedeutung der Jungenpädagogik zu begründen versucht und die mit der Publikation verbundenen Ziele nennt, folgen zwölf Aufsätze unterschiedlicher Provenienz. Die Beiträge aus Deutschland, Österreich, Belgien, der Tschechischen Republik, Estland, Spanien, Ungarn, Polen und Großbritannien werfen ganz unterschiedliche Schlaglichter auf die Jungenforschung und Jungenpädagogik dieser Länder. Auf jeden der Beiträge folgen „Anregungen zur selbständigen Weiterbearbeitung der Thematik“ in Form von Fragen, die an die Lesenden gestellt werden. Die Fragen lassen sich zum Teil mit Hilfe der vorhergehenden Texte beantworten, erfordern manchmal aber auch sehr spezifisches Kontextwissen, das aus den Texten nicht gewonnen werden kann (Bsp.: „Vergleichen Sie die Bildungs- und Schulsituation im mittelalterlichen Estland mit der damaligen Situation in ihrem Land.“). Manche Fragen sind aufgrund der unspezifischen Art und Weise, in der sie gestellt sind, nur schwerlich zu beantworten (Bsp.: „Gibt es eine (unbewusste) Bevorzugung eines Geschlechts?“).

Ein Manko des Bandes ist, dass die Länderanalysen ohne gegenseitigen Bezug nebeneinander stehen. Den Vergleich, der im ersten Aufsatz des Bandes von Oliver Holz noch versprochen wird, müssen Lesende selbst leisten. Dies kann jedoch schwerlich gelingen, da die Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen sehr unterschiedlich vorgehen. Steht bei manchen die länderspezifische Jungenarbeit und deren Entwicklung im Fokus (wie bspw. im Beitrag von Bernd Drägestein und Olaf Schwarze über die Jungenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland), konstatieren andere Autorinnen und Autoren lediglich, dass es in ihren Ländern keine Jungenpädagogik oder -arbeit gebe und referieren daraufhin recht willkürlich ausgewählte Forschungsergebnisse zu Geschlechterfragen aus den jeweiligen nationalen Kontexten (s. Beitrag „Genderpädagogik in Ungarn – gibt es so etwas überhaupt?“ von Erika Grossmann). Eine gemeinsame inhaltliche Struktur der einzelnen Beiträge ist nicht zu erkennen. Zwar fokussieren die meisten Beiträge (ohne explizierte Begründung) auf geschlechts- und jungenspezifische Aspekte in der Grundschule, dies jedoch ebenfalls in sehr unterschiedlicher Art und Weise und unter Rückgriff auf sehr verschiedenartige historische oder empirische Quellen. Das formulierte Ziel der Publikation, spezifische Konzepte für die Arbeit mit Jungen anzubieten und damit festgestellte Defizite zu beseitigen, kann der Sammelband somit nicht erfüllen.

Schon im ersten Beitrag von Oliver Holz „Von Machos zu Weicheiern im Spiegel geschlechtergerechter Bildung und Erziehung. Eine historische, gegenwartsbezogene und perspektivische Betrachtung“ wird zudem ein Problem deutlich, dass sich in vielen der gesammelten Beiträge wiederfindet: Wenngleich das Buch vornehmlich an Praktiker adressiert sein sollte, wird ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Reflexion und Korrektheit nicht erreicht. Der Autor ergeht sich in Thesen, deren empirische Überprüfung er schuldig bleibt. Stark verkürzend, wenig differenziert und nahezu ohne empirischen (Quellen-)Nachweis argumentiert er. So schließt Holz bspw. vereinfachend von den niedrigeren Ergebnissen „der Jungen“ im Rahmen von Schulleistungstests auf deren Benachteiligung im Bildungssystem und macht dafür unter anderem die niedrige Männerquote unter den Lehrkräften verantwortlich. Damit wird nicht nur der vielzitierte Feminisierungsdiskurs unreflektiert reproduziert, sondern es wird auch die Gruppe „der Jungen“ unzulässig vereinheitlicht und zu einem homogenen Kollektiv gemacht, das es nicht ist (s. dazu auch die Rezension zum wesentlich differenzierteren Sammelband von Jürgen Budde und Ingelore Mammes). Widersprüchlichkeiten in der Argumentation des Autors legen zudem den Schluss nahe, dass manch theoretischer Gegenstand nicht vollkommen durchdrungen wurde. So spricht sich Oliver Holz auf der einen Seite für eine Historisierung und Dekonstruktion von Geschlechterkonzepten aus, hat aber nur wenige Zeilen vorher festgestellt „dass sich schon aus dem physischen Bau des männlichen Gehirns Unterschiede zur Frau ergeben, die Einfluss auf Entwicklung und Verhalten haben“ (S. 17). Geschlecht wird hier also nicht durch die Beschreibung von dessen historischer Genese dekonstruiert, sondern naturalisiert. So ist es wohl auch zu verstehen, wenn der Autor schreibt, dass Gleichberechtigungsideale den Jungen im Weg stehen würden (S. 22). Was im Gegensatz zu diesen helfen würde, sei „die Beachtung und Wertschätzung der Zweigeschlechtlichkeit“, die implizieren würde, dass „Jungen und Mädchen von Natur viel mehr verschieden sind und deshalb auch unterschiedliche Verhaltensweisen entwickeln“ (ebd.). In diesem Kontext erscheint dem Autor der Feminismus und dessen politische Forderungen nicht als dringend notwendige Bewegung; vielmehr sieht er „die Emanzipation der Frau als ideologische(n) Stolperstein der Männer“ (S. 15). Die Folgen seien „verschwommene und verwässerte Rollendefinitionen“, die die „Kleinen Helden in Not“ brächten und in Identitätskrisen stürzen würden. Ein kulturpessimistischer Impetus ist dem Text unterlegt und tritt an vielen Stellen zutage. So heißt es an den Stellen, an denen die Jungenarbeit als pädagogische Disziplin zu begründen versucht wird: „Eine von Leistung geprägte Gesellschaft, die das ‚Abenteuer Kind‘ immer mehr vernachlässigt, verlangt regelrecht nach Jungenarbeit.“ (S. 10)

Dem Sammelband mag zugute gehalten werden, dass zumindest einige Aufsätze über die Qualität dieses ersten Beitrags hinausgehen und gerade die Beiträge aus Ländern mit langjähriger Erfahrung in der Jungenarbeit (s. z. B. den Beitrag von Fiona Shelton über die Situation von Jungen und der Jungenarbeit in Großbritannien) die pädagogische Praxis durchaus anzuregen vermögen. Trotzdem schafft es niemand der Autorinnen und Autoren wie angekündigt, schlüssig argumentierend die Konsequenzen für Jungenarbeit aus den nationalen und regionalen Spezifika abzuleiten. Auch wenn der Blick auf die Jungenarbeit in unterschiedlichen Ländern ein sinnvoller Ansatz ist und die nationale Diskussion bereichern kann, gelingt es in dem vorliegenden Sammelband nicht, über einige wenige interessante Schlaglichter hinaus zu kommen. Eines jedoch macht der Band deutlich und in der Erkenntnis liegt vielleicht dessen größter Wert: Es bedarf in der (europäischen) Jungenarbeit noch einer Menge theoretischer und konzeptueller Arbeit.

Koch-Priewe et al., Jungen – Sorgenkinder oder Sieger? Der Forschungsbericht „Jungen – Sorgenkinder oder Sieger?“ verortet sich im Diskurs um die schulische Benachteiligung von Jungen, befasst sich aber thematisch eher mit männlicher Sozialisation. Das Buch präsentiert die Ergebnisse der quantitativen Dortmunder Jungenstudie, welche im Jahr 2005 durchgeführt wurde. Methodisch hat sich die Autorengruppe in weiten Teilen an einer Fragebogenerhebung gleichen Titels aus dem Jahre 1995 (Zimmermann 1998) orientiert. Erklärtes Ziel der Studie ist es, einen systematischen und umfassenden Beitrag zur Jungenforschung zu leisten (S. 10). Die Autor(inn)en gehen der Frage nach, welche Geschlechts- und Männlichkeitsvorstellungen Jungen ausbilden und wie stark diese sich in ihrer Identitätssuche heute noch am normativen Muster der hegemonialen Männlichkeit orientieren. Zudem interessiert sich die Autorengruppe für das subjektive Erleben von schulischem Erfolg und das Leistungsselbstkonzept der Jungen. So erhält der Leser einen Einblick in die heterogenen Lebenswelten männlicher Jugendlicher, die sich gegenüber der zehn Jahre zurückliegenden Erstbefragung offenbar stark ausdifferenziert haben.

Der Text der 209-seitigen Publikation gliedert sich in vier Teile. Zunächst geben die Autor(inn)en eine kurze Einführung in die Thematik, indem sie die verschiedenen medialen Diskursstränge aufzeigen, die die Diskussion um die schulische Benachteiligung von Jungen bestimmen. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf das Theoriedefizit, das immer dann aufscheint, wenn die Jungen als „das Besondere“ behandelt werden, also Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse ausgeschlossen und somit die Jungen als eine homogene Gruppe verkannt werden. Im ersten Teil des Buches werden Theorien zur Geschlechtersozialisation (der konstruktivistische Ansatz des doing gender, das Konzept der hegemonialen Männlichkeit) sowie aktuelle Ergebnisse der empirischen Jungen- und Geschlechterforschung (Koedukation und schulische Leistungen) sehr knapp, aber dennoch systematisch und reflektiert vorgestellt. Zudem diskutieren die Autor(inn)en den empirisch kaum nachweisbaren Zusammenhang von Gewalt und Migrationshintergrund, wobei die Definition von Gewalt für die anschließende Erhebung auf den rein physischen Akt begrenzt wird (S. 29).

Im zweiten Teil des Buches wird die Untersuchungsanlage beschrieben: Sie besteht aus einem 22-seitigen Fragebogen, der an 1635 männliche Jugendliche (14- bis 16-Jährige) unterschiedlicher Schularten ausgegeben wurde. Die 101 abgefragten Items entstammen größtenteils einer quantitativen Erhebung an Dortmunder Jungen aus dem Jahre 1995; einige wurden aktualisiert und um Fragen zum Migrationshintergrund der Jungen erweitert. Die Antworten zur sozioökonomischen Zugehörigkeit und dem Bildungshintergrund der Eltern gingen allerdings nicht in die Auswertung ein, da sie „ausgesprochen lückenhaft“ (S. 45) beantwortet wurden und demnach nicht reliabel waren. Als unabhängige Variablen wurden demnach nur die Schulformzugehörigkeit und der Migrationshintergrund herangezogen, was die Aussagekraft der Ergebnisse einschränkt. Es bleibt fraglich, ob die gewählten Forschungsfragen nicht besser mit einem qualitativen oder mixed-methods-Design zu beantworten gewesen wären (auch wenn man dabei auf den Anspruch der Repräsentativität der Ergebnisse hätte verzichten müssen) – zumal die Autor(inn)en selbst angeben, dass die Validität der Ergebnisse nicht vollständig zu gewährleisten sei. Als Gründe dafür werden die soziale Erwünschtheit der Antworten, die Fragenanordnung und die Diskrepanz zwischen dem abgefragten Selbstbild und tatsächlichem Handeln angeführt. Des Weiteren vermutet die Autorengruppe, dass die im Fragebogen verwendeten Begriffe bei den Befragten unterschiedliche Konnotationen abrufen (S. 45).

Die sich anschließende Ergebnisdarstellung, wenngleich sie nur für NRW gelten kann, beschreibt die Jungen als eine soziale Gruppe, deren „Lebensentwürfe (…) ausgesprochen vielfältig und ausdifferenziert sind“ (S. 169). Neben Aussagen zum Freizeitverhalten, zur Gestaltung der Freundschaftsbeziehungen, Selbst- und Fremdbildern, Einstellungen zur Gewalt und zu Veränderungen in der Vater-Sohn-Beziehung (andere Familienmitglieder und -konstellationen wurden in der Studie vernachlässigt!) sind die folgenden Ergebnisse bezüglich der schulischen Benachteiligung von Jungen interessant:

Jungen mit Migrationshintergrund sind im Vergleich zum gesamtdeutschen Schnitt in ihren schulischen Leistungen erfolgreicher: Sie besuchen häufiger das Gymnasium oder die Gesamtschule. Die Autor(inn)en können eine Unzufriedenheit der Befragten mit der Schule erkennen, was sich vor allem darin zeigt, dass sie „jungenspezifische Fächer“ vermissen. Jungen schätzten ihre schulische Leistungsfähigkeit dennoch sehr positiv ein. Mangelnden Erfolg attribuieren sie durch zu geringe Anstrengung, was die Autorengruppe als ein Balancieren zwischen Jungen- und Schülerrolle deutet. Mädchen gegenüber sehen sich viele Jungen in der Schule als benachteiligt. Sie schreiben den Mädchen Fleiß, Intelligenz und angepasstes Verhalten zu, weshalb diese von den Lehrkräften mehr geschätzt würden. Zugleich befürworten die meisten Jungen den koedukativen Unterricht, da sie in ihm die Möglichkeit des Flirts oder der Anbahnung romantischer Beziehungen zu Mädchen sehen.

Die Autor(inn)en resümieren aus diesen und den übrigen Ergebnissen, dass sich die Differenzen zwischen den Geschlechtern verringern würden, auch wenn die stereotypen Zuschreibungen an das andere Geschlecht in vielen Fällen (noch) traditionellen Sichtweisen verhaftet bleiben. Leser sollten sich aber bewusst sein, dass die Ergebnisse unter den oben genannten Problemen der Validität zu rezipieren sind. Die Interpretation der Ergebnisse vermittelt den Eindruck, als würde hier Realität ungefiltert abgebildet werden.

Im vierten Teil des Buches werden pädagogische Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen gezogen. Aus der reflexiven Koedukation sind viele der genannten Praxisvorschläge bereits bekannt. Es ist zu prüfen, ob diese die Geschlechtergerechtigkeit fördern oder ob sie die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern nicht zusätzlich befördern – worauf auch die Autor(inn)en hinweisen. Für die Praxis erscheinen die pädagogischen Implikationen nützlich.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die theoretische Hinführung zur empirischen Studie einen guten und strukturierten Überblick über die aktuelle Forschungslage in der Jungenforschung gibt. Auch der klare, verständliche und nicht mit Fachwörtern überladene Duktus kommt dem Lesen zugute. Die Ergebnisse der Studie sind jedoch kritisch zu hinterfragen. Den Praktiker(inne)n können die pädagogischen Implikationen von Nutzen sein.

Matzner/Tischner, Handbuch Jungen-Pädagogik. Das Handbuch richtet sich vor allem an Praktiker/innen in schulischen und außerschulischen pädagogischen Institutionen. Auf 413 Seiten schreiben 26 Autor(inn)en zum Thema der Benachteiligung von Jungen in pädagogischen Einrichtungen. Die 27 Beiträge sind in sechs Schwerpunkte rubriziert, die von biologischen, psychologischen und soziologischen Determinismen ausgehend, pädagogische Institutionen sowie außerschulische Projekte behandeln.

Die Schwerpunkte des Buches unterteilen sich in:

  • Biologische, psychologische und soziologische Grundlagen der Jungenpädagogik

  • Jungen in pädagogischen Institutionen I: Tageseinrichtungen für Kinder

  • Jungen in pädagogischen Institutionen II: Schulen

  • Jungen in pädagogischen Institutionen III: Sozialpädagogische Einrichtungen und Angebote

  • Pädagogische Einzelfragen

  • Schlussfolgerungen und Ausblick

Das Buch schließt mit kritischen Beiträgen zur gegenwärtigen Geschlechterpolitik, dem europäischen Konzept des Gender Mainstreamings und einem Ausblick.

Typisch für einen maskulinistischen Zugang zum Thema beginnt der konzeptionelle Aufbau des Buchs mit dem Verweis auf soziobiologische Fakten (Doris Bischof-Köhler) und hirnbiologische Grundlagen (Daniel Strüber). Die argumentative Festlegung auf unveränderlich determinierte Geschlechtertatsachen, sogenannte „Erkenntnisse der Biowissenschaften“ (S. 13), suggeriert, dass beliebige naturwissenschaftliche Ergebnisse als Stellvertreter für ein durch Erfahrung und Einsicht gewonnenes Wissen gelten können. Der gesamte Tenor des Handbuchs betont die Krise von Jungen in der Schule sowie die Krise des Männlichen in der heutigen „feminisierten“ Gesellschaft. Matzner und Tischner problematisieren in ihrer Einleitung konsequent die heutige „mütterliche Hegemonialkultur“ (S. 10). Allzu oft werden Ergebnisse aus aktuellen internationalen Leistungsvergleichstudien wie PISA bemüht, die nicht nur die Benachteiligung der Jungen in der Schule belegen sollen, sondern darüber hinaus auch die Schule als frauendominierte Institution anprangern. Allan Guggenbühl z. B. bezeichnet die Schule allzu plakativ als „weibliches Biotop“ (S. 161 f.).

Leider fehlen Themen zur Familie, obwohl in dieser doch auch von Jungen die ersten Sozialisationserfahrungen gemacht werden. Es ist uns nicht verständlich, warum Diskurse über verschiedene Familienformen, wie sie heute anzutreffen sind, über elterliches Erziehungsverhalten und ihre Interaktionsmuster besonders mit den Söhnen keine Rolle im vorliegenden Handbuch spielen. Stattdessen wird über eine Vaterlosigkeit geklagt und eine Feminisierung der Familienerziehung betont, anstatt beobachtbare Veränderungen einer sich stabilisierenden neuen Väterlichkeit darzustellen. Ahmet Toprak nimmt das Thema Familie der türkischen Jugendlichen als einer der wenigen auf.

Dem Handbuch ist ein ständiges Lamento unterlegt, das im Aufsatz von Helmut Kasten lapidar zusammengefasst wird: Jungen seien die Verlierer, da sie durch die fehlende Präsenz des männlichen Elements in der Erziehung keine Vorbilder haben (S. 61). Auch Margarete Blank-Mathieu beklagt das fehlende männliche Modell (S. 83), dafür aber eine „Überzahl“ (S. 87) an Erzieherinnen. Die Texte muten der fachkundigen Leserschaft einiges zu. Die meisten Aufsätze strotzen vor platten Behauptungen und geschlechterstereotypen Vorurteilen. Jungen werden tendenziell in fast allen Texten wie eine homogene Geschlechtergruppe behandelt und ihre Verhaltensweisen unter deterministischem Zwang gesehen; binäre Geschlechterdifferenzen zwischen Jungen und Mädchen werden formelhaft beschworen, dagegen die Vielfalt von männlichen Identitäten an keiner Stelle betont.

Es liegt unübersehbar eine Defizitanalyse vor: Jungen werden als passive Empfänger einer meist nicht gelungenen feminisierten Erziehung und Bildung bedauert. Man liest von ihren scheinbaren Unzulänglichkeiten und der geringen Passform ihrer männlichen Eigenschaften mit schulischen und gesellschaftlichen Anforderungen. Wenn jedoch vorwiegend die Defizite betont und ständig Probleme beschrieben werden, treten die Jungen als Akteure mit besonderen Ressourcen, mit mentalen Stärken nicht in Erscheinung.

In den anderen pädagogischen Disziplinen wird längst nicht mehr defizitorientiert geforscht. Was interessiert, sind die Ressourcen und Kompetenzen, die jede/r in eine heterogene Gemeinschaft mitbringt. Es wäre sowohl für professionelle Erzieher als auch für Eltern und Psychologen daher weit interessanter zu erfahren, welche Zukunftswünsche Jungen haben, welche schulischen und außerschulischen Projekte bei Jungen gut ankommen oder wie sie sich als Mentoren und Unterstützer für andere Kinder in ehrenamtlichen Aufgaben fühlen.

Das Buch enthält neben vielen populären Geschlechterthesen auch vereinzelt sehr kluge Gedanken. Diese lohnen sich zu erfahren. Lothar Böhnisch, zwar mit antifeministischem Unterton, breitet eine spannende Gesellschaftsanalyse aus, die die heutige Entwicklung zur geschlechternivillierenden Ökonomie des digitalen Kapitalismus aufzeigt (vgl. S. 66–71). Ulf Preuss-Lausitz macht konstruktive Vorschläge für eine neue Schulstruktur und curriculare Maßnahmen, die gendergerecht sind. Uli Boldt äußert eine kompetente und konstruktive Kritik an der Koedukation. Zusammenfassend kann dieses Handbuch nur dann empfohlen werden, wenn es den Akteuren in pädagogischen Institutionen gelingt, die problematischen Texte kritisch-reflexiv zu lesen und von den interessanten Gedanken einiger der Autoren und Autorinnen zu profitieren.

Matzner/Wyrobnik, Handbuch Mädchen-Pädagogik. Dieses Handbuch ist eine Aufsatzsammlung und richtet sich an pädagogisch Handelnde: Eltern, Erzieher/innen und Lehrkräfte, denen „mädchenbezogenes Wissen zur Verfügung [gestellt]“ (S. 10) wird, welches in die pädagogische Praxis einfließen soll. Diesem Ziel entspricht ein durchgehend gut verständlicher, nicht überladener Duktus, der das Lesen angenehm macht. Der Herausgeber und die Herausgeberin hegten einen explizit interdisziplinären Anspruch, der auch eingelöst wird. Es werden relevante Forschungsergebnisse der zurückliegenden 20 bis 30 Jahre aus der Pädagogik, Soziologie, Psychologie, Sozialarbeit und den Neuro- und Biowissenschaften präsentiert.

Das 414 Seiten starke Handbuch besteht aus 26 Beiträgen, welche thematisch den folgenden Schwerpunkten zugeordnet sind:

  • Sozial- und naturwissenschaftliche Voraussetzungen der Mädchenpädagogik (Entwicklungs- und Lernpsychologie, Sozialisationstheorie, Evolutionspsychologie, Hirnforschung)

  • Mädchen in Kindergarten, Schule und Ausbildung (u. a.: Fähigkeitsselbstbilder, Migration, Hochbegabung, Transitionen)

  • Mädchen und der naturwissenschaftlich-technische Bereich/„MINT“ (Mathematik, Naturwissenschaften, Mediennutzung, Technikinteresse)

  • Sozialpädagogische Angebote (Mädchenarbeit, Erziehungshilfe)

  • Körper, Gesundheit und Bewegung (Gesundheit, Sexualität, Sport, Mädchengewalt)

Das Buch endet mit Schlussfolgerungen und einem Ausblick auf die weitere Forschung, in denen nochmals der aktuelle Stand der Forschung sowie die Ergebnisse der einzelnen Beiträge resümiert werden. Leider lassen sich, wie auch schon im Handbuch Jungen-Pädagogik, in diesem Buch keine Aufsätze zur Familienforschung finden, wenngleich einige Forschungsergebnisse thematisch in den entwicklungspsychologischen und sozialtheoretischen Beiträgen subsumiert werden. Gleiches gilt für die Peer-group-Forschung. Beide Themen werden in den „Schlussfolgerungen und Ausblick“ der Mädchenforschung (Kühnl und Schultheis) aber zumindest angerissen.

Den zentralen inhaltlichen Ansatzpunkt aller Beiträge bildet der empirisch nachgewiesene (PISA-)Schulerfolg der Mädchen als den „Gewinnerinnen der Bildungsreform“ (Kiper, S. 173) gegenüber den Jungen, obwohl gleichzeitig mehrfach betont wird, dass diese Aussage nur eingeschränkt gültig ist (z. B. trifft sie nicht auf Mädchen mit Migrationshintergrund zu). Der Herausgeber und die Herausgeberin begründen den interdisziplinären Zugang ihres Handbuchs zum Thema Mädchenpädagogik mit dem Wunsch nach einer „realistischen Wende“ (S. 11), um sich von der Dominanz der sozialkonstruktivistischen Sichtweise abzuwenden. Leider überzeugen jedoch besonders die Aufsätze aus den Bio- und Neurowissenschaften (Bischof-Köhler, Strüber) nicht. Zudem stehen die einzelnen Beiträge gerade im ersten Schwerpunkt größtenteils ohne gegenseitige Bezugnahme nebeneinander.

Die Beiträge von Hagemann-White (sozialisationstheoretische Perspektiven) und Ströber (Ergebnisse der Hirnforschung) sowie Bischof-Köhler (evolutionstheoretische und entwicklungspsychologische Perspektiven) wirken auf Leser nahezu kontrastierend. Während Ströber und Bischof-Köhler die Geschlechtsunterschiede naturalisieren oder als menschheitsgeschichtliches Erbe (v)erklären, die das Individuum determinieren, weist Hagemann-White darauf hin, dass das Geschlecht eine zentrale Dimension sozialer Ordnung sei (S. 53 f.), das nicht, wie von vielen Forschern behauptet wird, eine individuelle Eigenschaft von Personen sei. Frau Hagemann-White sticht mit ihrem fundierten Beitrag, der einige vielrezipierte Studien zur Sozialisationsforschung der letzten Jahre sehr verständlich aufgreift, in diesem ersten Teil des Buches positiv hervor.

Der zweite und dritte Teil des Sammelbandes dürfte für Praktiker/innen interessant sein, da hier Forschungsergebnisse zu Mädchen in Bildungsinstitutionen und in den naturwissenschaftlich-technischen Fächern referiert werden. Auch wird auf die aktuelle Forschungslage zu Mädchen mit Migrationshintergrund, Mädchen mit Lernschwierigkeiten sowie solchen mit Hochbegabung und den Einfluss von Selbstkonzepten auf die Lernleistung eingegangen. Als Überblick und für einen ersten Einblick in die Thematik sind diese Beiträge gut geeignet. „Mädchen und MINT“ (S. 220–268) befasst sich mit dem Schulerfolg der Mädchen in Mathematik, Technik und Naturwissenschaften und sucht Ursachen für ihre schlechteren Leistungen gegenüber den Jungen. Dass dies keine natürliche Disposition der Mädchen sein kann, beweisen die PISA-Ergebnisse der Länder Island und Finnland (Martignon, S. 225). Der Grund wird vielmehr in den mangelhaften Fähigkeitsselbstkonzepten der Mädchen vermutet (u. a. Ludwig).

An den Beiträgen zu Mädchen im Bildungsbereich ist auffällig, dass die gemessenen Unterschiede zumeist den stereotypen Zuschreibungen an die Geschlechter entsprechen (Mädchen sind sensibler für soziale Reize, verhalten sich eher unauffällig; Jungen sind aggressiver, überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten). Dabei werden „die Mädchen“ oft als homogene Gruppe behandelt. Viele der Autor(inn)en dieses Handbuchs stellen die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen heraus, z. B. in der Berufswahl (Matzner) oder in den Fächerinteressen (Stapf), ohne dabei ausreichend auf andere Einflussvariablen einzugehen – Stichwort Intersektionalität. Dies ließ schon der Titel „Handbuch Mädchen-Pädagogik“ vermuten. In ihrem Ausblick auf die „Mädchenforschung – aktuelle Ergebnisse, Desiderata, Probleme“ (S. 376–389) ziehen Kühnl und Schultheis ein Fazit aus den vorangegangenen Beiträgen und weisen darauf hin, dass es ein forschungsmethodisches Problem sei, das sich jeder Geschlechterforschung stellt, „nämlich, ob nicht durch die Unterscheidung von Geschlechtern Geschlechterdifferenzen erst produziert werden“ (S. 377). Allerdings zeigen sich nicht alle Autoren in dieser Form kritisch gegenüber den Forschungsergebnissen, die sie referieren. Sie verstärken damit erst eine Wahrnehmung von Unterschieden (gerade bei Leser[inne]n, die wenig mit den Ergebnissen der Genderforschung vertraut sind), die dann wiederum oft durch statistische, „harte“ Daten naturalisierend und determinierend wirken. Wie diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern zustande kommen, beantwortet u. E. der Beitrag von Hagemann-White. Zusätzlich wäre auch ein diskursanalytischer Zugang wünschenswert, wie er z. B. bei Hark (2001, 2007) zu finden ist. Allen Autor(inn)en ist positiv anzurechnen, dass sie aus den Ergebnissen der Forschung auf ihrem Gebiet pädagogische Schlussfolgerungen ableiten, die zwar nicht immer neu und differenziert sind, aber dennoch dem Praktiker resp. der Praktikerin nützen dürften. Beispielsweise wird oft – zu Recht – eine umfassende Genderkompetenz der pädagogisch Tätigen gefordert (z. B. bei Kühnl und Schultheis).

Das „Handbuch Mädchen-Pädagogik“ eignet sich gut als Nachschlagewerk, da hier unterschiedliche Forschungsansätze für die Mädchenpädagogik auf übersichtliche Weise zugänglich gemacht werden. Die meisten Beiträge sind fundiert, da sie sich auf anerkannte Studien der vergangenen 20 Jahre beziehen, auch wenn einige Aussagen in den verschiedenen Beiträgen redundant sind, z. B. dass die Auswahl des Spielzeugs bereits ab dem Alter von einem Jahr geschlechtstypisch erfolgt. Praktiker/innen können von den pädagogischen Empfehlungen profitieren, sofern sie die einzelnen Beiträge nicht unkritisch rezipieren. Erfahrenen Gender- und Frauenforscher[inne]n wird das Buch jedoch eher keine neuen Erkenntnisse bringen.