1 Neues Interesse für das Engagement

Kaum ein Thema hat die Politik, die Öffentlichkeit und die Wissenschaften in den letzten Jahren so bewegt wie die facettenreichen Konzepte von bürgerschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft. Diese Konjunktur, in Deutschland wie international, hat mehrere Ursachen. Sie ist zum einen auf aktuelle Gesellschaftsentwicklungen zurückzuführen: zunehmende Individualisierung, soziale Desintegration, Verlust sozialer Bindungen, geringer werdendes Interesse an Politik und das Schwinden der Leistungsfähigkeit traditioneller Sozialsysteme. Zum anderen finden die Potenziale und Möglichkeiten zur Lösung von Problemen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen sowie der Beitrag zur effizienten Gestaltung von gesellschaftlichen Prozessen verstärkte Beachtung. Dies trifft für die weitere Demokratieentwicklung ebenso zu wie für die Gestaltung sozialer Fragen. Zunehmend werden dem Engagement in letzter Zeit auch im Bereich von Bildung und Erziehung besondere Fähigkeiten und Potenziale zugeschrieben.

Ganz allgemein besteht der Hintergrund der gestiegenen Aufmerksamkeit in einem Paradigmenwechsel. Lange Zeit setzte man einseitig auf die Kräfte von Markt oder Staat und maß dem Engagement der Bürger inner- und außerhalb zivilgesellschaftlicher Organisationen keine oder lediglich geringe Bedeutung bei. Angesichts der heute allein in Deutschland bestehenden rund 550.000 eingetragenen Vereine, der über 17.000 Stiftungen, der zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen in anderen Rechtsformen und des Engagements, das in weniger formalisierten Projekten, nachbarschaftlichen Initiativen oder auch darüber hinausgehend erfolgt, hat sich dies grundlegend verändert: Die Bereitschaft der Bürger zur Selbstorganisation und ihr finanzieller (Spenden, Mitgliedsbeiträge) wie nichtmaterieller Beitrag (Zeit, Energie, Ideen) für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Belange werden als Ausdruck einer vitalen Zivilgesellschaft und als Grundlage für das Funktionieren einer modernen Gesellschaft angesehen. Dabei werden vor allem die demokratisierenden und sozial integrativen Funktionen sowie die Beiträge zur Wohlfahrtsproduktion bzw. zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur hervorgehoben. Vielseitige Verbindungs- und Wirkungsmöglichkeiten des Engagements werden auch im Bereich des Lernens und der Bildung wie im Rahmen von Civic Education, Service Learning oder des Lernens in informellen Kontexten ausgemacht. Dem Engagement werden besonders durch die hier erfolgende Verantwortungsübernahme spezielle Fähigkeiten zur Herausbildung und Entwicklung personaler, sozialer, fachlicher und organisatorischer Kompetenzen zugeschrieben (vgl. Düx u. Sass 2005; Düx et al. 2008).

Trotz aller Fortschritte in den letzten Jahren, die sich beispielsweise in den Ergebnissen der Enquete-Kommission des Bundestages „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ aus dem Jahr 2002, in den vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegebenen Freiwilligensurveys aus den Jahren 1999, 2004 und 2009 (vgl. den Beitrag von Gensicke in diesem Heft)Footnote 1 oder anderer empirischer Erhebungen und wissenschaftlicher Analysen zeigen, wissen wir heute noch immer zu wenig über das Engagement, die langfristige Wirkung von förderlichen und hemmenden Rahmenbedingungen, die Leistungsfähigkeit sowie seine Verankerung in der Zivilgesellschaft.

Insofern ist der Beschluss des Deutschen Bundestages zu begrüßen, die Bundesregierung zu beauftragen, je Legislaturperiode einen entsprechenden Bericht zu erstellen – im Format vergleichbar mit den „Familienberichten“, den „Kinder- und Jugendberichten“ oder den „Altenberichten“ (vgl. Deutscher Bundestag 2009). Die Entscheidung für eine regelmäßige, wissenschaftliche Berichterstattung, die über die Durchführung einer einzelnen empirischen Erhebung hinausreicht, ist eine wichtige Maßnahme, um das Wissen in diesem Bereich zu verbreitern und zu vertiefen. Mit der Vorlage des vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung im Jahre 2009 erstellten und vom BMFSFJ geförderten „Berichts zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland“ (vgl. Alscher et al. 2009a) wurde ein erster Schritt in diese Richtung getan. Der Bericht stellt die Zusammenführung verfügbarer Daten und die Durchführung eigenständiger sekundäranalytischer Auswertungen in den Vordergrund; eigenständige Untersuchungen waren aufgrund der knapp bemessenen Projektlaufzeit nicht vorgesehen. Mit diesem Bericht liegt aber nicht nur eine Zusammenfassung vorhandener empirischer Ergebnisse, sondern auch ein Überblick zur bisherigen Engagementforschung vor. Neben der Bilanzierung des Ist-Zustandes wurden zugleich grundlegende Handlungsempfehlungen für Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und die künftige Engagementforschung entwickelt. Der vorgelegte Bericht wendet sich mit dem Schwerpunkt „Engagement im Kontext von Familie und familiennahen Dienstleistungen“ einem neuen Feld der Engagementforschung zu und kommt zu dem Ergebnis, dass die Potenziale des Engagements in diesem Bereich zwar noch nicht ausgeschöpft werden, es aber auch deutliche Grenzen als „Ausfallbürge“ für den Rückgang staatlicher Leistungen gibt.

Zu den wichtigen Ergebnissen des Berichts zählt, dass die bisher vorliegenden Befunde zur Entwicklung des Engagements uneinheitlich sind: Während einige empirische Untersuchungen ein weiteres Wachstum oder eine Kontinuität des Engagements diagnostizieren, berichten zivilgesellschaftliche Organisationen eher von Stagnation oder zurückgehender Engagementbereitschaft. Das muss nicht unbedingt den Schluss eines rückläufigen individuellen Engagements nahelegen, sondern kann Ausdruck sein für ein geringeres Interesse für bestimmte Engagementtätigkeiten oder für verschiedene Bereiche, in denen die Organisationen agieren. Gleichwohl belegen Aussagen, wie sie im Sportentwicklungsbericht 2007/2008 (vgl. Breuer 2009) oder in einem Bericht der Robert Bosch Stiftung (vgl. Frey et al. 2009) enthalten sind, dass eine zunehmende fehlende Bindung bzw. Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Ehrenamtlichen für den Vorstand oder andere Funktionen vorhanden sind. Dies zeigt, dass die wissenschaftlichen und politischen Diskussionen nicht widerspruchsfrei sind. So wird einerseits der Ausbau der Zivilgesellschaft, des bürgerschaftlichen Engagements und des sozialen Kapitals als wichtig zur Integration und zur Einbeziehung des Einzelnen und von Gruppen in die Gesellschaft angesehen. Andererseits wird vor einer Flut von Vereinen und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen gewarnt, da sie auch zur Verfestigung bestehender sozialer Schichten beitragen und Zeichen neuer Segmentierung sein können.

Dem gegenwärtig vorgefundenen Engagement auf der individuellen Ebene werden eine starke Heterogenität und eine hohe Dynamik bescheinigt (vgl. Alscher et al. 2009a; Gensicke et al. 2006; Kistler et al. 2002; Heinze u. Olk 2001; Beher et al. 2000). Heterogen ist das Engagement insofern, als es in allen gesellschaftlichen Bereichen – vom Sport über den sozialen Bereich, Bildung, Religion bis zu Gesundheit, Umwelt oder Familie – in unterschiedlichen Facetten zu finden ist. Hervorzuheben sind des Weiteren die unterschiedlichen Formen, Ausprägungen, Intensitäten und organisatorischen Bindungen. Dynamisch ist es, da es sich ständig in Bewegung, Veränderung und Entwicklung befindet. Dies spiegelt sich u. a. in dem unterschiedlichen Zuspruch wider, den einzelne Engagementfelder erhalten: Während manche Bereiche wie der Sport eine starke Kontinuität aufweisen, haben andere Bereiche – z. B. die Umwelt – in manchen Zeiten Konjunkturen erfahren und sind heute im Engagement nicht mehr so gefragt. Verstärkter Zuspruch, Aufwärtstrends und neue Wachstumsfelder des Engagements zeichnen sich immer dort ab, wo besondere gesellschaftliche Problemlagen vorliegen und innovative Lösungen erforderlich sind (vgl. Beher et al. 2000; Walk 2010).

Neben den bereichsbezogenen Veränderungen vollziehen sich bestimmte Entwicklungen der Engagementformen: Engagement ist einerseits häufig in seiner Verantwortung, der erforderlichen Regelmäßigkeit und Qualifikation der Erwerbsarbeit immer ähnlicher; andererseits wird es durch die Präferenz auf zeitlich begrenzte Aktivitäten und Projektbezogenheit immer weniger verlässlich und beständig. Darüber hinaus ist mit Veränderungen von Engagementformen auch der organisationale Kontext angesprochen. Zu klären ist dabei, inwiefern sich informelle Tätigkeiten beispielsweise in der Nachbarschaftshilfe von jenen des Engagements im Rahmen von Organisationen unterscheiden und inwieweit die Grenzen zwischen formellem und informellem Bereich verwischt werden. Insofern sind in mehrfacher Hinsicht Entgrenzungstendenzen auszumachen (vgl. Hildebrandt u. Priller 2008).

2 Engagement in unterschiedlichen gesellschaftlichen Perspektiven und Kontexten

Trotz partieller Unterschiede fallen die Einschätzungen und Analysen zum Engagement und zur Zivilgesellschaft vorwiegend positiv aus (vgl. Olk et al. 2010; Alscher et al. 2009a; Reimer 2006; Enquete-Kommission … 2002). Dass sich diese beiden Themen hoher Aufmerksamkeit erfreuen, ist nicht zuletzt auch auf ein Anwachsen des individuellen Engagements der Bürgerinnen und Bürger sowie die Zunahme von zivilgesellschaftlichen Organisationen zurückzuführen. Obwohl die Entwicklung des individuellen Engagements und der Ausbau der organisierten Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahren die deutsche Gesellschaft in einem hohen Maße mitgestaltet haben, bestehen in wissenschaftlicher Hinsicht zurzeit noch beträchtliche definitorische Unklarheiten und Datenlücken (vgl. Anheier u. Spengler 2009). Das betrifft vor allem auch die Verbindung beider Aspekte des Engagements, also der individuellen und der organisationellen Ebene. Zudem werden die Einbindung in gesellschaftliche Kontexte und die Reflexion in verschiedenen wissenschaftlichen Theorien oft noch zu eng gesehen. Die Vereinnahmung durch einzelne Konzepte und Theorien widerspricht jedoch der Komplexität und Vielschichtigkeit des Engagements. So bietet zwar die politische Sozialisationsforschung durch ihren interdisziplinären Zuschnitt und die Einbeziehung von Soziologie, Politikwissenschaft, Pädagogik und Psychologie einen breiten Zugang, die Reduktion des Engagements auf die bewusste und unbewusste Aneignung gesellschaftsbezogener Kenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen und Werte zu beschränken, reicht aber nicht aus. Im gegenwärtigen Stadium ist insgesamt ein Überdenken der theoretischen und empirischen Ansätze der Engagementforschung erforderlich. Daher ist in diesem Zusammenhang auch auf die definitorischen Bestimmungen und Kontextbindungen des Engagements näher einzugehen.

Sowohl im wissenschaftlichen als auch im politischen Sprachgebrauch finden Begriffe wie bürgerschaftliches Engagement, politische Partizipation, Freiwilligenarbeit, freiwilliges Engagement und Ehrenamt Verwendung. Übereinstimmend wird allgemein unter Engagement ein individuelles Handeln verstanden, das sich durch Freiwilligkeit, fehlende persönliche materielle Gewinnabsicht und eine Ausrichtung auf das Gemeinwohl auszeichnet (vgl. United Nations 1999, S. 2; Heinze u. Olk 2001; Beher et al. 2000; Zimmer u. Nährlich 2000; Alscher et al. 2009a). Betont wird darüber hinaus das Stattfinden dieser Tätigkeit im öffentlichen Raum, um vor allem Teilhabe, Transparenz, Verantwortung und Dialog durch Öffentlichkeit zu sichern (vgl. Enquete-Kommission … 2002, S. 57; Klein 2001). Die Gemeinwohlorientierung schließt einen individuellen Nutzen in Form der Aneignung von Wissen und Kompetenz, das Knüpfen und die Pflege sozialer Beziehungen oder andere ideelle Erträge nicht aus. Wesentliches Merkmal des Engagements ist, dass es durch gesellschaftliche Verantwortung mit unterschiedlicher Reichweite – vom internationalen humanitären Einsatz bis hin zu alltäglichen Unterstützungs- und Hilfeleistungen – geprägt wird.

Das bürgerschaftliche Engagement wird in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion in der Regel sehr eng mit Kontexten der politischen Partizipation, Demokratiewahrnehmung und -stärkung verbunden (vgl. Roth 2010). Das Engagement wird dabei häufig darauf reduziert, dass es in zivilgesellschaftliche Organisationen oder staatliche Institutionen eingebettet ist (vgl. Enquete-Kommission … 2002, S. 57). Es stellt sich allerdings unter dem Gesichtspunkt aktueller Entwicklungen die Frage, ob eine solche Engführung des Begriffs des bürgerschaftlichen Engagements ausreicht, wenn durch das alltägliche Engagement zunehmend bestimmte wohlfahrtsrelevante Produkte und Leistungen erbracht werden.

So gibt es neben einem politischen, sozialen, kulturellen oder auf Geselligkeit ausgerichteten Engagement zahlreiche informelle Tätigkeiten, die in Formen des nichtorganisierten Engagements realisiert werden (vgl. Alscher et al. 2009a). Gemeint sind hier Tätigkeiten, die im Sinne einer umfassenden Gemeinnützigkeit von Individuum zu Individuum anzutreffen sind. Sie werden außerhalb der Kernfamilie (Eltern mit Kindern) im Rahmen von Netzwerken geleistet, die aus Nachbarn, Freunden und Verwandten bestehen. In den meisten Untersuchungen sind diese Aktivitäten in Deutschland bislang noch nicht oder eher undifferenziert erfasst – und werden deshalb in ihrem Ausmaß und ihren gesellschaftlichen Wirkungen unterschätzt. Bereits die Enquete-Kommission (2002, S. 65) betonte die Bedeutung dieses Bereichs, ging aber nicht intensiver auf ihn ein. In den empirischen Konzepten anderer Länder wie in Österreich oder der Schweiz ist dieser Gesichtspunkt seit Längerem ein elementarer Bestandteil der Erhebungen und Analysen (vgl. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2009; Rameder et al. 2010; Stadelmann et al. 2007; Ammann 2010).

Ein weiterer Gesichtspunkt, der bei der Verwendung des Begriffs des bürgerschaftlichen Engagements zu wenig zum Tragen kommt, besteht in der besonderen Dynamik und Offenheit des Engagements gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen. Dies wird in einzelnen Ansätzen allerdings bereits stärker berücksichtigt. So wird beispielsweise unter den Gesichtspunkten der Sicherung von Qualitätsstandards und einer Ausrichtung auf Nachhaltigkeit im „baden-württembergischen Weg“ eine Reihe von Merkmalen für das Engagement hervorgehoben, die bestimmte Wandlungen und neue Akzentsetzungen verdeutlichen. Bürgerschaftliches Engagement zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es „unterschiedliche Strukturen verbindet, Kooperationen sucht, Netzwerke schafft und offen für neue Zusammenhänge ist“ (Hoch et al. 2007, S. 242). Indem das Ineinandergreifen von unterschiedlichen Akteuren, Instrumenten und Netzwerken eine wichtige Rolle einnimmt, wird das Engagement dabei fest in den Kontext der organisierten Zivilgesellschaft eingebunden.

Ein erweitertes Verständnis von Engagement muss letztlich auch zur Überprüfung hinsichtlich der Zweckmäßigkeit und Treffgenauigkeit des Begriffs „bürgerschaftliches Engagement“ führen. Bei einer Ausweitung der Engagementbereiche, der Organisations- und Engagementformen ist zu bedenken, ob der Begriff dem breiten Spektrum der abzubildenden Sachverhalte künftig noch ausreichend gerecht werden kann. Letztlich sind deshalb Überlegungen zu einer neuen Begrifflichkeit angebracht. Da sich auch international immer mehr der Begriff „civic engagement“ – Zivilengagement bzw. zivilgesellschaftliches Engagement – durchsetzt, spricht vieles für die Verwendung dieses Begriffs.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem Engagement eine ausgeprägte Multifunktionalität zuzuweisen ist. Bei den zivilgesellschaftlichen Organisationen, in denen ein großer Teil des Engagements realisiert wird, leitet sich diese Mulifunktionalität bereits aus der starken Heterogenität der organisationalen Rechtsformen, den Unterschieden in der Größe sowie dem breiten Tätigkeits- und Wirkungsspektrum ab (vgl. Zimmer u. Priller 2007, S. 20 ff.; Priller 2008, S. 301 ff.). So sind internationale Hilfsorganisationen, nationale Wohlfahrtsverbände, lokale Kulturvereine oder Bürgerinitiativen als zivilgesellschaftliche Organisationen immer auch auf die Wahrnehmung unterschiedlicher Funktionen ausgelegt; die lokale Bürgerinitiative beispielsweise bewegt sich in einem anderen Wirkungskreis als eine global agierende Menschenrechtsorganisation. Entsprechend gestaltet sich das Engagement in den einzelnen Organisationen und in den nichtorganisierten Formen sehr unterschiedlich. Einzelne wissenschaftliche Ansätze gewichten die verschiedenen Funktionen ungleich stark, was zu einseitiger Wahrnehmung führen kann.

Es lässt sich festhalten, dass die Wirkungen von Engagement und zivilgesellschaftlichen Organisationen in den einzelnen Aktivitätsfeldern sehr differenziert sind. Bestandsaufnahmen, Analysen und Bewertungen hierzu müssen deshalb nicht nur der Vielfalt – d. h. ihren verschiedenen Formen und Ausprägungen – Rechnung tragen, sondern haben zugleich die Perspektiven der jeweiligen Einbindungen, Kontexte und Wirkungen zu berücksichtigen. – Um dies zu verdeutlichen, wird im Folgenden auf einzelne Funktionen näher eingegangen.

Stärkung der Demokratie. Ein nachhaltiger Beitrag zur Stärkung der Demokratie ist vor allem als Reaktion auf vielfach ausgemachte Defizite erforderlich: Vertrauensverluste in die Politik, steigende Zahlen von Nichtwählern und ein rückläufiges Engagement in den politischen Parteien verweisen nicht nur darauf, dass Letztere zunehmend an Bindekraft verlieren. Gleichzeitig wird ihnen vorgeworfen, dass ihre verfestigten organisatorischen Strukturen nicht mehr den sich weiter ausdifferenzierenden Interessenlagen der Bürger entsprechen. Demgegenüber wird zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem Engagement in ihnen ein hoher Stellenwert bei der Interessenartikulation und der Interessenvertretung spezieller Gruppen eingeräumt (vgl. Roth 2010).

Aufgrund seiner Unabhängigkeit und geringeren Einbindung in das politische System werden einem solchen Engagement auch eine stärkere Kritikfähigkeit und eine bessere Problemlösungsorientierung zugesprochen. Dabei betrachtet man Kritik heute seltener als Krisenindikator der Demokratie, sondern vielmehr als Antriebskraft und Stimulus für Gesellschaftsgestaltung (vgl. Geißel 2006).

Gleichzeitig wird jedoch die Rolle des Engagements und der zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Interessenartikulation und durchsetzung sehr unterschiedlich eingeschätzt; beispielsweise wird vom Engagement in und auch von den Sportvereinen selbst anderes erwartet als von Bürgerinitiativen und Organisationen, die als sog. Themenanwälte in Bereichen wie Umwelt oder internationale Aktivitäten tätig sind. Aber gerade vom Engagement in lokalen Organisationen erhofft man sich, dass sie als Basis demokratischer Gesellschaften an Gewicht gewinnen, da sie intern auf die Persönlichkeitsentwicklung und Vertrauensbildung der Bürger wirken, während sie extern zur Effektivität und Stabilität demokratischer Regierungen beitragen (vgl. Putnam 1993, S. 89).

Sicherung und Gewährleistung sozialer Integration. Neben der Funktion der Interessenvermittlung wird die bedeutende Rolle des Engagements bei der individuellen Identitätsbildung bzw. der Ausbildung einer bürgerschaftlichen Gesinnung und eines Zugehörigkeits- und Selbstwertgefühls besonders hervorgehoben. Engagement besitzt demzufolge spezielle Fähigkeiten, um die im Zuge von Modernisierungsprozessen zunehmende Individualisierung und die damit häufig entstehenden Bindungsverluste zu traditionellen Bereichen wie Familie und Arbeit auffangen und ausgleichen zu können (vgl. Beck 1996, S. 206); es ist Produzent des sozialen Kitts bzw. des sozialen Zusammenhalts (vgl. Kistler et al. 2002). Engagement und die zivilgesellschaftlichen Organisationen nehmen somit eine zentrale Position im gesellschaftlichen Integrationsmechanismus ein. Hervorzuheben ist der hohe Stellenwert im Rahmen der Migrationsthematik, beispielsweise bei der Migrantenselbstorganisation.

Beitrag zur Werte- und Normenbildung und zum zivilen Verhalten. Fast alle Ansätze, die nach künftigen Möglichkeiten gesellschaftlicher Steuerung suchen, plädieren für eine stärkere Werte- und Normenorientierung (vgl. Opaschowski 2008). Als werte- und normengeleitetes Konzept wird dem Engagement und den zivilgesellschaftlichen Organisationen eine spezielle Vermittlungsfunktion zwischen der Gesamtgesellschaft, den sozialen Gruppen und dem einzelnen Bürger bei der Erreichung gesellschaftlich konsensfähiger Werte und Normen sowie eines übereinstimmenden Verhaltens zugewiesen.

Mit der Betonung von sozialen Werten und Normen der Gewaltfreiheit, Toleranz und Gemeinwohlorientierung sowie der Ausrichtung auf ein entsprechendes ziviles Verhalten wird verhindert, dass alle Organisationen trotz unterschiedlicher Zielsetzung einen gleichen gesellschaftlichen Wert erhalten (vgl. Etzioni 2005). Damit wird auch vermieden, dass z. B. Organisationen mit einem rechtsradikalen Hintergrund oder ähnlicher Gesinnung unter dem Label der Zivilgesellschaft agieren (vgl. Roth 2008).

Beitrag zur Wohlfahrtsproduktion. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Engagement stellen im Rahmen von Wohlfahrtsverbänden, Sport- und Kulturvereinen, anderen gemeinnützigen Rechtsformen und auch in nichtorganisierten Tätigkeitsfeldern bestimmte Leistungen für Interessenten und Bedürftige bereit. Häufig werden sie als soziale Dienstleister und als alternative Wohlfahrtsproduzenten angesehen (vgl. Evers u. Olk 1996). Demnach verkörpern sie eine Alternative einerseits zum Markt, für den sich die Einsatzfelder „rechnen“ müssen, und andererseits zum Staat, der offensichtlich nicht weiter ausbaufähig ist und sich bei der Deckung vorhandener und neuer Bedarfe sowie bei Innovationen enorm schwer tut. Die Leistungen, die zivilgesellschaftliche Organisationen und Engagement erbringen, liefern als Kollektivgüter einen bedeutenden Beitrag für den Erhalt und Ausbau der sozialen Infrastruktur. In den letzten Jahren wird dabei verstärkt auf das Zusammenwirken von staatlichen Einrichtungen, Marktunternehmen und Akteuren des Dritten Sektors in hybriden Organisationen hingewiesen (vgl. Evers 2005; Klie u. Ross 2005).

Realisierung von sozialpolitischen Aufgaben. Vor allem in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Bildung und Kultur erfüllt das zivilgesellschaftliche Engagement bei der Realisierung staatlicher sozialpolitischer Aufgaben wichtige Funktionen. Im Rahmen seiner Sozialpolitik greift der Staat in Deutschland traditionell auf unterschiedliche institutionelle Arrangements bzw. auf vier Grundtypen von Leistungsproduzenten zurück: 1) zentrale und lokale Dienstleistungserbringer der öffentlichen Hand, 2) private gewinnorientierte Unternehmen, 3) informelle Leistungssysteme von Familie und Nachbarschaft sowie 4) zivilgesellschaftliche Organisationen (vgl. Badelt 2001, S. 24).

In Deutschland sind zivilgesellschaftliche Organisationen und Engagement durch das Subsidiaritätsprinzip in besonderer Weise in die Realisierung staatlicher Sozialpolitik eingebunden (vgl. von Nell-Breuning 1976; Sachße 1995). Es weist zivilgesellschaftlichen Organisationen einen Vorrang gegenüber der öffentlichen Hand bei der Erstellung sozialer Dienstleistungen zu.

Zivilgesellschaftliches Engagement und Beschäftigung. In einer Gesellschaft, die ein verändertes Verständnis hinsichtlich bezahlter Arbeit entwickelt, erhält Engagement einen neuen Stellenwert. Wenn die bezahlte Arbeit nicht mehr das „Maß aller Dinge“ ist, dann gewinnt das Engagement an gesellschaftlichem Ansehen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen verzeichnen eine steigende arbeitsmarktpolitische Relevanz. Bereits seit den 1960er-, vor allem aber ab den 1990er-Jahren können sie eine kontinuierliche Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen verbuchen: Während im Jahre 1990 in der alten Bundesrepublik in diesem Bereich nur 1,3 Mio. Menschen auf Vollzeit- oder Teilzeitstellen oder als geringfügig Beschäftigte gezählt wurden, gab es 1995 im vereinigten Deutschland dort bereits 2,1 Mio. Arbeitsplätze. Gegenwärtig wird ihre Zahl auf etwa 3 Mio. geschätzt.

Bei den beschäftigungsintensiven zivilgesellschaftlichen Organisationen mit ihren Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialbereich waren in den letzten Jahren deutliche Trends zur Flexibilisierung der Beschäftigung und insbesondere die Zunahme von Teilzeitbeschäftigung festzustellen (vgl. Dathe u. Schmid 2001). Hervorzuheben ist, dass die spezifischen Arbeitsformen in den Organisationen und die enge Verbindung zwischen bürgerschaftlichem Engagement und beruflicher Tätigkeit für den Einzelnen zum einen als Chance zur Integration in den Arbeitsmarkt und zum anderen, vor allem in besonderen Lebensphasen, als sinnvolle Brücke dorthin fungieren können.

3 Periodisierung und Stränge der Engagementforschung

Der folgende Abschnitt basiert auf Darstellungen in Alscher et al. (2009b, S. 10–15).

3.1 Periodisierung

In den vergangenen 15 Jahren hat die Forschung zum Themenbereich Engagement und Zivilgesellschaft in Deutschland einen bedeutenden quantitativen und qualitativen Aufschwung erfahren.

Die Forschung lässt sich entsprechend der Einschnitte zur Verbesserung der empirischen Basis grob in drei Phasen einteilen: Die erste Phase beginnt mit dem Bedeutungszuwachs zivilgesellschaftlicher Themen in den 1980er- und 1990er-Jahren und endet mit der Vorlage der Ergebnisse des ersten Freiwilligensurveys, der im Jahre 1999 durchgeführt wurde. Die zweite Phase erstreckt sich bis zum Erscheinen der Ergebnisse des zweiten Durchgangs des Freiwilligensurveys von 2004. Danach kann eine dritte Phase datiert werden, an deren Ende heute neue Aufbrüche in der Engagementforschung angemahnt werden.

In der ersten Phase reagierte die Forschung auf den Bedeutungszuwachs des neuen und zugleich alten Konzepts der Zivilgesellschaft zunächst mit begrifflichen, ideengeschichtlichen und konzeptionellen Überlegungen. Für die empirische Forschung war dieses Thema noch randständig (vgl. Beher et al. 1998). Hintergrund der wachsenden sozialwissenschaftlichen Aufmerksamkeit war das Erstarken der Oppositionsbewegungen in Osteuropa, die sich explizit den Begriff Zivilgesellschaft zu eigen machten und sich als zivilgesellschaftliche Bewegungen verstanden. In Deutschland waren es die neuen sozialen Bewegungen, die der politischen Dimension der Zivilgesellschaft einen zusätzlichen Schub verschafften (vgl. Rucht 2003). In diese erste Phase fällt auch die Beobachtung, dass der traditionelle Begriff des Ehrenamtes, der bislang zur Bezeichnung des freiwilligen Engagements in Vereinen und Verbänden verwendet wurde, den Veränderungen im Engagementverhalten nicht mehr gerecht wurde (vgl. Beher 2000). Die Organisationssoziologie ermittelte neben den bereits bestehenden verbandlichen Strukturen ein enormes Wachstum von neuen Organisationen (NGOs, Menschenrechtsgruppen, Umwelt- und Tierschutzorganisationen) und Initiativen im regionalen und lokalen Raum.

Die Veränderungen im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement und insbesondere in den großen Wohlfahrtsverbänden selbst sind in der ersten Phase ein zentrales Thema der forschungspolitischen Diskussion zum Engagement.

In dieser ersten Phase der Neuorientierung nimmt auch die Forschung zum Dritten Sektor ihren Anfang. Sie begann 1990 mit einem international angelegten vergleichenden Großprojekt, dem „Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project“, und hat Auswirkungen bis heute. Dabei geht es erstens um die Abgrenzung des Dritten Sektors gegenüber den Sektoren Markt und Staat, zweitens um eine organisationssoziologische und ökonomische Perspektive auf die Organisationen in diesem Sektor sowie drittens um die Rolle von Engagierten in diesen Organisationen.

In der zweiten Phase, deren Beginn um das Jahr 1999 anzusetzen ist, wurden die Forschungsergebnisse der ersten Phase reflektiert und in neue Konzepte umgesetzt. Gleichzeitig gewann die Forschung zu diesem Themengebiet zunehmend an Relevanz für die Politik, und sozialwissenschaftliche Forschung wurde auch durch politische Institutionen initiiert.

Die Neuausrichtung der Forschung in dieser Phase ist mit einer Reihe von Sammelbänden gut dokumentiert (vgl. Heinze u. Olk 2001; Beher et al. 2000; Kistler et al. 2002). Die Initialzündung für diese neue Stufe gab die hinsichtlich ihrer methodischen Qualität zu kritisierende Eurovol-Studie (vgl. Gaskin et al. 1996) – eine vergleichende Studie zum Volunteering in zehn europäischen Ländern. Deutschland nahm in dieser Untersuchung den letzten Platz ein. Zudem wurde deutlich, dass es bis dahin im Deutschen keinen passenden Begriff für den des Volunteering gab.

Markantes Ergebnis der wissenschaftlichen Diskussion war der neue Begriff des bürgerschaftlichen Engagements, auf den man sich in Abgrenzung zum traditionellen „Ehrenamt“ geeinigt hat (vgl. Heinze u. Olk 2001, S. 13 ff.). Der Begriff wird mit einer Reihe von Kriterien (Gemeinwohlbezug, Freiwilligkeit, Unentgeltlichkeit, Öffentlichkeit) näher definiert und in Bezug zur „Bürgergesellschaft“ gesetzt.

Die wissenschaftliche Diskussion hat mit den Ergebnissen des ersten Freiwilligensurveys von 1999 (vgl. von Rosenbladt 2000) eine neue und methodisch solide empirische Grundlage erhalten. In der mit 15.000 telefonisch Befragten bis zu diesm Zeitpunkt größten repräsentativen Erhebung zum freiwilligen Engagement in Deutschland konnte ein umfassendes und facettenreiches Bild des Engagements gezeichnet werden. Wenngleich andere empirische Erhebungen (Zeitbudget-Studie, Sozio-oekonomisches Panel [SOEP]) zu abweichenden Ergebnissen kamen, so war von diesem Zeitpunkt an mit der ermittelten Engagementquote von 34 % ein Referenzwert gesetzt. Die oft beklagte unzureichende Datenlage wurde durch diese umfangreiche Erhebung verbessert. Mit dem Freiwilligensurvey einher ging eine breite Diskussion über eine Indikatorik und es wurde eine wichtige Entscheidung darüber getroffen, wer als engagiert gilt. Darüber hinaus gab es vertiefende Analysen zum Engagementverhalten von Jugendlichen, Senioren und Arbeitslosen sowie zur Genderperspektive.

Die Ergebnisse des Freiwilligensurveys 1999 wurden intensiv von der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages ausgewertet und als Grundlage für eine Fülle von Handlungsempfehlungen verwendet. In den Bericht der Kommission, der 2002 vorlag, ging ein breites Spektrum von wissenschaftlichen Gutachten zu zahlreichen Aspekten des bürgerschaftlichen Engagements ein (vgl. Enquete-Kommission … 2002).

In einer dritten Phase der Engagementforschung, die ab etwa 2004 einsetzt und bis heute andauert, wurde anfangs die in der ersten Phase eingeschlagene Richtung beibehalten. Hinzu kam eine intensivere Beschäftigung mit einzelnen Themenbereichen, die bislang eher vernachlässigt wurden. Eine wichtige Datengrundlage hierfür bildet der zweite Durchgang des Freiwilligensurveys 2004 mit einem leicht modifizierten Fragebogen. Neue Erkenntnisse des zweiten Freiwilligensurveys erbrachten vertiefende Auswertungen der Daten für die einzelnen Bundesländer. Sonderauswertungen erfolgten für Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Brandenburg, Baden-Württemberg und Bayern (vgl. Gensicke et al. 2006). Außerdem gab es zwei Spezialauswertungen für freiwilliges Engagement in der Evangelischen Kirche und für freiwillige Tätigkeit im Sport. Mit den beiden Sportentwicklungsberichten 2005/2006 und 2007/2008 wurde die Datenlage für das Engagement im Bereich des Sports und insbesondere für die Sportvereine verbessert (vgl. Breuer 2007, 2009). Der Trend zu regionalen Daten wurde mit dem „Engagementatlas 2009“, den die Generali Deutschland im Jahre 2008 vorgelegt hat, fortgesetzt.

Die Datenlage zu den Organisationen des bürgerschaftlichen Engagements ist nach wie vor dünn. Einen wichtigen Schritt zu deren Verbesserung unternahm die Studie zu Führungskräften in gemeinnützigen Organisationen (vgl. Beher et al. 2008).

In der Phase nach 2004 haben insbesondere die wissenschaftliche Beschäftigung mit Spenden und die Spendenberichterstattung, u. a. angeregt durch Publikationen in anderen Ländern, einen Aufschwung genommen. Hier sind Publikationen von Priller u. Sommerfeld (2009), der seit 2004 jährlich herausgegebene „DZI Spenden-Almanach“ des Deutschen Instituts für zentrale Fragen (2004) sowie der seit 1995 alljährlich erhobene Spendenmonitor von TNS Infratest zu nennen.

3.2 Forschungsstränge

Parallel zur Entwicklung der Forschung zum bürgerschaftlichen Engagement verlaufen Forschungsstränge, die wesentliche Facetten des Themas betreffen, aber gleichzeitig auf eine eigenständige und kontinuierliche Forschungstradition verweisen können. Dies betrifft insbesondere die Forschung in den Bereichen Demokratie/Partizipation, Wohlfahrtsverbände, Dritter Sektor, Sozialkapital und zum Lernen in informellen Kontexten.

3.2.1 Partizipationsforschung

Die Partizipationsforschung kann auf eine lange Tradition der Untersuchung von demokratischen Formen der Beteiligung an politischen Prozessen jenseits von Wahlen zurückblicken. Sie ist ein fester Bestandteil der empirischen Demokratieforschung und der Forschung zur politischen Kultur. Durch die „partizipatorische Revolution“ seit Ende der 1960er-Jahre wurde immer stärker die Unterscheidung zwischen konventionellen und unkonventionellen Formen der politischen Beteiligung für die Partizipationsforschung prägend. Während für den Bereich der konventionellen Partizipation die Ergebnisse in Publikationen zur Wahlforschung festgehalten wurden, widmete sich die zweite Perspektive den neuen Formen der politischen Beteiligung in sozialen Bewegungen, Protestereignissen, Bürgerinitiativen, Beteiligungsmöglichkeiten im kommunalen Raum und zuletzt auch Beteiligungsangeboten, die die neuen Möglichkeiten des Internets nutzen (Roth 2010; Alscher et al. 2009a, S. 87 ff.; Gensicke u. Geiß 2006; Evers 2002). Ergebnis dieses Forschungsstrangs ist, dass sich das politische Verhaltensrepertoire in den letzten Jahrzehnten erheblich erweitert und sich neben den wahl- und parteibezogenen Aktivitäten eine Fülle neuer und unkonventioneller Beteiligungsformen entwickelt hat. Insbesondere die Forschung zur Partizipation im kommunalen Raum hat mit den Begriffen der Bürgerkommune und der kooperativen Demokratie (vgl. Bogumil u. Holtkamp 2006) in den letzten beiden Jahrzehnten einen Aufschwung genommen.

3.2.2 Sozialkapitalforschung

Während die Bedeutung der sozialen Eingebundenheit für das Handeln von Individuen bereits seit Langem betont wird, hat sich seit Beginn der 1990er-Jahre der Begriff „Sozialkapital“ für diesen Sachverhalt zunehmend durchgesetzt (vgl. Franzen u. Freitag 2007). In den unterschiedlichen Konzeptionen von Sozialkapital hat die Arbeit von Robert Putnam (vgl. 1993) deutliche Bezugspunkte zur Performanzmessung von Demokratien und zu bürgerschaftlichem Engagement herausgearbeitet (vgl. auch Gabriel et al. 2002). Putnam hat mit seiner Studie zum Sozialkapital in Italien nachzuweisen versucht, dass demokratische Institutionen besser arbeiten, wenn in einer Gesellschaft höhere Raten von Sozialkapital zu verzeichnen sind. Diese Verbindung wurde auf das bürgerschaftliche Engagement übertragen und die messbare Menge an Sozialkapital (Vertrauensbeziehungen, Netzwerke, Mitgliedschaften in zivilgesellschaftlichen Vereinigungen) zum Indikator für die Messung der Stärke einer Zivilgesellschaft herangezogen (vgl. Kriesi 2007; Diekmann 2007; Franzen u. Pointner 2007; Braun 2003). Entsprechend wurde ein Rückgang von Sozialkapital als Verlust von gemeinschaftlichen Bindungen und als Bedrohung vom gesellschaftlichen Zusammenhalt gedeutet.

Neuere Forschungen zum Sozialkapital widmen sich der Frage, in welche Richtung ethnische und kulturelle Diversitäten von modernen Gesellschaften das Sozialkapital beeinflussen. Die Ergebnisse scheinen darauf hinzudeuten, dass die Steigerung der ethnischen Diversität negativ auf das Sozialkapital wirkt (vgl. Putnam 2007).

3.2.3 Wohlfahrtsverbändeforschung

Die Wohlfahrtsverbände haben in Deutschland eine Doppelfunktion inne, da sie Dienstleister und Interessenvertretungen zugleich sind: Sie bieten soziale Dienstleistungen an und sie nehmen für sich eine anwaltschaftliche Funktion für ihre Klientel in Anspruch. Da in den Organisationen und Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände ein beachtlicher Anteil der Leistungen durch freiwilliges Engagement erfolgt, sind sie wichtige Akteure im Feld des bürgerschaftlichen Engagements. So wird die Zahl der ehrenamtlich Engagierten bereits über einen längeren Zeitraum mit 2,5 bis 3 Mio. Personen angegeben (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 2009, S. 10). Den Wohlfahrsverbänden wird eine Gemeinwohlfunktion zugesprochen und gleichzeitig werden sie durch ihre Nähe zum Staat zu den parastaatlichen Institutionen gezählt, die eine wichtige Funktion bei der Politikformulierung und sozialstaatlichen Leistungserbringung erfüllen (vgl. Evers u. Olk 1996). Die Forschung zu den Wohlfahrtsverbänden (vgl. Schmid u. Mansour 2007) hat die mehrdimensionale Struktur zum Gegenstand. Sie analysiert aber auch den Wandel der Organisationsstrukturen der Einrichtungen und Dienste und die Auswirkungen der Veränderungen des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements auf das Engagementverhalten. Insbesondere wurde untersucht, wie die zivilgesellschaftliche Gemeinwohlfunktion in einen Gegensatz zu den Tendenzen der Ökonomisierung der Einrichtungen und Dienste geriet (vgl. Liebig 2005; Dahme et al. 2005). Während auf der einen Seite die Forschung sich den innerverbandlichen Veränderungsprozessen und neuen Managementmethoden bei der Reorganisation der Dienste und Einrichtungen widmete, ging es auf der anderen Seite um das Verhältnis der Wohlfahrtsverbände zu der sich entwickelnden Selbsthilfebewegung und den zahlreichen Selbsthilfegruppen sowie zu den neuen Organisationsformen der Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros, kommunalen Anlaufstellen etc. Die Forschung in den letzten Jahren richtete sich vor allem darauf, welche Anstrengungen die Wohlfahrtsverbände unternahmen, um bürgerschaftliches Engagement wieder stärker in ihr Handeln zu integrieren (vgl. Zimmer u. Priller 2007).

3.2.4 Dritte-Sektor-Forschung

Ein wichtiger Forschungsstrang hat sich mit der Dritte-Sektor-Forschung parallel zur Engagementforschung entwickelt. Wesentlich beeinflusst durch das Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project begann Anfang der 1990er-Jahre eine international vergleichende Forschung zu gemeinnützigen Organisationen (vgl. Salamon u. Anheier 1999). Inzwischen ist der Begriff des Dritten Sektors etabliert. Eine wesentliche Anstrengung der Forschung zu diesem Sektor bestand darin, ihn empirisch zu erfassen. Das Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project schuf bis 1999 eine Datenbasis zu den Dritte-Sektor-Organisationen in 35 Ländern. Ermittelt wurden u. a. Angaben zur Größe, zum Verständnis, zu der Beziehung zum Staat, zur Finanzierung, zum Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung, zur Beschäftigtenzahl, zum Tätigkeitsprofil, zur Einnahmenstruktur und die zivilgesellschaftliche Einbindung (vgl. Zimmer u. Priller 2007).

Die Dritte-Sektor-Forschung hat in mehrerer Hinsicht Bedeutung für die Forschung zum bürgerschaftlichen Engagement: Sie ist empirisch ausgerichtet, betrachtet die Organisationen und stellt deren ökonomische Dimension in den Mittelpunkt. Wenngleich sie nicht zur dominanten Richtung in der Engagementforschung wurde, so trägt sie doch wesentlich zur Schärfung des zivilgesellschaftlichen Bereichs bei und unterstreicht die Notwendigkeit einer empirischen Erfassung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Wenn zunehmend das Management in Dritte-Sektor-Organisationen in den Blick genommen wird, gelangen damit besonders Fragen der Rekrutierung sowohl von ehrenamtlichen als auch von beruflich tätigen Führungskräften, das Verhältnis von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern sowie der Wert des Engagements für die Organisationen in den Mittelpunkt (vgl. Beher et al. 2008; Liebig u. Rauschenbach 2010).

3.2.5 Lernen in informellen Kontexten

Die Betrachtung der Lernprozesse Jugendlicher im Engagement als Forschungsgegenstand zeigt, dass trotz umfangreicher Debatten zu diesem Thema in Deutschland nur wenig spezielle Forschung und kaum empirische Untersuchungen vorliegen (vgl. Düx et al. 2008, S. 13; Reinders 2009, S. 5). Grund- und Überblicksinformationen zum Engagement von Jugendlichen sind in einer Reihe von Studien wie den Freiwilligensurveys, dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), den Shell-Studien, dem European Social Survey, dem DJI-Jugendsurvey oder auch in einigen kleineren, regional begrenzten oder auf Einzelorganisationen bezogenen Studien zu finden. Aussagen zu Lernprozessen sind indessen hier nicht oder kaum enthalten. Die meisten Untersuchungen zum Engagement Jugendlicher erfassen nur deren aktuelle Aktivitäten, d. h. die Verbreitung, Intensität und die Bereitschaft zum Engagement. Empirische Ergebnisse zum Kompetenzerwerb von Jugendlichen liegen für einzelne Bereiche wie dem Sport vor (vgl. Brettschneider u. Kleine 2001).

Gleichwohl hat die Engagementforschung um Bildung und Lernen in Deutschland besonders in den letzten zehn Jahren einen Aufschwung erfahren. In der Untersuchung von Düx et al. (2008, S. 23) werden beispielsweise durch die retrospektive Befragung von Erwachsenen, die sich bereits als Jugendliche engagiert hatten, die Auswirkungen dieses Engagements auf das spätere Leben hinsichtlich Kompetenzgewinn, Engagement und politischer Partizipation untersucht. Die Aussagen über Folgen von Engagement bei Jugendlichen für deren Bildungsprozesse bleiben aber mit diesem Ansatz ebenso begrenzt wie Untersuchungen, die die Wirkung des Engagements in einem recht kurzen Zeitraum betrachten (vgl. Reinders 2005).

Die Erforschung der Wirkungen und Ergebnisse des Lernens durch Verantwortungsübernahme im Engagement stehen deshalb noch am Anfang. Die Feststellung, dass durch das Engagement unterschiedliche Kompetenzen erworben und erweitert werden, ist durch weitere Untersuchungen zu belegen. Allein retrospektiv erhobene Daten, die zeigen, dass neben den personalen, sozialen, fachlichen und organisatorischen Kompetenzen die freiwillige Verantwortungsübernahme im Engagement besondere Chancen der Persönlichkeitsentwicklung, der biographischen Orientierung, der Sinnstiftung sowie der Teilhabe an der Erwachsenenwelt eröffnet (Düx u. Sass 2005), reichen nicht aus. Hier sind zunehmend Paneldaten erforderlich.

4 Schlussfolgerungen und künftige Aufgaben der Engagementforschung

Die vorliegenden Forschungsergebnisse zur Engagementthematik zeigen bereits einen beachtlichen Fortschritt auf. Empirische Angaben, wie sie vor allem der Freiwilligensurvey liefert, vermitteln ein differenziertes Bild vom Umfang, von der Ausrichtung und den Entwicklungen des Engagements. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass gegenwärtig noch beträchtliche Lücken und Defizite hinsichtlich des Wissens und der Daten zum Engagement bestehen (vgl. Alscher et al. 2009b). Eine in sich geschlossene, theoretisch fundierte und empirisch gesicherte Engagementforschung, die interdisziplinär arbeitet und die einzelnen Forschungsstränge integriert, gibt es zurzeit noch nicht. Es stellt sich daher die Frage, ob deren Schaffung wünschenswert und notwendig ist oder ob es ausreicht, entsprechende Forschungsrichtungen stärker theoretisch und empirisch zu fundieren.

Gleichwohl muss sich die künftige Engagementforschung von einer Betrachtung des Engagements als an sich immer positiv zu bewertende Aktivität, deren Umfang und Intensität ständig zu steigern ist, lösen. Es sind das Verhältnis von Angebot und Nachfrage von Engagementleistungen sowie die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Engagements stärker in den Blick nehmen. Dabei gilt es die Ausprägung des informellen Engagements mit einzubeziehen. Neben der Untersuchung des Engagements spezieller Bevölkerungsgruppen, z. B. der Jugendlichen, sind die Veränderungen von Faktoren und Bedingungen für die weitere Ausprägung der Engagementkultur intensiver zu berücksichtigen.

Um die künftigen Forschungsaufgaben zu realisieren, ist die Indikatorik zur Erfassung des Engagements auszubauen und methodisch zu qualifizieren. Ein weiterer erforderlicher Qualitätssprung in der Engagementforschung kann sich dabei nicht nur auf Fragen der Datenerhebung und empirischen Beschreibung beschränken. Da der Gegenstand des Engagements vielschichtig ist, muss verstärkt interdisziplinär geforscht werden. Eine wesentliche Ursache für den unbefriedigenden Kenntnisstand zum Engagement ist in der unzureichenden theoretisch-konzeptionellen Fundierung der Thematik zu sehen. Um diese Situation zu verbessern, hat eine kritische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Engagementkonzepten zu erfolgen. Besondere Aufmerksamkeit hat bei deren Weiterentwicklung die hohe Komplexität und Dynamik des Engagements zu finden.

Das Fehlen einer allgemeingültigen Definition und die vorhandene kategoriale Vielfalt erfordern eine weiterführende wissenschaftliche Klärung. Eine Weiterentwicklung des Begriffsinstrumentariums hat präzisen wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden und muss neue empirische Operationalisierungen sowie eine eindeutigere empirische Vorgehensweise ermöglichen.

Mit dem Freiwilligensurvey oder dem SOEP als Großstudien der empirischen Sozialforschung sind bei Weitem nicht alle aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Eine Verbesserung der Datenlage kann durch die Einbindung von zusätzlichen Engagementfragen in andere Erhebungen, die u. a. Panelcharakter haben, erfolgen. Ein solches Vorgehen soll und kann Erhebungen wie den Freiwilligensurvey nicht ersetzen, denn dessen spezifische Informationen sind für die Engagementforschung weiterhin unerlässlich.

Der gegenwärtige Forschungsstand und die künftigen Ansprüche erfordern eine Verstärkung der Grundlagenforschung. Durch die Etablierung eines Forschungsverbundes sind die Koordination und die Abstimmung zwischen den verschiedenen Projekten zu verbessern. Der Auf- und Ausbau eines Forschungsnetzwerkes muss zu einer stärkeren Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, zu einer Verknüpfung der Forschungsaktivitäten und zu einer langfristigen Forschungsprogrammatik führen.