1 Sammelrezension zu

  1. 1.

    Dirk Lange unter Mitarbeit von Alexander Bähr und Joachim Stöter: Monitor politische Bildung. Daten zur Lage der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag 2010. 168 S. ISBN 978-3-899-74554-2. Preis: 19,80 €. – Zugleich: Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010 (Schriftenreihe Band 1008). 168 S. ISBN 978-3-8389-0008-7. Bereitstellungspauschale ( www.bpb.de ): 2,– €.

  2. 2.

    Georg Weißeno/Joachim Detjen/Ingo Juchler/Peter Massing/Dagmar Richter: Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag 2009. 231 S. ISBN 978-3-899-74588-7. Preis: 22,80 €. – Zugleich: Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010 (Schriftenreihe Band 1016). 231 S. ISBN 978-3-8389-0016-2. Bereitstellungspauschale ( www.bpb.de ): 2,– €.

  3. 3.

    Dirk Lange/Gerhard Himmelmann (Hrsg.): Demokratiedidaktik. Impulse für die politische Bildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. 349 S. ISBN 978-3-531-17116-6. Preis: 39,95 €.

„Es war eine vergnügliche Stunde, die keinerlei Nüsse zu knacken aufgab. Keine der aufbrechenden reflektierenden Rückfragen der Schüler wurde behandelt und beantwortet.“ (Gruschka 2009, S. 171) Solche in unterschiedlichen Studien vorgetragenen Defizitdiagnosen zu Unterricht im Fach Gesellschaftslehre bemängeln eine geringe Verarbeitungstiefe („Oberflächlichkeit“), Problemorientierung und Nachhaltigkeit. Diese Befunde setzen die sozialwissenschaftlichen Fachdidaktiken immer wieder unter erheblichen Legitimationsdruck. Einerseits werden sie überschüttet mit einer öffentlichen Rhetorik, die ihre „zunehmende Wichtigkeit“ betont. Andererseits besteht immer die Gefahr, in den flexibilisierten Stundentafeln zugunsten der Kernfächer Deutsch, Englisch und Mathematik verdrängt zu werden. Auf der Suche nach didaktisch-methodischen Antworten hat sich neben der traditionellen „politischen Bildung/Politikdidaktik“ die „Demokratiepädagogik“ ausgebildet. Fühlt sich die „politische Bildung“ seit jeher als Kellerkind der Lehrerausbildung und des Wissenschaftsbetriebs, konnte die Demokratiepädagogik mit ihrem überfachlichen, stark außerschulischen Programm in den letzten Jahren zum Lieblingskind öffentlicher Wahrnehmung avancieren, in der sie finanzielle wie mediale Zuwendung genießt. Kaum verwunderlich, dass das Verhältnis der beiden Didaktik-Schwestern von Kontroversen, gegenseitigen Abgrenzungen und blank liegenden Nerven geprägt ist.

Die Sammelrezension stellt drei aktuelle Publikationen vor, die erstaunlich repräsentativ die Auseinandersetzung und unterschiedliche Herangehensweise der beiden Ansätze markieren, und gibt einen bibliographischen Überblick über neuere Forschungsvorhaben in der Fachdidaktik Sozialwissenschaften.

Lange et al., Monitor politische Bildung. Was liegt näher, als in einer bedrängenden Situation belastbare „Kerndaten“ zur politischen Bildung in Deutschland mit ihren „institutionellen und curricularen Bedingungen“ (S. 11) zu erheben, um die eigenen Ansprüche zu fundieren? Der vorliegende Monitor ist initiiert vom derzeitigen Bundesvorsitzenden der Deutschen Vereinigung für politische Bildung, Dirk Lange (Universität Hannover). Beobachtet wird ein breites Feld von Tätigkeiten: Es reicht von der schulischen wie außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit bis zur Erwachsenenbildung von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen auf Kommunal-, Landes-, Bundes- und Europaebene. Die getroffene Auswahl ist nicht immer nachvollziehbar. Die sensible Phase politischer Bildung in der späten Pubertät, also in den gymnasialen Oberstufen und beruflichen Schulen, wird noch nicht erfasst. In der universitären Fachlehrerausbildung werden nur Studierende mit dem Studienziel Gymnasium gewertet; nicht jedoch solche des Primar-, Sekundar-, Sonderschul- oder des Berufsschulbereichs (S. 71). Auf gesellschaftlicher Ebene wird vor allem die Bildungsarbeit der katholischen und evangelischen Kirchen (nicht jedoch die der islamischen Gemeinden), einiger Gewerkschaften, der parteinahen Stiftungen und einzelner zivilgesellschaftlicher Stiftungen einbezogen, die nach Vermögen sowie nicht näher präzisierten inhaltlichen Kriterien ausgewählt sind. Bildungsangebote, beispielsweise der Arbeitgeberverbände, von Unternehmen oder anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, bleiben ausgespart.

Die Vielzahl und Heterogenität der betrachteten Bildungsträger stellt das Monitoring erwartbar vor große methodische Schwierigkeiten. Die stellenweise „nur sehr dünne Datenlage“ (S. 121), das Ausweichen auf „geschätzte“ Werte (S. 67) und eine fehlende Vergleichbarkeit „aufgrund der verschiedenen Berechnungsgrundlagen“ (S. 119) wie der „unterschiedliche[n] Erhebungsmethoden“ (S. 69) lassen valide Rückschlüsse und einen Vergleich nur bedingt zu. Beispielsweise konnte beim Ermitteln der Pro-Kopf-Ausgaben der Landeszentralen für politische Bildung – in denen Bremen und Mecklenburg-Vorpommern bei einem Bundesdurchschnitt von 52 Cent die Spitzenposition mit 1,134 bzw. 1,082 € einnehmen – eine „tiefer gehende Differenzierung nach Personalausgaben, Sächlichen Verwaltungsausgaben und Sachausgaben“ (S. 32) nicht erfolgen. Allerdings hält die Erkenntnis dieser „Vergleichbarkeitsproblematik“ (ebd.) nicht davon ab, die erhobenen Zahlen in ein abschließendes „Länder-Ranking“ einfließen zu lassen. Spitzenreiter sind Mecklenburg-Vorpommern und die Stadtstaaten Hamburg und Bremen, die „rote Laterne“ trägt Sachsen.

Einige methodische Probleme sind hausgemacht, weil auf die Definition exakter Kriterien und Kenngrößen verzichtet wird. Der Bezugszeitraum schwankt zwischen Langzeiterhebungen, z. B. für die „Entwicklung der Zahl von Volkshochschulveranstaltungen“ von 1990 bis 2006 (S. 74), und punktuellen Darstellungen, wie den „Gesamtausgaben der Landeszentralen für politische Bildung in 2005, 2006, 2007 oder (sic!) 2008“ (S. 31), was die Vergleichbarkeit und Bewertung erschwert.

Inhaltlich erscheinen die erhobenen Daten vielfältig, aber auch eklektisch. Die Erhebung rein finanzieller Aufwendungen – die Globalzuschüsse zur gesellschaftspolitischen und demokratischen Bildungsarbeit des Bundesinnenministeriums lagen 2006 bei 87.000.000 € (S. 21) – steht neben der Darstellung von Veranstaltungs- und Teilnehmerzahlen – 2007 nahmen 100.000 Menschen an den 2.000 politischen Bildungsveranstaltungen der Konrad-Adenauer-Stiftung teil (S. 109) – oder den Stundendeputaten – in Bayern und Nordrhein-Westfalen ist der prozentuale Anteil der Unterrichtsstunden der Volkshochschulen im Bereich „Politik – Gesellschaft – Umwelt“ mit 18,95 bzw. 20,49 Prozent am größten (S. 78). Teils werden die Bildungsziele und Programme der Träger referiert, teils die Relevanz politischer Bildung am Gesamtbildungsprogramm errechnet.

Dass die Institutionen und Organisationen den Begriff der politischen Bildung unterschiedlich interpretieren, stellen die Autoren fest, ohne jedoch die „verschiedenste(n) Konzepte“ (S. 11) zu vergleichen. Ebenso versäumen sie es, ihr eigenes Verständnis von politischer Bildung transparent zu machen. Die Ankündigung, „kein einheitliches Konzept von politischer Bildung zugrunde“ legen zu wollen, um „variabel und flexibel (…) nicht von vornherein auf ein zu eng gefasstes Begriffskorsett festgelegt zu sein“ (S. 11), erweist sich als trügerisch. Dies zeigt sich vor allem in der Analyse der schulischen politischen Bildung, die die Verfasser – ohne dies zu kennzeichnen – auf das Verständnis von „Politik als Kern“ reduzieren. So werden in Bundesländern, die politische Bildung als sozialwissenschaftliche Bildung begreifen und dies durch einen Unterricht im Fächerverbund oder eine entsprechende Fachbenennung (Wirtschaft und Politik, Gesellschaft) verdeutlichen, allein die Jahreswochenstunden des „Reinanteils politischer Bildung“ (S. 67) angerechnet. Das Fach „Politik – Gesellschaft – Wirtschaft“, das an Hamburger Gymnasien von der achten bis zehnten Klasse zweistündig unterrichtet wird, fließt daher mit nur einem Drittel seiner Jahreswochenstundenzahl in die Bewertung ein und schneidet entsprechend „schlecht ab“ (S. 67). Ein Fach wie Sozialkunde, das in Berlin selbstverständlich gesellschaftliche und ökonomische Themen im Rahmenplan vorsieht, wird dagegen – mangels inhaltlicher Tiefenschärfe des Monitorings – voll angerechnet. In den außerschulischen Feldern wird sinnvollerweise eher ein weicher Begriff politischer Bildung zugrunde gelegt. Künftig wird man hier versuchen müssen, demokratiepädagogische Parameter der Schulkultur in der Erhebung zu berücksichtigen, die mit vorhandenen Praxisformen, Zertifizierungen und Audits durchaus einer Messung in „harten Zahlen“ standhalten könnten, z. B. Daten zur Schülermitbestimmung, zu Mediationsangeboten und zur Kinder- und Jugendbeteiligung in den Kommunen.

Die „Grundskepsis gegenüber Datenerhebungen“ (S. 11), die dem Projekt bei einigen Bildungsträgern entgegentrat, wird der „Monitor politische Bildung“ zwar nicht ausräumen können. „In regelmäßigen Abständen durchgeführt“ könnte er jedoch helfen, „aktuelle Trends und mittelfristige Entwicklungen zu identifizieren“ (ebd.). „Politische Handlungsbedarfe aufzeigen“ (ebd.) – vor diesem Schritt zur Bildungsberatung scheut der Monitor zum gegenwärtigen Zeitpunkt klugerweise noch zurück. Intelligente Formen kommunikativer Validierung durch die einbezogenen Institutionen, etwa die Expertise der Bundeszentrale für politische Bildung, kann man sich durchaus vorstellen, ebenso einen Abgleich mit Daten aus älteren vergleichbaren Bestandsaufnahmen. Viele Präzisierungen und Erweiterungen sind für eine zweite Welle des Monitoring denkbar, darunter eine systematische Einbeziehung der curricularen Dimension, einer Programmanalyse, wie sie hier ansatzweise für die Einführungslehrgänge für Zivildienstleistende schon geleistet ist. Daraus ließen sich Rückschlüsse über Veränderungen in der Ausrichtung politischer Bildung und dem zugrundeliegenden Begriff politischer Bildung ziehen.

Weißeno et al., Konzepte der Politik. Einen anderen Weg geht die folgende Publikation, die der traditionellen politischen Bildung zuzuordnen ist. Der Ausweg aus dem Legitimationsproblem wird in einer zuspitzenden Begrenzung der Bildungsaufgabe auf „Politik als Kern“ gesehen. Angesichts der Überkomplexität sozialwissenschaftlicher Interdisziplinarität wird das Heil in einer Disziplin gesucht. Politisches Wissen habe sein Fundament in den akademischen Referenzdisziplinen, damit gemeint ist die deutsche Politikwissenschaft – im Singular! (vgl. Kap. 1.3, S. 19, 11, 25) „Im Fokus schulischer politischer Bildung steht thematisch stets die Politik, wenngleich dieser Gegenstand auch auf andere Inhaltsfelder ausgreift“ (S. 24). Fünf Wissenschaftler haben sich in einem kollektiven Arbeitsprozess mit mehreren Workshops auf ein gemeinsames theoretisches Modell geeinigt, um die Legitimationsbasis zu erhöhen (S. 10 f.).

Welches Wissen bildet den Minimalstandard für eine Demokratin und einen Demokraten? Kompetenzen werden auf vier Ebenen bestimmt, die ein „semantisches Netz“ (S. 198) ergeben sollen – eine Strukturierung, die sich allerdings erst mühsam im Verlauf der Lektüre erschließt und die Visualisierungschancen des anschaulichen Titelbildes nicht nutzt:

  • Allgemeine Kompetenzen (Kommunizieren, Argumentieren, Problemlösen, Modellieren, Urteilen, …), die sich nicht auf ein Unterrichtsfach eingrenzen lassen. Diese werden nicht weiter verfolgt.

  • Basiskonzepte, die abwechselnd als key concepts, Ankerbegriffe, Major-Ideen, zentrale Prinzipien oder Paradigmen des Faches bezeichnet werden. Genannt werden drei Basiskonzepte: Ordnung, Entscheidung, Gemeinwohl. Diese Basiskonzepte seien zum Verständnis des Politischen unverzichtbar, da sie der Domäne eine Struktur geben, die sie von anderen Domänen, z. B. Ökonomik oder Soziologie, unterscheidet. Der Einschätzung, sie entstünden durch didaktische Setzungen und hätten Werkzeugcharakter (S. 48), ist zuzustimmen, denn zumindest die Basiskonzepte Ordnung und Entscheidung sind ersichtlich auch solche der Soziologie oder der Ökonomie. Aufhorchen lässt das normativ aufgeladene Basiskonzept Gemeinwohl, das anstelle des formalen Begriffs „Responsivität“ gewählt wird. Es thematisiert zahlreiche contraintuitive Zusammenhänge, so etwa die zeitliche Spannung zwischen kurzfristigen Problemlösungen und Langzeitverantwortung (S. 151 ff.). Es wäre möglich, die Basiskonzepte den drei Ebenen des Politischen zuzuordnen: polity (Ordnung), policy (Gemeinwohl) und politics (Entscheidung).

  • Fachkonzepte, auch „konstituierende Begriffe“ oder „Fachvokabular“ (S. 13) genannt, bilden das „zuzuordnende Grundlagenwissen“ (S. 48). Letzteres wird etwas willkürlich mit einer europäischen Dimension verbunden, während die Basiskonzepte eher globalen Bezügen zugeordnet sind.

  • Konstituierende Begriffe: Zum Fachkonzept Demokratie werden für die einzelnen Schulstufen genannt

    • Mehrheitsprinzip, Abstimmung, Diskussion (Primarstufe),

    • Volksbegehren, Volksentscheid, Mehrparteiensystem (Sekundarstufe I),

    • Volkssouveränität, Pluralismustheorie (sic!), Identitätstheorie, Verfassungsstaat (S. 64).

Beansprucht wird die Beschreibung der politischen Wirklichkeit der Demokratie mithilfe eines komplexen Politikbegriffs (S. 38). Den Unterschied zur Demokratiepädagogik markiert der gewählte enge Politikbegriff. Politik sei zwar ein „außerordentlich vielschichtiges“ und „an den Rändern auch unscharfes“ Phänomen (S. 28), das sich nicht auf die staatliche Sphäre eingrenzen lasse (S. 30 f.). Das Konzept zerfließe aber bei Schlagworten wie „Politik der Lebensführung“, „Politik der Lebensstile“ oder „Alltagspolitik“ (S. 28). In einem nicht näher bezeichneten Verfahren werden „diejenigen Aussagen übernommen, die als common sense … gelten können“, wobei Politikwissenschaft und Politikdidaktik nicht mehr unterschieden werden (!) (S. 12, vgl. – etwas anders – auch S. 48). Methodisch kontrollierte Verfahren der Identifizierung disziplinärer Strukturen werden nicht erwogen, obwohl sie international etwa im Konzept „structure of the discipline“ der Curriculumforschung der 1960er- und 1970er-Jahre vorliegen, das nicht zuletzt auch in den sozialwissenschaftlichen Domänen deutlich differenziertere Modellierungen geliefert hat, die zudem gut zugänglich sind (Wulf 1973, S. 70 ff.).

Die Autoren räumen ein, die Zuordnung der einzelnen Ebenen sei nicht streng logisch herzuleiten (S. 49) und lediglich aus analytischen Gründen vorgenommen worden; Vernetzungen seien selbstverständlich möglich. Dennoch verwirrt es Leser, wenn Basiskonzepte plötzlich als „ausgewählte Fachkonzepte“ (S. 49) oder Begriffe „großer Reichweite“ (S. 54) bezeichnet werden. Das Modell basiere weitgehend auf normativen Entscheidungen (S. 13), die noch einer empirischen Validierung bedürfen. Erst dann werde sich zeigen, ob die Konstrukte so klar sind, dass Messungen erfolgreich sein können. Erste Überprüfungen mit normierten Fragebögen hätten schon stattgefunden (S. 14).

Das Modell beschränkt sich bewusst auf die Kompetenzdimension des Fachwissens (S. 12). Eine Graduierung wirkt dezisionistisch angehängt: Es handele sich um Maximalstandards, nicht um Regelstandards, ersatzweise gibt es Mindeststandards (S. 13). Die Fundierung in der Lernpsychologie (S. 18) reduziert sich bislang auf eine lieblose Stufung ohne Empirie.

Wenn, um „anschlussfähig … zu bleiben“ (S. 44), eine civic literacy in Anlehnung an Modelle einer scientific literacy konzipiert wird, gerät eine entscheidende Differenz der Domänen aus dem Blick: Das naturwissenschaftliche Wissen wird meist bipolar strukturiert, als Verhältnis von Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen. Civic literacy jedoch geht nicht im Verhältnis Alltagswissen – politikwissenschaftliches Wissen auf, sondern muss sich tripolar zusätzlich auf ein zivilgesellschaftliches-institutionenbezogenes Handlungswissen beziehen; sonst wird wie hier civic literacy mit political science literacy verwechselt.

Obwohl das Konzept „Alltagspolitik“ (vgl. unten die Besprechung des dritten Buches) abgelehnt wird, bezieht sich auch die Autorengruppe auf ein Konzept von Fehlvorstellungen, auch als Vorwissen oder Präkonzepte (S. 50) benannt. Die Aussage, sie beruhten auf „intuitiver Empirie“, noch nicht auf systematischen, reliablen empirischen Befunden einer fachdidaktischen Fehlkonzeptforschung (S. 13), ist angesichts der vorliegenden empirischen Befunde zum Konzept der Fehlvorstellungen nicht nachvollziehbar. Die Ausführungen hierzu sind vermischt mit unterrichtsmethodischen Problemen, sog. Fallen des Politikunterrichts (S. 96), mit thematischen Defizitanzeigen in Lehrplänen und Schulbüchern, z. B. zum Staat (S. 96 f.), oder mit Fehlvorstellungen bei Pädagogen, die z. B. die Wirkungen der Massenmedien auf Jugendliche überschätzten (S. 127). An diesen Stellen wirkt sich der systematisch fehlende Anschluss an empirische Sozialisationsforschung aus. Die unterrichtsmethodische Möglichkeit, Präkonzepte zu diagnostizieren – etwa durch Assoziationsreihen oder concept maps (S. 50) –, wird noch nicht demokratiepädagogisch ausbuchstabiert (vgl. dazu etwa Füchter 2010).

Die angehängte „Kompetenzorientierte Unterrichtsplanung“ bestätigt dann leider alle Befürchtungen eines „teaching to the test“.

Will man die Kernintention der Autorengruppe auf den Punkt bringen, dann handelt es sich um Versuche zum Begriffslernen im besten Sinne durch Kategorien mit hierarchischer Struktur, wie die Autoren dies selbst einräumen: „Diese Funktionen erinnern an politikdidaktische Kategorien …“ (S. 52, T.G./M.B.). Ihre Funktion ist es, politische Phänomene, Ereignisse, Prozesse usw. zu beschreiben, zu analysieren, zu reflektieren (S. 49). Es würde dem Projekt gut tun, die aufgesetzte Kompetenz-Rhetorik abzuschmelzen und das Vorhaben dort einzuordnen, wo es disziplinär hingehört: in das fachdidaktische Paradigma der kategorialen Didaktik sensu Klafki in einem erziehungswissenschaftlichen und lerntheoretischen Kontext.

Lange u. Himmelmann, Demokratiedidaktik. In diesem Band sammeln sich die Herausforderer und Vertreter eines weiten Konzepts von politischer Bildung, der „Demokratiepädagogik“. Der Band bildet den Abschluss einer Trilogie, die mit „Demokratiekompetenz“ (2005) und „Demokratiebewusstsein“ (2007) gestartet war. Mit 24 Beiträgen von 29 Autorinnen und AutorenFootnote 1 bietet er einen gut durchgearbeiteten fundierten Überblick über den Diskussionsstand. Programmatische Beiträge und Berichte über empirische Forschungen stehen in einem ausgewogenen Verhältnis. Im Folgenden können nur wenige Beiträge exemplarisch herausgegriffen werden, um einen lohnenswerten Lesepfad durch den Sammelband aufzuzeigen:

Den in Buch 2 dieser Sammelrezension fehlenden interdisziplinär und international informierten Forschungsbericht der Konzepte zur Demokratie- und Politikkompetenz liefert Hermann Veith (S. 142–156). Vorgestellt werden auf internationaler Ebene die „Civic Education Study“ der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA), die Studie der OECD-Projektgruppe „Definition and Selection of Competencies“ (DeSeCo) sowie „Education for Democratic Citizenship“ als Projekt des Europarates; auf nationaler Ebene das BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“, der „Entwurf für Bildungsstandards“ der Gesellschaft für Politikdidaktik (GPJE) und die Ergebnisse der Kerncurriculum-Gruppe der KMK. International zu ergänzen sind für Australien die Civics and Citizenship Key Performance Measures (Murray Print, S. 330–345). Für eine Historisierung des gegenwärtigen Kompetenz-Hypes sind Hinweise auf semantische Vorläuferkonzepte des heutigen „Kompetenzparadigmas“ wichtig, etwa in der Bildungsforschung das „Konzept der individuellen Bildungsaufgaben“ (Fend 1991). Veiths eigener Vorschlag läuft darauf hinaus, Demokratiekompetenzen an den theoretischen Vorgaben des Magdeburger Manifests (z. B. http://degede.de/ueberuns/wie-wir-arbeiten.html) auszurichten. Die Kriterien Inklusion, Partizipation, Transparenz, Deliberation, Legitimität, Effizienz sind gut anschlussfähig an die politikwissenschaftliche vergleichende Demokratieforschung.

Michael May arbeitet vor allem die noch fehlende Niveaubildung der Kompetenzmodelle heraus. Er strukturiert die Ansätze entlang des Politikzyklus, der den Politikprozess in mehrere, meist sechs oder sieben Schritte gliedert und erstmalig von Harold Lasswell 1956 formuliert wurde. Interessant ist, dass die Handlungsphase „Vollzug der Entscheidung“ nicht ausgeführt wird (S. 160). Die klassische Politikdidaktik hat einen legislativen Bias (Deliberation, ausgezeichnet: vgl. Hess 2009; Hippe 2010); die Exekutive (Governance) etwa im Projektmanagement in Verwaltung und öffentlicher Dienstleistung ist ausgeblendet. Demokratiepädagogische Projekte dagegen sind stärker auf den gestaltungsorientierten Vollzug einmal getroffener Entscheidungen ausgerichtet. In ihren besten Beispielen realisieren sie die Einheit von Handlung und Reflexion, wie sie der immer wieder bemühte Gewährsmann Dewey in seiner pragmatischen Erziehungsphilosophie entfaltet hat.

Der exzellente Forschungsbericht von Sibylle Reinhardt versetzt der auch in diesem Band häufig anzutreffenden demokratiepädagogischen Euphorie einen empfindlichen Dämpfer. Wie steht es mit der impliziten Basisannahme, dass es empirische Indizien zum Transfer von Partizipation im Nahraum auf Demokratie-Kompetenz im Staat gibt? – Reinhardts Sekundäranalyse betrachtet 13 Autoren(gruppen) und Studien mit Blick auf Vorgehensweise, Befund und Quellen. Der Befund läuft auf das „Ende einer Illusion“ hinaus. Der Kurzschluss/Transfer von der Mikro- zur Makroebene, von der lokalen Polisorientierung zur Gesellschafts- und Staatsorientierung sei kein Automatismus. Demokratiepädagogik könne nicht länger den automatischen Qualitätssprung vom Nahen zum Systemischen unterstellen, wie etwa in den Praxisberichten der Projekte im Programm „Demokratisch handeln“ (Projektdatenbank: www.demokratisch-handeln.de). Auch die These, dass Prosozialität in einem positiven Zusammenhang mit dem Verständnis des demokratischen Konflikts stehe, wurde in mehreren Studien widerlegt (S. 132). Eher müsse man die Befürchtung hegen, dass sozial-räumlich begrenztes gemeinschaftliches Handeln der politischen Sphäre weiter entfremden kann, weil diese nach ganz anderen Regeln abläuft (S. 137). Aus der Konfrontation von Mikro- und Makroebene könnten Enttäuschungen hervorgehen, die wiederum entwicklungsfördernd sein können. Konstruktiv modelliert Reinhardt vier unterschiedliche Entwicklungspfade: Nicht jedes Engagement, aber doch organisationsvermitteltes Engagement und politisches Engagement bzw. Interesse hängen zusammen (S. 138). Eine in der politischen Bildung häufig anzutreffende Partizipationseuphorie ohne untersetzende Handlungskompetenz – „Leidenschaft ohne Augenmaß“ könnte man mit Bezug auf Max Weber sagen – führe nur zu Enttäuschungen und produziere Rückzug (S. 44 f.).

Nach der „Substanz“, den vorpolitisch-mentalen und sozialen Voraussetzungen/sozio-moralischen Ressourcen von Demokratie in der „demokratischen Persönlichkeit“ (S. 11), fragen mehrere Beiträge. Gegen das „massenhafte Akzeptieren falscher Vorstellungen über die Funktionsweise der Demokratie und ihrer Institutionen“ (S. 33) schreibt seit Jahren der Dresdener Politikwissenschaftler Werner Patzelt an. Seine provokant zugespitzte These eines latenten Verfassungskonflikts dreht die öffentliche Debatte um eine abgehobene Politikerkaste im Parteienstaat um: Viele Bürgerinnen und Bürger verachteten Politik und Politiker allein deshalb, weil sie ihr Regierungssystem nicht verstehen. Und selbstverständlich kommt den Medien mit ihrer Skandalisierung des Streits (S. 37) eine wichtige Rolle dabei zu. Die Befunde beruhen auf unterschiedlichen Datensätzen der Meinungsforschung, ohne dass diese hier nochmals angeführt werden bzw. auf die inzwischen erfolgte methodische Kritik eingegangen wird. Sie lassen sich in das Konzept Fehlverstehen (s. o.) einordnen. Patzelts politikwissenschaftliche Überlegungen sind anschlussfähig an erziehungswissenschaftliche Konzepte einer Organisationspädagogik und des systemischen Lernens (evolutorischer Institutionalismus), etwa zu Parlamenten als lernenden Institutionen im Zustand permanenter Reform.

Als Heilmittel gegen den latenten Verfassungskonflikt tritt Patzelt – neben systematischem kognitiven Lernen auf der Basis eines Inhaltskanon (S. 47 – ähnlich wie Buch Nr. 2) – für demokratische Rituale ein (S. 54): Es müssten Bürgertugenden ausgebildet werden, ein wahrhaft republikanischer „Patriotismus“ als „soziomoralische Summenformel“, selbstverständlich auf der Grundlage eines „Verfassungspatriotismus“, wie er in anderen Demokratien ganz selbstverständlich ist. An dieser Stelle kommt, wie in Buch Nr. 2, die Gemeinwohl-Kategorie ins Spiel – der legitime „Wunsch, dem eigenen Land möge es gut gehen“, der sich im „freudigen Gebrauch seiner Symbole – von der Fahne über das Wappen bis zur Nationalhymne“ (S. 53) – ausdrücke. Patzelt grenzt diesen republikanischen Patriotismus vom derzeit am meisten diskutierten Konzept der Bürgerrolle, dem Kosmopolitismus, ab, der bereits in der Literatur der deutschen Klassik formuliert wird und als Herausforderung durch Globales Lernen an den Mainstream politischer Bildung herantritt (Overwien u. Rathenow 2009), dort allerdings randständig bleibt oder ignoriert wird.

Einen notwendigen Schritt von zu Unrecht oft kaum beachteten Einzelpromotionen (vgl. z. B. Eyrich-Stur 2009; Eis 2010) zu thematischen Verbünden auch in den kleinen Fachdidaktiken leistet das Oldenburger Promotionsprogramm/Graduiertenkolleg ProDid zur „Fachdidaktischen Lehr-Lernforschung – Didaktische Rekonstruktion“. Andreas Klee untersucht darin „Vorstellungen von Politiklehrerinnen und –lehrern und ihre Bedeutung für die Entwicklung einer Didaktik der Demokratie“ (S. 297–310, vgl. dazu auch Klee 2008). Die Kluft zwischen Alltagsdidaktik und fachdidaktischer Theorie soll nicht als Defizit beschrieben, sondern vielmehr produktiv in den didaktischen Diskurs eingebunden werden. Dazu ist ein symmetrischer Dialog zwischen Forschenden und Beforschten notwendig, der einem demokratiepädagogischen Habitus entspricht. Demokratielernen als Konsens und „neue Mitte“ (S. 302) für die politische Bildung zu etablieren gehe eben nicht in Top-down-Prozessen. Die Qualitative Inhaltsanalyse (nach Mayring) der problemzentrierten Interviews erbringt drei Denkfiguren, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen: „Alle Vorstellungen der interviewten Lehrerinnen und Lehrer akzentuieren die Notwendigkeit erfahrungsbasierter Zugänge, während gleichzeitig Vorstellungsmuster erkennbar werden, die auf die Notwendigkeit der Vorabvermittlung von Wissen und die Verdrängung außerschulisch erworbener Wissenselemente insistieren.“ (S. 303) Wenn sich dieser explorative Befund erhärten sollte – er basiert bisher nur auf sechs Lehrerinterviews! – würde dies auch den bekannten Befund stützen, dass Lehrenden nichts so schwerfällt, wie die Vermittlung allgemeiner Einsichten an konkreten erfahrungsbasierten Fällen sowie der Transfer von dort auf neue Einsichten, in der politischen Bildung bekannt als das Pulsschlagtheorem: am Besonderen das Allgemeine zu entwickeln und dieses wieder auf neue Fälle zu beziehen. Aufgrund dieses „Bias“ zwischen Erfahrungsorientierung und Wissensvermittlung von einer „Entzauberung des politischen Urteils“ (Klee 2008) zu sprechen, erscheint vor diesem Hintergrund jedoch überzogen.

Eine qualitativ forschende Erziehungswissenschaft hat inzwischen begonnen, die Folgewirkungen demokratiepädagogischer Imperative und Gutmenschentums kritisch zu untersuchen. Ein Diskurs über das Konzept der Gouvernementalité, die Praktiken der Subjektivierung, die Imperative der Partizipation – auch als Form sozialer Kontrolle im Konzept des aktivierenden Staats („Fördern und Fordern“) – findet sich angedeutet im Beitrag von Silvia-Iris Beutel über „Leistungsbeurteilung zwischen allgemeiner Didaktik und Demokratiepädagogik“ (S. 172–183). Herausgearbeitet wird der Trend zur Beteiligung und zum Dialog in der Leistungsbeurteilung durch „auf wechselseitiger Verpflichtung beruhende vertragliche Absprachen“ (S. 182). Subjektivierungen sind auch Gegenstand des Beitrags von Wolfgang Beutel über Veranwortungslernen (Schulversprechen – Verträge, S. 73 ff.) als Modelle eigenverantwortlicher Präventions- und Interventionsstrategien (S. 77). Es fällt auf, dass die ambivalente Geschichte und Genese der Demokratiepädagogik, etwa in den reformpädagogischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, nur in dem Beitrag von Silvia-Iris Beutel kurz angesprochen werden.

Die empirischen Forschungsansätze lenken den Blick auf die unklaren Standards für anschaulich-nachvollziehbare Unterrichtsreportagen (vgl. auch Marker 2009). Demokratiedidaktik im engeren Sinne hat inzwischen ihre klassischen Referenzbeispiele. So ist das demokratiepädagogisch ausgezeichnete Projekt zum „Fall Kastanie“ zum Musterbeispiel und Wetzstein geworden, an dem sich die Theoriekontroversen abarbeiten (Petrik, S. 243–259). Diese Werkdimension im Bildungsprozess, wie sie Berg et al. (2009) mit einer „Opusliste“ herausstellt, ist ein Indikator für didaktische Professionalisierung. Allerdings müssen sich die demokratiepädagogischen Projektberichte dem Problem stellen, wie ihre Verläufe für Außenstehende nachvollziehbar dargestellt werden können. Eine Sekundäranalyse zur narrativen Struktur von Unterrichts- und Projektberichten ist überfällig!

Insgesamt wird der Anspruch des Sammelbandes, einen „Pluralismus von Zugängen“ und „kontroverse, thematische Variationen“ vorzustellen (S. 9), eingelöst. Der Einschätzung, das Feld sei auf neue Denkanstöße und eine lebendige innere Diskussionskultur angewiesen (ebd.), wird man zustimmen.

Disziplinäre Verortung in einem multidisziplinären Feld. Die drei Publikationen zeigen, dass das Verhältnis der „politischen Bildung“ und der „Demokratiepädagogik“ nach wie vor problematisch erscheint. Im Beitrag von Sibylle Reinhardt heißt es rückblickend, der Abgrenzungsdiskurs sei inhaltlich, begrifflich und atmosphärisch „unbefriedigend“ (S. 126) verlaufen. Insgesamt ist es interessant zu beobachten, wo und wie sich „Demokratiedidaktik“ im Unterschied zu „Politik als Kern“ in einer multidisziplinären sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik verortet und sich zu institutionalisieren vermag. Das hier besprochene Sammelwerk ist durch Tagungen der Sektion Politische Wissenschaft und Politische Bildung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) initiiert. Dies ist insofern überraschend, würde man hier doch eher Autorinnen und Autoren vermuten, die sich dem Paradigma „Politik als Kern“ zuordnen lassen. Stattdessen sammeln sich in der DVPW die „ortlosen“ Demokratiepädagogen, deren Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe) es bislang nicht gelungen ist, eine vergleichbare Schriftenreihe oder Fachzeitschrift aufzulegen.

Vom Ansatz „Politik als Kern“ übersehen, hat die Politikwissenschaft mit dem „alte[n] Verständnis als Demokratiewissenschaft“ (Buch 3, S. 11) eine oft unterschätzte Tradition, den „subjektiven Faktor“ in den Blick zu nehmen. In der DVPW sind zahlreiche an Fragen der politischen Bildung und der Demokratiepädagogik anschlussfähige Sektionen vertreten: Politische Kulturforschung, politische Psychologie, politische Sozialisation, vergleichende Demokratieforschung u. a. Inzwischen hat auch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) das Thema wieder entdeckt: Die Sektion Bildung und Erziehung veranstaltet im Juni 2010 eine Tagung zum Thema „Politische Bildung – politisierende Bildung – politische Sozialisation“.

Insgesamt fehlt jedoch die intensive Verbindung zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft (Erziehungsphilosophie) und zur kritischen Schulpädagogik. Die „Wächter des Politikunterrichts gegenüber pädagogischen Verflüssigungen“ (Detjen) täten gut daran, erziehungswissenschaftliche Diskurse zumindest zur Kenntnis zu nehmen. Wer hier nur auf psychologische Lerntheorien blickt, läuft Gefahr, über den Austausch von Semantiken nicht hinauszukommen.