1 Vorbemerkung

Alle fünf Jahre stellt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Form des Freiwilligensurveys der Öffentlichkeit umfassende und detaillierte Daten zum freiwilligen Engagement (Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, bürgerschaftliches Engagement) der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zur Verfügung. Bisher wurde dieser Survey dreimal durchgeführt, sodass die Zivilgesellschaft in Deutschland im Zeitraum der letzten Dekade umfassend beschrieben werden kann (vgl. Gensicke 2010; Gensicke et al. 2006; Rosenbladt 2009). Die hohe Zahl an Befragten sowie die regelmäßige Durchführung nach einheitlichem Konzept und nach hohen Qualitätsstandards sichern eine gute Verlässlichkeit der Daten über die letzten zehn Jahre. Dem Freiwillligensurvey kommt es neben seiner Funktion als periodischem Querschnitt der Zivilgesellschaft besonders auf die korrekte Darstellung gesellschaftlicher Trends an. Aussagen über die Zivilgesellschaft ermöglichen regelmäßig auch eine Bestandsaufnahme der sozialen Qualität unserer Gesellschaft. Das BMFSFJ, innerhalb der Bundesregierung federführend für das Thema „Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement“, investiert mit dem Freiwilligensurvey nachhaltig in ein öffentliches Informationssystem, das zum einen der Anerkennung der Leistungen von Millionen von Freiwilligen dient und zum anderen ein gesellschaftlicher Sensor für neue soziale Problemlagen und Herausforderungen ist.Footnote 1

2 Der Zugang der Bevölkerung zu den öffentlichen Organisationen und Institutionen

Gegenstand des Freiwilligensurveys ist die Darstellung der Wirklichkeit, der Entwicklung und der Zukunftsaussichten der Zivilgesellschaft in Deutschland. Zivilgesellschaftlich können alle Denk- und Fühlweisen, insbesondere jedoch alle praktischen Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger, eingestuft werden, die dazu beitragen, unsere bürgerliche Gesellschaft in Richtung einer mitbürgerlichen Gesellschaft weiterzuentwickeln. Dieser von Fritz Borinski im Rahmen der Demokratisierung der frühen Bundesrepublik (reeducation) eingeführte Begriff beinhaltet eine hohe Wertschätzung der bürgerlichen Freiheitsrechte und -garantien, will aber auch darauf hinaus, dass diese Rechte aktiv genutzt werden, um die Gesellschaft humaner, kooperativer und toleranter zu machen (vgl. Borinski 1954). Demokratie und soziale Marktwirtschaft werden in diesem Sinne nicht als etwas Gegebenes begriffen, sondern als ein Prozess, der von aktiven Bürgerinnen und Bürgern immer wieder angestoßen, kritisch hinterfragt und mit Leben erfüllt werden muss. Mitbürgerlichkeit beginnt damit, dass man sich über seine privaten Belange hinaus auch für andere Menschen und für öffentliche Dinge und Angelegenheiten interessiert.

Bereits der französische Verwaltungsfachmann und Soziologe Alexis de Tocqueville hatte 1835 bei der Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft darauf hingewiesen, dass sich eine mitbürgerliche Gesellschaft am besten und am nachhaltigsten im Rahmen von öffentlichen Vereinigungen vorantreiben lässt. Zwar ist in allen gesellschaftlichen Bereichen (Wirtschaft, Staat) sowie im Privaten mitbürgerliches Verhalten wichtig, dennoch haben Gruppen, Vereine, Organisationen und Verbände, die im öffentlichen Raum agieren, sowie öffentliche Institutionen und Einrichtungen den Vorzug, eine relativ dauerhafte, weil organisierte und öffentlich zugängliche Plattform zur Förderung der Mitbürgerlichkeit zur Verfügung zu stellen. Hier können sich interessierte Menschen einbringen. Der Schritt vom öffentlichen Interesse zur öffentlichen Aktivität erfolgt bevorzugt über solche Handlungszusammenhänge, die in der Literatur auch als „Infrastruktur der Zivilgesellschaft“ bezeichnet werden.

Vor allem dann, wenn sich Menschen dazu entschließen, sich längerfristig an eine ehrenamtliche oder freiwillige Tätigkeit zu binden, braucht es eine organisatorische Struktur als stabile und dauerhafte Grundlage. Insbesondere der gesellschaftliche Bereich, den man als Dritten Sektor vom Markt einerseits und vom Staat andererseits unterscheidet, bietet solche Strukturen an, in denen sich Menschen ohne Erwerbsabsicht freiwillig und zum Zwecke der öffentlichen Erweiterung ihrer privaten Existenz einbringen können. Der Freiwilligensurvey überprüft regelmäßig, inwiefern Menschen in Deutschland von diesen Strukturen erreicht werden bzw. inwieweit sie sich in diese Zusammenhänge aktiv einbringen. Zu diesem Zweck wird ein differenziertes Erhebungsinstrument verwendet, das die Zugänge und Verbindungen der Bürgerinnen und Bürger zu Gruppen, Vereinen, Organisationen und Institutionen der Zivilgesellschaft erfasst.

Der Sport ist derjenige Bereich, der in Deutschland die meisten Menschen in öffentliche Aktivitäten und damit in die Zivilgesellschaft hineinzieht. Man erkennt die integrative und flächendeckende Funktion der Sportvereine daran, dass inzwischen mehr als zwei Fünftel der Bevölkerung wenigstens locker in solche sportlich-organisatorische Zusammenhänge integriert sind (vgl. Abb. 1). Der Bereich der Freizeitaktivitäten sowie derjenige der kulturellen, künstlerischen und musischen Aktivitäten hat ebenfalls eine wichtige sozialintegrative Funktion, wobei der Rückgang im ebenfalls großen Freizeitbereich auffällig ist. Die soziale Niederschwelligkeit, mit der die populären Großbereiche Sport, Kultur und Freizeit weite Kreise der Bevölkerung aller Schichten in den öffentlichen Raum einbeziehen, ist gar nicht genug zu würdigen. Ohne diese klassischen Vereinsaktivitäten gäbe es keine flächendeckende Zivilgesellschaft in Deutschland und andere Länder bewundern uns für diese funktionierende soziale Struktur, trotz des ironischen Begriffs des „deutschen Vereinsmeiers“.

Abb. 1
figure 1

Teilnehmende Aktivitäten der Bevölkerung in 14 Bereichen. Bevölkerung im Alter ab 14 Jahren (Angaben in %, Mehrfachnennungen)

Die mittleren Bereiche Soziales, Kindergarten und Schule sowie Kirche und Religion stehen wesentlich mehr für die Struktur- und Organisationsformen der Verbände bzw. der öffentlichen Institutionen. Alle haben im Zeitverlauf leichte Zuwächse zu verzeichnen. Es wird sich zeigen, dass sie, obwohl sie im Vergleich zum Vereinssektor weniger Menschen teilnehmend einbeziehen, deutlich stärker in der Lage sind, freiwillig Engagierte langfristig zu binden. Das hat verschiedene Gründe: Es kann der ethische oder religiöse Grad an Verbindlichkeit sein, aber auch das familiäre (und daher zumeist temporär vorhandene) Interesse an einer guten Betreuung, Förderung und Bildung eigener Kinder in öffentlichen Einrichtungen. Es wäre sicherlich falsch, „populäre“ und „ethische“ Beteiligungsbereiche gegeneinander auszuspielen. Abgesehen davon, dass die Mobilisierungsquoten der Sektoren ihre eigene Sprache sprechen, sind die Vielfalt der Beteiligungsmöglichkeiten und ihre unterschiedliche Bindungskraft Ausdruck einer Gesellschaft verschiedener Lebenslagen und der besonderen Typik und Anforderungen der jeweiligen menschlichen Lebensphasen.

Verschiedene Aktivitätsbereiche sind für bestimmte Bevölkerungsgruppen mehr oder weniger attraktiv. Im Sportbereich beteiligen sich viele junge Leute, im Bereich Kirche und Religion und Soziales vermehrt ältere Menschen. Dennoch integriert die Kirche auch viele junge Menschen, vor allem mit Freizeitangeboten der kirchlichen Jugendarbeit. Teilweise ist die erhöhte Bedeutung von Kirche und Religion für junge Leute jedoch auch Reflex des erhöhten Anteils an Migranten in dieser Altersgruppe. Der Bereich freiwillige Feuerwehr und Rettungsdienste ist auf dem Lande stark vertreten und stützt sich bevorzugt sowohl auf junge Leute als auch auf Erwerbstätige. Letztere sind naturgemäß im Bereich der beruflichen Interessenvertretung besonders aktiv. Dieser Sektor setzt große Unterschiede zwischen Männern und Frauen, ebenso die Politik, Feuerwehr und Rettungsdienste sowie lokales Bürgerengagement; das sind durchweg Bereiche, in denen viele Männer aktiv sind.

In den großen Bereichen Sport, Kultur, Freizeit und Soziales sind Frauen in etwa gleichem Umfang wie die Männer beteiligt, während Frauen vermehrt in Kindergarten und Schule, Religion und Kirche sowie im Gesundheitsbereich öffentlich aktiv werden. Familien setzen in charakteristischer Weise öffentliche Aktivitätsschwerpunkte. Im Sport fallen sie mit einer sehr hohen Aktivitätsquote von ca. 50 % auf; sehr häufig sind sie aber vor allem im Bereich Schule und Kindergarten aktiv, besonders Menschen, die in Haushalten mit vier Personen leben (27 %), und noch mehr solche, die in Haushalten mit fünf und mehr PersonenFootnote 2 wohnen (29 %) (alle Befragten: 13 %). Vor allem die großen Familien ab fünf Personen sind auch sehr stark im Bereich Kirche und Religion aktiv, was wohl auch ein Reflex des erhöhten Migrantenanteils in dieser Haushaltsform ist.

Insgesamt gelang es seit 1999 den Vereinen, Organisationen und Institutionen des Dritten Sektors, die Bevölkerung stärker einzubinden. Wurden auf diese Weise 1999 bundesweit bereits 66 % der Bevölkerung erfasst, so waren es 2004 70 % und 2009 71 %. Diese Zunahme war in Ostdeutschland – ausgehend von einem geringeren Niveau – erfreulicherweise stärker als in Westdeutschland, sodass hierin (wie auch bei der Engagementbereitschaft nicht freiwillig Engagierter) die größte Annäherung beider Landesteile zu erkennen ist.Footnote 3

3 Eckdaten zum freiwilligen Engagement

3.1 Erfassung des freiwilligen Engagements

Öffentliche Beteiligung ist eine wichtige Quelle der Entwicklung der Zivilgesellschaft und unserer Gesellschaft überhaupt, aber erst das freiwillige Engagement beschreibt als Handlungsbegriff den innersten Kern der Zivilgesellschaft. Aus unverbindlicher Beteiligung, sozusagen dem „Hereinschnuppern“ in die thematische, organisatorische und institutionelle Vielfalt der Zivilgesellschaft, wird eine verbindliche Übernahme von praktischen Tätigkeiten. Prosoziale Einstellungen werden zu öffentlicher Aktivität und diese geht in eine dauerhafte Übernahme von Aufgaben und Arbeiten in der Zivilgesellschaft über: Das wäre zumindest der idealtypische Verlauf, der sich in Wirklichkeit sicher nicht immer findet. Man kann auch freiwillig eine Tätigkeit übernehmen, weil man ein Problem angehen will oder einfach neugierig ist, und dann erst prosoziale Einstellungen entwickeln. Die Kategorie der Wechselwirkung, oft in der Sozialwissenschaft fruchtbar, spielt auch in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle.

Im Rahmen des Freiwilligensurveys wurde von Anfang an großer Wert auf die genaue Abgrenzung des freiwilligen Engagements von (nur) teilnehmenden öffentlichen Aktivitäten gelegt. Dieses Verfahren wurde einer anderen Methode vorgezogen, die ebenfalls das Verhältnis der Menschen zur organisierten Öffentlichkeit des Dritten Sektors bestimmen soll, und zwar mittels der Erfassung von Mitgliedschaften in Organisationen. Im Freiwilligensurvey galt es zum einen zu vermeiden, so genannte „Karteileichen“ mitzuerfassen, also nur passive Mitgliedschaften. Wichtiger war jedoch der Umstand, dass sich eine Reihe öffentlicher Aktivitäten und auch des freiwilligen Engagements der Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Mitgliedschaften vollzieht, z. B. direkt über Institutionen, wie bei Elternvertretern oder Heimbeiräten, aber auch im Rahmen kommunaler Aktivitäten. In jedem der 14 erfassten thematischen Bereiche öffentlicher Aktivitäten ermittelt der Freiwilligensurvey konkrete Tätigkeiten von Bürgerinnen und Bürgern, die sie im engeren wie weiteren Rahmen der organisierten und institutionalisierten Strukturen des Dritten Sektors unentgeltlich oder gegen geringe Aufwandsentschädigung ausüben.

3.1.1 Übersicht 1: Erfassung von freiwilligem Engagement im Freiwilligensurvey

Uns interessiert nun, ob Sie in den Bereichen, in denen Sie aktiv sind, auch ehrenamtliche Tätigkeiten ausüben oder in Vereinen, Initiativen, Projekten oder Selbsthilfegruppen engagiert sind. Es geht um freiwillig übernommene Aufgaben und Arbeiten, die man unbezahlt oder gegen geringe Aufwandsentschädigung ausübt.

Sie sagten, Sie sind im Bereich Sport und Bewegung aktiv. Haben Sie derzeit in diesem Bereich auch Aufgaben oder Arbeiten übernommen, die Sie freiwillig oder ehrenamtlich ausüben?

1: Ja □

2: Nein □

3: KA □

Und in welcher Gruppe, Organisation oder Einrichtung sind Sie da tätig? Sagen Sie mir bitte den Namen und ein Stichwort, worum es sich handelt.

(Bezeichnung eintragen)

Und was machen Sie dort konkret? Welche Aufgabe, Funktion oder Arbeit üben Sie dort aus?

(Stichworte eintragen)

Die folgende Übersicht weist typische Angaben der Befragten über ihre freiwilligen Tätigkeiten aus. Damit kann der Leser sich ein exemplarisches Bild von der Informationsbasis des Freiwilligensurveys machen, die zur Bildung einer so genannten Engagementquote nötig ist und auf die sich jeweils die inhaltliche Beschreibung der Engagierten bezieht, die im Laufe des Interviews mit Hilfe eines umfangreichen Fragenkatalogs erhoben wird.

3.1.2 Übersicht 2: Auswahl typischer freiwilliger Tätigkeiten

  • THW: Wir sind für die Brandbekämpfung, Unfallrettung und den Katastrophenschutz verantwortlich.

  • Ich arbeite in einer Kleingartenanlage e. V.: Ich bin dort Wasserobmann und kümmere mich um die Wasseranlagen im Verein.

  • Fußballverein: Ausbau von Sportlerheim

  • Verschönerung des Dorfes: Planung, die alte Schule umbauen

  • Schule als Arbeitsgemeinschaftsleiter: Arbeit mit Kindern, Vermitteln von Grundkenntnissen am PC

  • Vorbereitung der Kinderchöre und Räume für Auftritte schmücken

  • Schülercafé an meiner Schule, Freizeitgestaltung wie Bastelarbeiten; Pausenversorgung der Mitschüler

  • Kindergarten: Elternbeirat

  • Tierheim: Tiere betreuen

  • Programm zur Integration von Langzeitarbeitslosen: Koordinierung von Haushaltsauflösungen

  • Schule für lernbehinderte Kinder: Instandsetzung von Spielgeräten

  • Kirche: Gemeindeblätter austragen, anfallende Arbeiten

  • Die grünen Damen (Hilfsorganisation): Besuchsdienste (Einkaufen, Betreuung bei Seniorenheimbewohnern)

  • Theatergruppe: Regisseur

  • Universität: Betreuung von Studenten bei Projekten

  • Pflegeheim: Spazierengehen, Singen, Vorlesen

  • Schützenverein: Veranstaltungen vorbereiten

  • Schule: Lesepause, Musical-AG unterstützen

  • Verein zur Rettung einer kleinen romanischen Dorfkirche: Kassiererin und Vorstand

  • Wanderverein: Wegewart

  • Seniorenbüro: Zuständig für die Finanzen

  • Entwicklungshilfe: Betreuen von Mitgliedern und kümmere mich um den Schriftverkehr

  • Pfadfinder: Organisation und Kinderbetreuung

  • Die Tafel: Vorsortieren und Ausgabe der Lebensmittel, Reinigung der Räume

  • Sportverein: Kassenprüfung

  • Evangelische Kirchengemeinde: Betreuung der Kindergruppe, z. B. Basteln, Ausflüge mit gestalten und ausführen, Besprechung von Geschichten, Singen mit Kindern

  • Bibliotheksförderverein: Vorstandsmitglied

  • Deutsch-Griechische Gesellschaft: Organisation von Festen und Verkauf

  • Telefonseelsorge: allgemeine Fragen der Anrufer aus allen Altersgruppen

  • Gemeinderat: Vorsitzende

  • Weißer Ring: Organisation von Veranstaltungen

  • AWO: Betreuung von Behinderten

  • Gewerkschaft verdi: im Vorstand

  • Hilfsschöffe Jugendgericht: Ehrenamtlicher Richter

  • Volkssolidarität: Leiterin, Organisation

  • NABU Naturschutzbund: Ornithologische Bestandserfassung

  • Schülerparlament: Abgeordneter, Interessenvertretung

  • Hospizverein: Begleitung von Sterbenden

  • Gegen die B519: Organisatorische Dinge

  • DRK: Mehrgenerationenhaus: Hausmeistertätigkeiten, Mithilfe bei der Ausführung von Veranstaltungen

  • Moschee: Gruppenleiterin

3.2 Vielfalt des freiwilligen Engagements

Schon bei der Lektüre der kleinen Auswahl dieses Originaltons der Engagierten in Übersicht 2 erstaunt die Vielfalt der Ausrichtung der freiwilligen Tätigkeiten, die letztlich die große Themenvielfalt unserer Gesellschaft widerspiegelt. Trotz der inhaltlichen Bandbreite ist es unvermeidlich, dieses Spektrum in ein bestimmtes vereinfachendes Raster zu fassen, das ebenso wie die Engagementquote erst nach Prüfung aller 12.500 genannten Tätigkeiten endgültig feststand. Belässt man die Reihenfolge der Bereiche so wie in der Abb. 1, müsste eine prozentuale Rangfolge der freiwillig Engagierten, also der Organisatoren und „Motoren“ des laufenden Betriebs, eigentlich ganz anders geordnet werden als die der (zumindest) unverbindlich Beteiligten (vgl. Abb. 2). Der Sport behauptet sich zwar als führender Bereich, allerdings angesichts der schieren Größe der Beteiligung bei Weitem nicht so eindrucksvoll. In den Kindergärten und Schulen sowie in den Kirchen und religiösen Gemeinschaften ist der Anteil der engagierten Bürgerinnen und Bürger im Verhältnis zu den nur unverbindlich Beteiligten viel höher, auch im sozialen Bereich.

Abb. 2
figure 2

Freiwilliges Engagement in 14 Bereichen. Bevölkerung im Alter von 14 Jahren (Angaben in %, Mehrfachnennungen)

Bevor man an diese Verhältnisse allerdings allzu weitreichende Interpretationen knüpft, sollte bedacht werden, dass jene Bereiche, in denen das Verhältnis von Beteiligten und Engagierten besonders zu den letzteren verschoben ist, auch diejenigen sind, die besonders durch bezahlte Mitarbeiter getragen werden. In den Vereinen stehen Hauptamtliche nur zu 28 % zur Verfügung, während ihr Anteil in den Verbänden, Kirchen und öffentlichen Einrichtungen mit über zwei Dritteln viel höher ist. Das ist letztlich der Widerschein der Tatsache, dass sich hier Freiwillige vermehrt in institutionalisierte Strukturen einbringen, die für ihre Aufgaben zumeist öffentlich finanziert und professionalisiert sind. Freiwillige tragen hier die Arbeitsstruktur weniger, als dass sie sie ergänzen. Trotz des deutlich geringeren Anteils von Freiwilligen an den insgesamt Beteiligten stellen die Vereine dennoch fast die Hälfte der Freiwilligen in Deutschland. Sie halten damit in Stadt und Land flächendeckend vielfältige Angebote für eine sehr große Anzahl an Teilnehmern aufrecht.

Das wirft wiederum ein interessantes Licht auf die Bereiche der „Freizeitstruktur“ im weiteren Sinne, wenn man Sport, Freizeit und Kultur darunter fassen will. Angebote, die hier von engagierten Bürgerinnen und Bürgern vorgehalten werden, sind eigentlich im Sinne des öffentlichen Rechtes eines sozialen Staates nicht in dem Maße „notwendig“ wie die Pflichtaufgaben einer öffentlich geregelten Betreuung von Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen, von sozial Schwachen, Kranken und Behinderten. Demzufolge finanzieren hier Mitglieder (vor allem von Vereinen) mit ihren Beiträgen den laufenden Betrieb mit, wobei das im Vergleich zur staatlichen Alimentierung der notwendigen öffentlichen Angebote nicht ausreicht, einen großen Stab von bezahlten Mitarbeitern zu unterhalten. Die Freiwilligen sind in diesen großen Freizeit-Sektoren in einem ganz anderen Maße wichtig, um die laufende Arbeit überhaupt aufrechtzuerhalten. Aber auch das würde nicht reichen, wenn nicht noch zusätzliches Zuspenden, Sponsoring und Werbeeinnahmen dazukämen. Das bedeutet aber, dass diese (im Anteil) wenigeren Freiwilligen Angebote ermöglichen, die sehr vielen Menschen eine erhöhte Lebensqualität ermöglichen, oft genug insbesondere den Familien sowie den Menschen auf dem Lande und in Kleinstädten. Ohne diese flächendeckenden Leistungen von Freiwilligen wäre Deutschland ein sozial weniger lebenswertes Land.

Insgesamt hat der vereinsgeprägte Sektor in der gesamten Dekade an Freiwilligen verloren, vor allem bei Sport und Freizeit, und dort besonders bei jungen Menschen. Vor allem zwischen 1999 und 2004 ist dagegen die Bedeutung der institutionell gebundenen Engagementbereiche gestiegen und diese Steigerung beruht vor allem auf den mittleren und älteren Jahrgängen.Footnote 4 In diesem Zeitraum stieg ebenfalls die Bedeutung des Umwelt- und Tierschutzes sowie die der Jugend- und Bildungsarbeit – Bereiche, in denen die Verbände vermehrt von Bedeutung sind. Die Steigerung bei der Freiwilligen Feuerwehr und den Rettungsdiensten beruht vor allem auf einer zunehmenden Aktivität der 35- bis 55-Jährigen.

3.3 Anteil freiwillig Engagierter an der Bevölkerung

Im Rahmen des Freiwilligensurveys war es stets wichtig, neben der Ermittlung der Reichweite der Zivilgesellschaft und der Bedeutung der Bereiche des Engagements auch die allgemeine Verbreitung des freiwilligen Engagements über die Bevölkerung hinweg zu ermitteln. Diese Größe ist unter dem Begriff der so genannten Engagementquote bekannt: Wie hoch ist der Anteil an Bürgerinnen und Bürgern, die sich freiwillig engagierten und wie hat sich dieser in den letzten 10 Jahren entwickelt? Diese Quote wird ermittelt, indem gezählt wird, wie viele Befragte mindestens eine gültige ehrenamtliche oder freiwillige Tätigkeit angeben konnten.Footnote 5 Das waren deutschlandweit am Beginn der Messung 1999 34 %, 2004 36 % und 2010 ebenfalls 36 % (vgl. Abb. 3).Footnote 6 Die Reichweite des freiwilligen Engagements in der Bevölkerung ist also seit 2004 nicht mehr gestiegen. Angesichts der umfassenden Förderaktivitäten sowohl seitens des Bundes, der Länder und der Kommunen als auch der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen mag es verwundern, dass die Reichweite des freiwilligen Engagements in der Bevölkerung seit 2004 nicht mehr gestiegen ist. Der Haupteffekt dieser Förderung bestand (vor allem in den letzten fünf Jahren) neben der Stabilisierung des Engagements vor allem darin, das freiwillige Engagement in der öffentlichen Meinung deutlich positiver zu besetzen. Den Ursachen für die unterschiedliche Entwicklung der öffentlichen Aktivität der Bürgerinnen und Bürger, des freiwilligen Engagements und des Meinungsklimas über das Engagement wird sich die Hauptberichterstattung des Freiwilligensurveys intensiv widmen.

Abb. 3
figure 3

Freiwillig Engagierte, öffentlich Aktive und nicht Aktive im Zeitverlauf. Bevölkerung ab 14 Jahren (Angaben in %). (Quelle: Freiwilligensurveys 1999, 2004 und 2009)

Hier soll zunächst der Hinweis genügen, dass in den letzten fünf Jahren dem jahrzehntelangen Prozess der öffentlichen Aufwertung des freiwilligen Engagements ein Bündel gesellschaftlicher Faktoren entgegengewirkt hat; z. B. der soziale Stress, ausgelöst durch die Wirkungen tiefgreifender sozialer Reformen und durch die verstärkte Inanspruchnahme der Bevölkerung durch Arbeitsmarkt und Arbeitgeber. Dazu kommen die Wirkungen des demografischen Wandels, indem die für die Zivilgesellschaft so wichtigen jungen Menschen und die Familien weniger geworden sind. Das Engagement der Jugend steht wegen der zunehmenden Verdichtung der Ausbildungs- und Berufseinmündungsphase unter Druck, das Engagement der jungen Frauen wegen ihres zunehmenden beruflichen Engagements und der nicht genügenden Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dass dennoch das Niveau des freiwilligen Engagements seit 2004 gehalten werden konnte, zeigt die Stärke des Trends auch unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen. Angetrieben wird diese Entwicklung vor allem durch das weiter steigende Bildungsniveau der Bevölkerung sowie durch die Aufwertung der Öffentlichkeit im Lebensstil vieler Menschen, besonders der älteren Generation. Dazu kommt der verstärkte Einsatz der Familien für die Ausbildung und Freizeitgestaltung ihrer Kinder.

Neben dem Hinweis auf die quantitative Stabilität des freiwilligen Engagements und auf die Zunahme des (im weiteren Sinne) sozialen Engagements in sozial schwierigen Zeiten gilt es festzuhalten, dass das freiwillige Engagement der Bürgerinnen und Bürger sich durch eine hohe Verbindlichkeit auszeichnet: Im Schnitt werden die freiwilligen Tätigkeiten von Engagierten bereits seit zehn Jahren durchgeführt (zu 32 % sogar seit über zehn Jahren). Die Bandbreite reicht hierbei von durchschnittlich vier Jahren bei 14- bis 29-Jährigen bis zu ca. 18 Jahren bei Menschen im Alter von über 65 Jahren. Zum anderen wird das Engagement mit großer Regelmäßigkeit ausgeführt: 90 % der Engagierten üben ihr Engagement wenigstens einmal im Monat aus, 56 % mindestens einmal in der Woche und sogar 33 % mehrmals in der Woche. Auch andere Daten belegen diesen Befund einer hohen, teilweise sogar wachsenden Verbindlichkeit und Verlässlichkeit des Engagements: War den Engagierten ihr Engagement bereits vor zehn Jahren zu 78 % ein wichtiger Teil ihres Lebens, so hat sich dieser Anteil bis heute auf 85 % erhöht. Die Tätigkeiten sind auch zunehmend stabiler angelegt: Gingen 1999 noch 25 % der Engagierten davon aus, ihre freiwillige Tätigkeit würde in absehbarer Zeit beendet sein, so waren das 2009 nur noch 21 %. Diese Eckdaten zeigen, dass das freiwillige Engagement der Bürgerinnen und Bürger eine verlässliche Größe der gesellschaftlichen Agenda in Deutschland ist, mit einem über die gesamte Dekade positiven Trend.

Die Bandbreite der Möglichkeiten, sich in der Zivilgesellschaft freiwillig zu engagieren, ist groß und wird immer größer. Die Zivilgesellschaft reagiert zwar im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf gesellschaftliche Entwicklungen, bildet jedoch auch die vielfältigen Interessen der Bürgerinnen und Bürger ab. Sie ist sowohl eine gesellschaftliche als auch eine individuelle Veranstaltung. Beide Aspekte kommen jedoch nicht automatisch zur Deckung. Der in Deutschland traditionell starke Vereinsbereich mit den Sektoren „Sport und Bewegung“, „Kultur und Musik“ sowie „Freizeit und Geselligkeit“ nimmt nach wie vor eine wichtige Stellung ein. Wie gesehen, ist im letzten Jahrzehnt das Engagement in sozialen Institutionen gewachsen: das soziale und gesundheitliche Engagement, das Engagement in Kindergärten und Schulen und in der Jugendarbeit. Vor allem Familien und ältere Menschen sind hier das treibende Element. Die Entwicklung zum (im weiteren Sinne) sozialen Engagement folgt offensichtlich dem Trend zunehmender gesellschaftlicher Herausforderungen. Sich wandelnde Interessen, der demografische Wandel, erhöhte regionale Mobilität und Zeitstress bei jüngeren Menschen führen allerdings auch zu strukturellen Ungleichgewichten und mancherorts zu Nachwuchsproblemen.

Freiwilliges Engagement kann nicht verordnet werden: Menschen suchen sich je nach Motiv- und Interessenlage ihre Tätigkeiten. Vereine, Organisationen und Institutionen agieren zunehmend auch als mehr oder weniger attraktive Anbieter auf einem „Markt“ der Engagementmöglichkeiten. Die Zivilgesellschaft ist von Freiwilligkeit geprägt und politisch nur bedingt beeinflussbar, vor allem aber nur sehr bedingt Reparaturanstalt sozialer Fehlentwicklungen und auch kein zusätzlicher Arbeitsmarkt; zumindest sollte das so sein, damit der zivilgesellschaftliche Charakter erhalten bleibt. Freiwillige suchen sich Tätigkeiten, die sie interessieren und die etwas mit der besonderen Typik ihrer Lebensphase und ihrer Lebenssituation zu tun haben. Der demografiebedingte Mangel an jungen Menschen und der später noch zu zeigende Zustrom älterer Menschen in den Freiwilligensektor können zu Ungleichgewichten führen, da ältere Freiwillige oft andere Themen bearbeiten als jüngere. Wenn in typischen Arbeitsfeldern junger Menschen wie dem Sport, der Freiwilligen Feuerwehr und den Rettungsdiensten Nachwuchs fehlt, können ältere Menschen diese Lücken nur bedingt füllen. Eher wäre da an die jüngeren Frauen mit ihrem großen Engagementpotenzial zu denken, deren Anteil z. B. bei der Freiwilligen Feuerwehr in Bundesländern steigt, die dieses Engagement fördern (z. B. in Hessen).

4 Ein Blick auf die Jugend

Bürgerinnen und Bürger engagieren sich auch heute vor allem deswegen, weil sie etwas für andere Menschen und (vor allem im Kleinen) etwas für die Gesellschaft tun wollen. Zu diesen gesellschaftsbezogenen Motiven treten schon seit Längerem neue, interessensbezogene Gründe, ohne allerdings die sozialen Motive zu verdrängen. Diese Entwicklung ist besonders bei jungen Leuten zu beobachten. Zum einen suchen sie, gemäß der Typik ihrer Lebensphase, nach Gemeinschaft und Austausch mit anderen jungen Leuten. Durch Engagement kann man (z. B. auf dem Lande, aber nicht nur dort) Freunde, vielleicht sogar den Partner fürs Leben finden. Zum anderen sehen junge Leute im freiwilligen Engagement ein wichtiges Qualifikationsfeld, in dem man Kompetenzen erwerben kann, die auch beruflich verwertbar sind. Diese Bedürfnislage ist vor allem Ausdruck einer Gesellschaft, die Jugendlichen heute in ihrer Bildungs-, Ausbildungs- und Berufseinmündungsphase in immer kürzerer Zeit immer mehr abverlangt. Dazu kommt die Überlappung dieser Herausforderung mit der Familiengründung, was besonders junge Frauen als Problem empfinden und ihre Zeit für das Engagement verknappt. Wenn Jugendliche in ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement auf diese Herausforderungen reagieren, sollte das als legitim betrachtet werden. Angebote für jugendliches Engagement sollten auf diese Bedürfnislagen eingehen (vgl. die Abb. 4 und 5).

Abb. 4
figure 4

Qualifikationsbedürfnisse im Engagement nach Lebensalter. Alle Engagierten ab 14 Jahren (Angaben in %). (Quelle: Freiwilligensurveys 1999, 2004 und 2009)

Abb. 5
figure 5

Berufliches Vorankommen nach Lebensalter. Alle Engagierten ab 14 Jahren (Angaben in %). (Quelle: Freiwilligensurveys 1999, 2004 und 2009)

Wir wissen aus unseren Jugendstudien (insbesondere aus der 14. und 15. Shell Jugendstudie), dass die Statuspassage „Jugend“ zwischen Kindheit und Erwachsensein heute wesentlich problembelasteter ist und zunehmend mit jugendfremden Zumutungen überfrachtet wird als in den letzten Jahrzehnten. Sollte die Jugendzeit eigentlich aus gewichtigen pädagogischen und entwicklungspsychologischen Gründen eine relativ unbeschwerte Phase der Selbstfindung und der ersten Schritte in das Erwachsenendasein sein, werden die Jugendlichen heute zum einen immer früher mit verschiedensten Leistungsanforderungen belastet, zum anderen von einer boomenden Freizeitindustrie immer früher in eine virtuelle Erwachsenenwelt versetzt, die sie letztlich überfordert. Freiwilliges Engagement ist zum einen eine Möglichkeit, dass Jugendliche relativ entspannte soziale Räume erleben können, zum anderen, dass sie in die Wirklichkeit zurückfinden, im Sinne des Zugangs zur sozialen Interaktion, des handfesten Verhältnisses zur Natur, zum Handwerk, zum Material und Stoff usw.

Freiwilliges Engagement in der Zivilgesellschaft ist nicht nur eine große öffentliche Leistung vieler Menschen, sondern auch eine Möglichkeit, über den privaten Bereich hinaus wichtige soziale und emotionale Kompetenzen zu erwerben. Das ist besonders für die Charakterbildung und Gesellschaftsfähigkeit junger Leute wichtig. Der Freiwilligensurvey konnte zeigen, dass sich viele junge Menschen in die Zivilgesellschaft einbringen und auch besonders häufig den Eindruck haben, dabei wichtige Dinge zu lernen. Allerdings sind ihre verbindlichen Beiträge (längerfristige Übernahme von Aufgaben und Ämtern) in den letzten 10 Jahren von einem überdurchschnittlichen Niveau auf ein nur noch durchschnittliches Niveau abgesunken. Das liegt jedoch nicht daran, dass sich das Image des Engagements bei ihnen verschlechtert hätte: Junge Leute sind nach wie vor für die Zivilgesellschaft ganz besonders aufgeschlossen und besonders häufig zum Engagement bereit (vgl. Abb. 6). Allerdings führen die zunehmende Forderung nach regionaler Mobilität und der dadurch bedingte Zeitstress, ausgelöst durch steigende Inanspruchnahme durch Bildung, Ausbildung und Berufseinmündung, zu einer Konkurrenz mit einem verbindlichen freiwilligen Engagement.

Abb. 6
figure 6

Freiwilliges Engagement und Bereitschaft zum freiwilligen Engagement, nur Jugendliche im Alter von 14 bis 24 Jahren (Angaben in %). (Quelle: Freiwilligensurveys 1999, 2004 und 2009)

Wie lässt sich heute das enger werdende Zeitbudget der Jugendlichen besser mit freiwilligem Engagement in Einklang bringen? – Der Ausbau der Ganztagsschulen ist an sich eine gute Sache. Wenn diese jedoch nur pädagogisch anspruchslose Aufbewahranstalten sind und sich nicht zu sozialen und kreativen Orten für Kinder und Jugendliche entwickeln, ist nicht viel gewonnen: Im schlimmsten Fall wird sogar dem (zumindest für Westdeutschland) typischen freiwilligen Engagement von Kindern und Jugendlichen am Nachmittag der Boden entzogen. Integration von Engagement in die Schulen; besonders im G8, aber auch an den Hochschulen das Abspecken von verschulten und mit Fachwissen überladenen Lehrprogrammen; mehr Praxisbezug, auch zu zivilgesellschaftlichen Organisationen, sozialen Einrichtungen und zur Engagementwirklichkeit, das alles sind Maßnahmen zur Stabilisierung des jugendlichen Engagements. Die Koalitionsvereinbarung der CDU-/CSU-/FDP-Bundesregierung weist mit Recht darauf hin, dass der Zugang zum Engagement unabhängig von der Schichtzugehörigkeit sein sollte. Das setzt an einem wichtigen Punkt an, denn diese Abhängigkeit ist gerade bei Jugendlichen in den letzten 10 Jahren deutlich gestiegen, wie der Freiwilligensurvey und die Shell Jugendstudien zeigen.

5 Steigerung des Engagements bei älteren Menschen und Familien

Der auffälligste und interessanteste Trend des Freiwilligensurveys ist der Anstieg des freiwilligen Engagements älterer Menschen. Engagierten sich unter den über 65-Jährigen 1999 erst 23 %, so waren es 2009 bereits 28 %. Dabei ist das Engagement der jüngeren Senioren und Seniorinnen (im Alter von 60 bis 69 Jahren) besonders ausgeprägt (37 %) und liegt inzwischen sogar leicht über dem Gesamtdurchschnitt (vgl. Abb. 7). Die Grenze, bis zu der sich ältere Menschen noch recht aktiv in die Zivilgesellschaft einbringen, hat sich (im Durchschnitt) bis zum Alter von etwa 75 Jahren hinausgeschoben; zunehmend wird auch diese Grenze überschritten. Die Senioren haben damit zusammen mit den Familien den negativen Einfluss des demografischen Wandels auf die Zivilgesellschaft (Alterung der Bevölkerung, weniger Jüngere – weniger Nachwuchs) sogar zum größeren Teil ausgeglichen. Dieser rein quantitative Effekt darf allerdings nicht über Nachwuchsprobleme in bestimmten Bereichen hinwegtäuschen, worauf wir bereits bei den Jugendlichen hingewiesen haben.

Abb. 7
figure 7

Freiwillig Engagierte nach 7 Altergruppen (1999, 2004, 2009). Bevölkerung ab 14 Jahren (Angaben in %). (Quelle: Freiwilligensurveys 1999, 2004 und 2009)

Das Engagement der Älteren wird durch deren zunehmende körperliche und geistige Fitness begünstigt, andererseits wirkt es sich wiederum positiv und aktivierend auf ihr Wohlbefinden aus. Engagement bedeutet Aktivität, Herausforderung der körperlichen und geistigen Kräfte sowie soziale Integration, aber nicht nur das Engagement, sondern auch die öffentliche Beteiligung im weiteren Sinne. Gerade bei älteren Menschen muss herausgehoben werden, wie wichtig für ihre soziale Integration allein ihre öffentliche Beteiligung ist, auch ohne dass sie bestimmte freiwillige Tätigkeiten übernehmen. Wenn heute nur noch 34 % der Menschen im Alter von über 65 Jahren gar nicht in die organisierte Zivilgesellschaft eingebunden sind, dann ist das angesichts der ursprünglichen 48% aus dem Jahre 1999 ein gewaltiger Schub der öffentlichen Aktivierung. Thematisch bringen sich ältere Menschen zunehmend in den sozialen, gesundheitlichen und kirchlichen Bereich ein. Nicht zu vergessen ist allerdings ihre ebenfalls zunehmende Präsenz in den Bereichen Umwelt- und Tierschutz, Politik und bürgerschaftliches Engagement am Wohnort. Zwar kümmern sich die Älteren zunehmend um gesundheitlich geschwächte bzw. höher betagte ältere Menschen und hierin begegnet ihr zunehmendes Engagement einer Problemlage, die durch die Alterung der Bevölkerung und den medizinischen Fortschritt ausgelöst wird. Dennoch gilt es festzuhalten, dass sich das Engagement der Älteren zunehmend auch direkt auf die Mitgestaltung des Gemeinwesens richtet.

Man erkennt die Bedeutung der Familien für die Zivilgesellschaft indirekt auch an der besonders hohen und vor allem an der steigenden Engagementquote der Familienjahrgänge, insbesondere im Alter von 35 bis 44 Jahren (vgl. Abb. 8) Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Familienjahrgänge ihr wegen des demografischen Wandels rückläufiges quantitatives Gewicht in der Bevölkerung durch erhöhte Anstrengungen im freiwilligen Engagement ausgeglichen haben und damit zur Dynamik des Engagements insgesamt beigetragen haben. Familien sind einer der wichtigsten Träger der Zivilgesellschaft und ihre Bedeutung hat sich in den letzten zehn Jahren weiter erhöht. Daran erkennt man, dass Privatheit und Öffentlichkeit kein Gegensatz sein müssen und gerade im Rahmen der Zivilgesellschaft in engem Austausch stehen. Noch mehr haben die Senioren zum Wachstum des Engagements in der gesamten Dekade beigetragen, eine Leistung, die ganz besonders auf 65- und 74-Jährigen zurückgeht. Die zeitgeschichtliche Analyse zeigt, dass das vor allem diejenigen Jahrgänge sind, die durch den „Wertewandelsschub“ (Helmut Klages) zwischen der Mitte der 1960er- und 1970er-Jahre geprägt wurden.

Abb. 8
figure 8

Trendanalyse: Freiwillig Engagierte nach 13 Altersgruppen (1999/2009). Bevölkerung ab 14 Jahren (Angaben in %). (Quelle: Freiwilligensurveys 1999, 2004 und 2009)

Erwerbs- und Familienarbeit stehen „an sich“ nicht in zeitlicher Opposition zur Zivilgesellschaft, auch nicht zum verbindlichen freiwilligen Engagement. Im Gegenteil: Bei erwerbstätigen Eltern ist das freiwillige Engagement sogar besonders hoch. Ein Bindeglied, um die Trias von Erwerbsarbeit, Familienarbeit und freiwilligem Engagement zu sichern, ist die Einbindung in soziale Unterstützungsnetzwerke. Familie, Erwerbstätigkeit, freiwilliges Engagement und wechselseitige informelle Unterstützung stehen in einem engen Verhältnis. Diese weithin praktizierte Selbsthilfe der Familien profitiert vom Ausbau der öffentlichen Unterstützung; neben dieser Unterstützung sind heute allerdings ganz besonders die Arbeitgeber gefordert, familienförderliche Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Hier gibt es erheblichen Nachholbedarf, z. B. was das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen für beide Geschlechter betrifft sowie die Gewährung besserer Möglichkeiten für jüngere Männer, sich stärker um ihre Familie kümmern zu können. Wo private Gemeinschaften, Arbeitsmarkt, Staat und Öffentlichkeit keinen Gegensatz zum freiwilligen Engagement darstellen, sondern alle Bereiche sinnvoll ineinandergreifen, da pulsiert das Leben der Zivilgesellschaft in Deutschland, werden aus Bürgern Mit-Bürger.