Zusammenfassung
Das Museum ist bis heute, auch wenn man es angesichts von Marketingzwängen, Werbelogos und Umsatz getriebenen Events nicht mehr so recht glauben will, eine alte Bildungseinrichtung. Ihre Ursprünge reichen zurück bis ins ausgehende Mittelalter. Damals drang die Bildungsidee in die Sammlungsgeschichte ein, und zwar über zwei unterscheidbare Wege: über die mittelalterliche Schatzkammer und über die mittelalterliche Gelehrtenstube. Aus beiden ging durch diesen Einfluss jener neue Typ von Privatsammlung hervor, in dem man den Ausgangspunkt der neuzeitlichen Museumsentwicklung sehen darf. Der Aufsatz zeichnet – nach einer kritischen Anmerkung zum Stand der Museumshistoriographie – die Hauptlinien dieser Entwicklung in einfachen Strichen nach.
Abstract
The museum remains, even today, an educational institution – although one might doubt this looking at the current marketing pressures, promotional events and pursuit for higher financial turnovers. The origins of the museum stretch back into the late Middle Ages. At that time, the philosophy of education made its way into the history of collecting via inconspicuous paths: via the medieval treasury and via the medieval scholarly room. From both emerged a new type of private collection, which can be seen as the starting point of the development of modern museums. This contribution outlines – following a critical commentary on the current status of museum historiography – the main trajectories of this development.
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Anmerkungen zur Museumshistoriographie
Charakteristisch für das Museum, jedenfalls für seinen klassischen Typ, ist das komplexe Verhältnis zur Geschichte. Museen haben es mit der Geschichte gleich in einem dreifachen Sinne zu tun: Sie stellen Geschichte aus, sie stellen Geschichte in einer geschichtlichen Weise aus und sie machen Geschichte. Sie stellen Geschichte aus, indem sie die vorhandenen historischen Überreste, die tradierten Sachquellen jeder Art so arrangieren, dass für das zeitgenössische Bewusstsein ein mehr oder weniger vollständiges Bild der Vergangenheit entsteht; sie stellen Geschichte geschichtlich aus, indem sie in ihren wechselnden Inszenierungen den Bedeutungswandel der gesammelten Dinge genauso berücksichtigen wie die sich wandelnden Interessen der jeweiligen Gegenwart daran; und sie machen Geschichte, indem sie als Bildungsstätten nicht nur die kollektiven Einstellungen gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft des Gemeinwesens beeinflussen, sei es in Form eines bürgerlichen Nationalbewusstseins, eines sozialistischen Klassenstandpunktes oder eines demokratischen Selbstverständnisses, sondern auch die realen Verhaltensformen.Footnote 1
Das ergibt insgesamt eine verwickelte Konstellation und stellt hohe methodische und stilistische Anforderungen an die Historiographie des Museums. Sie müsste aufdecken, wie das Museum durch die kulturellen Artefakte, die es enthält, und durch die Art ihrer Präsentation mit tausend Fäden an die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse gebunden ist, sie reflektiert und beeinflusst. Sie müsste die jeweiligen musealen Erinnerungsbilder der vergangenen Gegenwarten als Stationen eines kulturellen Gedächtnisses sichtbar machen, das als geschichtsmächtiges Instrument die vergangenen Zukünfte mitbestimmte und auch unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Hoffnungen und Erwartungen noch beeinflusst. Die bisherige Museumsgeschichtsschreibung ist mit ihren Spezialuntersuchungen zu Sammlerpersönlichkeiten, Sammlungstypen, Museumsgründungen, ihren einzelnen und zeitlich begrenzten Sammlungs- und Ausstellungsgeschichten, Objektbiographien und Provenienznachweisen diesen Herausforderungen, wie mir scheint, bislang nicht gerecht geworden. Die Studien mögen methodisch anspruchsvoll, aufschlussreich und gelegentlich auch spannend sein, doch sie lassen sich in ihrer Vereinzelung und selektiven Ausrichtung in der Regel nur äußerlich zu einem Gesamtbild addieren. Eine zusammenhängende Darstellung der neuzeitlichen Entwicklungslogik von musealen Vergangenheitskonstruktionen ist bislang nur Desiderat geblieben. Um dieses Desiderat einzulösen, wäre eine strukturale Geschichtsschreibung des Museums nötig. Sie hätte nicht nur die Sozial- oder Kulturgeschichte der Sammler und ihrer Sammlungen, der Institutionen und der Exponate, der Inszenierungen und Baukörper, des Publikums und des Personals zu schildern, sondern auch das latente System der Entscheidungen, das den komplementären Operationen von Zerlegung und Arrangement, von Auswahl und Kombination der Sammlungsstücke zugrunde liegt und den Zusammenhang der kulturellen Erinnerung garantiert. An die Stelle eines mehr oder weniger additiven Nach- und Nebeneinander von Aspekten müsste die Beschreibung einer generativen Struktur treten, die verständlich werden lässt, warum die jeweiligen Gegenwarten der Vergangenheit ihr kulturelles Gedächtnis so und nicht anders konstruiert haben. Erst dann würde in der Zusammenschau aller kulturellen Reihen auch das sichtbar, was man den Strukturwandel in der kulturellen Erinnerungskonstruktion, oder speziell, den Strukturwandel des Museums nennen könnte.
Eine strukturale Kulturgeschichte des neuzeitlichen Museums von diesem Zuschnitt dürfte dann auf systematisch überzeugende Weise bestätigen, was historische Detailstudien bis jetzt nur vermuten lassen: Das Museum ist eine Zentralinstitution der Moderne. Es ist als Bildungsstätte – genauso oder mehr noch als die Schule – konstitutiv für den Zusammenhang einer Gesellschaft, die in ihrer entfesselten Dynamik ununterbrochen ihre eigenen Traditionen vernichtet und dabei ständig in die Gefahr gerät, den Kontakt zu ihrer Vergangenheit und damit zu sich selbst zu verlieren. Eine kulturhistorisch umfassende Darstellung müsste die unverzichtbare Rolle des Museums in dieser permanenten Gefährdungslage, in dieser „ewigen Unsicherheit und Bewegung“ (Marx) sichtbar machen.
Doch leider gibt es eine solche Kulturgeschichte des Museums in einer materialhaltigen Form nicht.Footnote 2 Für ihre Verwirklichung sind Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs wahrscheinlich noch nicht ausreichend. Man bräuchte jemanden von der Genialität eines Michel Foucault, oder besser noch: eines Lévi-Strauss. Nur, der scheint nicht in Sicht zu sein. Bis er auftaucht, müssen wir die Differenz, die zwischen dem für die Zukunft Wünschenswerten und dem hier und jetzt Möglichen besteht, aushalten und vorausgreifend schon einmal die Frage nach dem möglichen Anfang diskutieren.
Der gespaltene Anfang der musealen Bildungsgeschichte
Die historische Bildungsforschung wird den Anfang vernünftigerweise wohl dort setzen, wo die Bildungsidee zum ersten Mal in die Sammlungsgeschichte einbricht und sich mit ihr dauerhaft verbindet. Das ist der Fall in den Jahrhunderten des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit.
Die christliche Kultur des Mittelalters selbst war noch nicht in der Lage, oder besser: nicht bereit, Sammlungen als Bildungsstätten zu verstehen. Das Mittelalter kannte keine Museen. Den Grund dafür wird man in zwei charakteristischen Merkmalen der mittelalterlichen Vorstellungswelt und Denkweise suchen müssen: der religiös fundierten Weltabgewandtheit und dem religiös fundierten Objektivismus. Aus der Sicht der mittelalterlichen Theologie und Philosophie war das Sammeln von irdischen Dingen, das nicht dem Kult, der Herrschaftssicherung und Daseinsvorsorge diente, keine sinnvolle Aufgabe. Sie hätte ein Interesse an den empirischen Erscheinungen selbst vorausgesetzt. Den Scholastikern aber ging es primär nicht um die empirisch wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände, nicht um ihre sinnlichen Qualitäten, ihre Form und Farbe, nicht um die Erkenntnis ihrer Akzidentien und empirischen Zusammenhänge, auch nicht um ihre historische Herkunft und soziale Funktion, sondern um die Erkenntnis ihres Wesens. Das Wesen der Dinge aber war unsichtbar. Es konnte durch Vernunft erschlossen, aber nicht gesammelt werden. Religiöse Strömungen wie die Mystik radikalisierten diese Auffassung noch. Sie predigten die völlige Loslösung vom irdischen Dasein und untergruben damit jegliches, von praktischen Zwecken freies Interesse an einer weltlichen Sachkultur. Nach der vorherrschenden Auffassung dieser Epoche wäre es vergebens, wenn nicht sogar sündhaft gewesen, die Zeit, die einem auf Erden gegeben war, aus bloßer Neugier mit der Sammlung von profanen Dingen zu verschwenden.
Außerdem ignorierte oder leugnete das mittelalterliche Denken die konstitutive Rolle des Subjekts bei der Erkenntnis der Welt. Keiner von den Maß gebenden Theoretikern wäre damals auf die Idee gekommen, seiner eigenen Perspektive bei der Erkenntnis der Dinge irgendeine konstituierende Rolle zuzugestehen. Das Objekt der Erkenntnis bezog die Besonderheit seiner Gestalt allein aus der objektiven Ordnung, in die es von Gott gestellt war. Für diesen Objektivismus konnte eine Tätigkeit, die die Gegenstände der Welt nach selbstgesetzten Kriterien sammelte und neu ordnete, nur eine Parodie der göttlichen Schöpfung sein. Anders gesagt, sie kam nicht in Frage. Die vorgefundene Ordnung der Dinge, die dem göttlichen Willen entsprach, sollte bewahrt und nicht, wie beim Sammeln, durch Zerlegung und Arrangement zerstört werden.
Erst der Bruch mit diesem Denken bringt den Wendepunkt zur Vorgeschichte des modernen Museums. Sie beginnt genau an der Stelle oder in dem Augenblick, in dem die Gegenstände um ihrer selbst willen, in ihrer kulturellen und natürlichen Besonderheit geschätzt und unter Anerkennung der eigenen Wahrnehmungsperspektive nach persönlichen Kriterien gesammelt, also ausgewählt und neu geordnet werden können. Im Kern ist das gleichbedeutend mit dem Einzug der Bildungsidee in die Sammlungsgeschichte. Denn die Bildung beginnt, wie wir seit Hegel wissen, mit der Aufmerksamkeit für die Welt.
Historisch korrespondiert dieser Neuanfang mit den sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die im Herbst des Mittelalters den Frühling der Neuzeit vorbereiteten. In den aufkommenden Handelsstätten, aber auch z. T. an den adligen Höfen, entstand damals eine geistige Disposition, die sich von den scholastischen Begriffsspaltereien abwandte und bereit war, sich den Dingen und der Welt zu öffnen. Auf einmal stieg die Neugierde, die curiositas, die lange Zeit als schwere Sünde galt, zu einer Tugend auf (klassisch dazu: Blumenberg 1988). Die Menschen fingen an, sich für die heidnische Antike zu interessieren. Sie stießen voll abenteuerlicher Entdeckerlust vor in geografisch bis dahin unbekannte Räume und eröffneten Handelbeziehungen in alle Welt. Die Globalisierung hatte begonnen und mit ihr gelangte ein Strom neuer, bisher nie gekannter Dinge, von der simplen Kokosnuss bis zum raffiniertesten Kunstprodukt, vom aztekischen Halsring aus Gold bis zum indianischen Federschmuck, von der Bilderhandschrift bis zum Edelsteinmosaik nach Europa und wurde als Wunder zur Kenntnis genommen und bestaunt. Was an den neuen Gegenständen faszinierte, war nicht ihr Wesen, sondern ihre Erscheinungsform. Die Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die äußere Gestalt, auf die Farben, das Material, die Verarbeitung und auf die Herkunft.
Einen besonders nachhaltigen Eindruck müssen in diesem Zusammenhang, wie Scheicher (1979, S. 27 f.) vermutet, jene Stücke gemacht haben, die Cortez zu Ostern 1519 von den Beamten des Montezuma zum Geschenk erhalten hatte und an König Karl von Spanien schickte. Die Sendung enthielt 158 Posten, Scheiben und Hüte aus Gold und Silber, Fächer, Schilde und Mäntel aus Federn und eine Unzahl anderer Gegenstände. Darunter waren als lebende Mirabilien auch vier indianische Gefangene, die Cortez vor dem Opfertod gerettet hatte. Diese Geschenke des Montezuma stellte Karl V. während seiner Hofhaltung in Brüssel zur Schau, wo sie Albrecht Dürer am 27. August 1520 sehen konnte. Er berichtet im Tagebuch seiner niederländischen Reise: „Und ich hab all mein Lebtag nichts gesehen, das mein Herz also erfreuet hat als diese Ding“ (Dürer, zit. n. Scheicher 1979, S. 28).
Die Beutestücke füllten als Mirabilia und Exotica die neuen europäischen Privatsammlungen insbesondere jener Fürsten, deren politische Interessen und Einfluss-sphären über den alten Kontinent hinausreichten und die sich daher auf direktem Weg mit dem Kuriosesten und Kostbarsten versorgen konnten. Dies waren in erster Linie die Habsburger in ihrer Eigenschaft als Könige von Spanien, von dem aus im 16. Jh. ganz Mexiko und Südamerika mit Ausnahme von Brasilien erobert wurde. Aber auch reiche Bürger und Gelehrte konnten in den Besitz der neuen Stücke gelangen (vgl. Scheicher 1979, S. 26). Sie mussten nur dafür bezahlen. Der Zufluss an kulturellen Artefakten aus fremden Regionen der Welt war so immens, dass noch heute manche Völker bei der Rekonstruktion ihrer eigenen Geschichte auf die Sachzeugen angewiesen sind, die in europäischen Sammlungen überlebt haben.Footnote 3
Genau lässt sich allerdings der historische Augenblick, in dem der Bildungsgedanke in die Sammlungsgeschichte einbricht, weder lokalisieren noch datieren. Denn schon der Anfang ist gespalten. Die Geschichte des modernen Museums hat zwei voneinander unabhängige Quellen: die mittelalterlichen Schatzsammlungen und die mittelalterlichen Gelehrtenstuben. Von den ersten führt der Weg über verschiedene Stationen zu den großen und geheimnisvollen Kunst- und Wunderkammern der Barockzeit. Von den zweiten über die fürstlichen studioli der Renaissance zu den bürgerlichen Naturalien- und Raritätenkabinetten des 16. und 17. Jahrhunderts.
Von der Schatzkammer zur Privatsammlung
Im Mittelalter gab es Schatzsammlungen in den beiden Versionen, in denen sie auch schon in der Antike anzutreffen waren: in der sakralen und in der weltlichen Version. Sie unterschieden sich sowohl im Umfang und der Art der Bestände. Doch man sollte die Unterschiede nicht übertreiben. Schließlich waren die Herren der Kirche meist auch mächtige Fürsten und verfolgten die gleichen Interessen wie ihre weltlichen Kollegen. Schon dieser Sachverhalt macht eine Konvergenz beider Sammlungstypen wahrscheinlich. Als dann auch noch die gleichen, von den Kreuzzügen mitgebrachten Gegenstände in beide Sammlungsvarianten gespült wurden, war ein Unterschied kaum mehr auszumachen. Reliquien mischten sich mit Machtinsignien, wertvolle Trinkbecher mit goldenen Kelchen, Zeugnisse frommer Devotion mit luxuriösen Gebrauchsartikeln und antike Gemmen mit orientalischen Stoffen.
Die erkennbare äußerliche Ähnlichkeit legt den Schluss nahe, dass es sich bei allen mittelalterlichen Schatzkammern und z. T. auch bei den antiken Vorläufern, unbeschadet ihrer sakralen oder weltlichen Herkunft, um einen einzigen einheitlichen Sammlungstypus handelt. Er ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: erstens durch seinen unpersönlichen Charakter. Die Schatzkammern waren nicht an eine Person, sondern an eine Institution gebunden. Sie gehörten nicht dem Bischof, sondern dem Domkapitel, nicht dem Abt, sondern der Abtei oder dem Orden, nicht dem König, sondern seinem Amt. Zweitens durch die weit gehende Reduktion der Sammlungsbedeutung auf ihren reinen Material- bzw. Tauschwert. Für die Bewertung des Schatzes spielte die Herkunft, das Alter, die Schönheit, die Form oder die Verarbeitung der Dinge keine besondere Rolle. Es herrschte eine ziemlich materialistische Einstellung. Bis 1358 wurde z. B. in den päpstlichen Inventaren fast ausschließlich das Gesamtgewicht der Schätze, getrennt nach Gold und Silber, festgehalten. Nur wenige unveräußerliche und symbolisch aufgeladenen Machtinsignien und Kultgegenstände wie etwa die Tiara wurden nicht ausgewogen (vgl. Minges 1998, S. 17).
Aus diesen beiden Merkmalen erklärt sich auch die Hauptfunktion der Schatzkammern. Sie waren eine für die Bestanderhaltung der Institution, aus Staatsräson gewissermaßen notwendige, Finanzrücklage. Die Schatzkammern dienten als ökonomische Liquidationsreserven, auf die man zurückgreifen konnte, wenn es geboten schien: wenn ein Krieg finanziert, ein Rivale bestochen oder abgefunden, eine Kirche gebaut oder die Hochzeit des Prinzen bzw. der Prinzessin durchgeführt werden musste. Immer wieder werden in den Inventaren Verkäufe erwähnt, die zur Deckung dieser oder jener Ausgabe getätigt wurden.Footnote 4
Zu Vorläufern des Museums wurden diese Schatzkammern erst durch ihre Transformation in den neuen Typ der Privatsammlung. An die Stelle der institutionsgebundenen Schatzkammer trat nun die personengebundene, fast intime Privatsammlung und an die Stelle des Materialwertes einer Sammlung trat die Aufmerksamkeit für die künstlerische, die kunsthandwerkliche und auch die historische Bedeutung ihrer Objekte. Anfänglich ist dieser Typ der Privatsammlung noch höchst unbeständig. Selten überlebt eine derartige Sammlung ihren Initiator. Nur in den höheren und wohlhabenderen Kreisen des Patriarchats und des Adels gelingt es gelegentlich, dank familiärer, dynastischer Strukturen, Sammlungen der neuen Art von Generation zu Generation über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg weiterzureichen. Meistens jedoch werden die Sammlungen nach dem Tod ihrer Gründer aufgelöst. Als Faustregel gilt, dass im Gegensatz zu den kirchlichen oder fürstlichen Schatzkammern die Privatsammlung das Werk eines entschlossenen Einzelnen ist, der ihr seinen Stempel aufdrückt und mit dessen Hinscheiden sie verschwindet.
Der neue, von persönlichen Vorlieben geprägte, bildungsinteressierte Sammlungstyp wird historisch im 14. Jahrhundert zum ersten Mal greifbar, bei einigen Angehörigen des französischen Herrschergeschlechts der Valois etwa, bei Karl V. (1338–1380) und vor allem beiseinem jüngeren Bruder, dem Duc de Berry (1340 bis 1416). Christine de Pisan, die zeitgenössische Biographin Karls V., die ihn „den Weisen“ nannte, schwärmte von der Sammlung ihres Protagonisten und lobte die Ordnung, die ihr innewohnte (de Pisan 1405/1936). Worin die Ordnung allerdings bestand, darüber gibt sie keine Auskunft. Die kann man bei Klaus Minges (1998) bekommen. In seiner lesenswerten Dissertation „Das Sammlungswesen der Frühen Neuzeit“ glaubt er in dem Inventar des königlichen Besitzes eine rudimentäre Gliederung nach Sachgruppen erkennen zu können, die folgende Bereiche aufweist: 1. Gemmen und Halbedelsteine; 2. Prunkgefäße, Schatullen und Damaszenerware; 3. Schreibpulte und Zubehör; 4. astronomische und logische Geräte; 5. profane Statuetten; 6. Duftstoffe und Gegengifte; 7. Bücher (vgl. Minges 1998, S. 19).
Die Gliederung wirkt nicht sehr systematisch und auch nicht sehr erhellend, doch sie belegt, wenn sie denn in dieser Form wirklich der Sammlung Karls V. zugrunde gelegen haben sollte, ein Interesse an den Objekten, das über die summarische Wertbestimmung, die wir aus den Inventaren der Schatzkammern kennen, hinausgeht. Durch die Gliederung nach Sachgruppen wird der Materialwert als zentrales Kriterium der Taxierung herabgestuft und im Prinzip die Aufnahme auch materiell wertloser Dinge in die Sammlung möglich gemacht. Dass mit dieser Aufmerksamkeit für Gegenstände, die keinen hohen Wiederverkaufswert haben müssen, aber dennoch die Neugierde fesseln, ein Bildungsmotiv verbunden sein dürfte, bestärkt das Kapitel in den Aufzeichnungen von Christin de Pisan, das über den Tagesablauf des Königs berichtet. Danach hat sich der König nach den Empfängen und vor der Vesper regelmäßig zu einer schöpferischen Pause zurückgezogen, in der er zuerst ein Nickerchen hielt und sich dann mit wenigen Vertrauten den Dingen seiner Sammlung zuwandte. Die ebenso gesellige wie kontemplative Betrachtung diente, nach einer Bemerkung der Biografin, der Erholung und der „recreucion“. Das waren ihre Worte (vgl. Liebenwein 1977, S. 42). Doch was hindert uns daran, in diesem Moment der Muße eine besonders angenehme Form der Bildung zu vermuten?
Was bei Karl V. noch auf kurze Mußestunden neben oder zwischen den Amtsgeschäften beschränkt war, wird bei dem Duc de Berry zur Vollzeitbeschäftigung. Als Herzog kaum gefordert, ist er nur noch Sammler mit einer ausgeprägten Aufmerksamkeit für die besondere Form der Objekte und einem sensiblen Gespür für ihre Schönheit. Mit Recht wird Berry als ein Sammler und Kunstliebhaber par excellence gesehen, der seiner Zeit weit voraus war und die Schwelle von der mittelalterlichen Schatzkammer zur neuzeitlichen Privatsammlung hinter sich gelassen hat. Das Ziel seiner Sammeltätigkeit war offenbar frei von jedem ökonomischen Motiv. Es ging ihm nicht, wie noch vielen seiner Vorfahren, um den Aufbau einer Finanzrücklage. Der Duc de Berry war ein Sammler aus Leidenschaft, vielleicht sogar ein Fanatiker, der seiner Passion zuliebe gelegentlich auch mal das Krumme gerade sein ließ. So entlieh er, wie Schlosser (1908, S. 26) berichtet, bisweilen Bücher, die er kopieren ließ, und dann „vergaß“ zurückzugeben. Die Sammelleidenschaft hatte von diesem Mann wirklich Besitz ergriffen. Der Tauschwert der Dinge, also ihr Geldwert, interessierte ihn sowenig wie ihr Gebrauchswert. Was ihn beim Sammeln leitete, war neben der Freude an der Kunst, das Interesse, wie Schlosser formulierte, am „lehrhaften und seltsamen Inhalt“ und eine „gewisse historische Anteilnahme“ (Schlosser 1908, S. 25), also ein eindeutiges Bildungsmotiv.
Glücklicherweise ist, wie im Falle der Sammlung von Karl V., auch hier ein Bestandsverzeichnis überliefert, das von dem Sammlungsleiter Robinet d’Estampes erstellt wurde. Es ist nach Sachgruppen gegliedert und enthält neben präzisen Objektbeschreibungen eine Fülle erstaunlicher Detailinformationen über Entstehungsort, Anschaffungsart, Vorbesitzer und Erwerbsdatum usw. (vgl. Schlosser 1908, S. 25; Minges 1998, S. 20). Fast ist man versucht, von einer modernen Inventarisierungsmethode zu sprechen. Es fehlen nur die Namen der ausführenden Künstler. Insgesamt jedoch ist das Inventar ein Meilenstein auf dem Weg in die neuzeitliche Sammlungspraxis.
Die Sammlung des Duc de Berry war neben der von Karl V. lange Zeit die einzige frühe Privatsammlung im Norden, die wegen der überlieferten Inventarlisten etwas genauer erforscht werden konnte. Inzwischen hat sich die Forschungssituation gebessert und auch andere Personen sind durch die Erschließung neuer Quellen aus ihrem historischen Schattendasein hervorgetreten und werden jetzt als Sammler, Mäzene und Auftraggeber wahrgenommen. Eine der bedeutendsten dieser frühneuzeitlichen Sammlerfiguren, der Dagmar Eichberger (vgl. 2002) zuletzt eine ausführliche Monographie gewidmet hat, ist eine Frau: Margarete von Österreich, die Regentin der Niederlande.
Den Grundstock ihrer Sammlung bildeten Erbstücke ihrer Mutter Maria von Burgund und Ausstattungsstücke, die ihr von den königlichen Schwiegereltern aus der zweiten Ehe mit dem spanischen Thronfolger Juan auf dem Rückweg nach Flandern mitgegeben worden waren. Dazu kam noch ein sicher nicht unwesentlicher Teil aus dem Nachlass ihres Vaters, Kaiser Maximilians, der ihr als Tochter zustand, wenngleich sie Österreich, das Herkunftsland der Habsburger, das zu ihrem Beinamen wurde, nie betreten hatte und nur Französisch und Spanisch sprach. Der geerbte Anteil der Sammlung wurde dann ergänzt durch Geschenke wie z. B. die Juwelen und golddurchwirkten Stoffe, die sie noch kurz vor ihrem Tod von Papst Clemens VII. erhalten hatte, und durch eigene Erwerbungen in Form von Auftragsarbeiten und Ankäufen (vgl. Scheicher 1979, S. 62). Zu den spektakulärsten Sammlungsstücken gehörten damals sicher die frisch importierten Kultobjekte aus Mittelamerika. Unter den Letzteren befand sich ein Teil jener kostbaren Geschenke, die Montezuma dem spanischen Eroberer Hernan Cortez bei seiner Ankunft in Veracruz (1519) überbracht hatte (vgl. Eichberger 2002, S. 179).
Über den Umfang und die Entwicklung der mobilen Besitztümer der Regentin geben diverse Inventare Auskunft, die sie zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Sammeltätigkeit anfertigen ließ.Footnote 5 Sie dokumentieren in einer bis dahin nicht gewohnten Genauigkeit Art, Aufstellung und Herkunft der Sammlungsstücke und versäumen es dieses Mal auch nicht, die Namen der jeweiligen Künstler von Van Eyck über Hieronymus Bosch bis Hans Memling zu nennen. Daneben existieren weitere Quellen, die über die Rekonstruktion des Sammlungsbestandes und seiner Entwicklung hinaus auch noch einen Einblick gewähren in die kulturelle Praxis der feudalen Sammeltätigkeit und Auftragsvergabe: städtische Rechnungsbelege, höfische Zahlungsanweisungen, vertragliche Absprachen zwischen der Regentin und ihren Künstlern, schriftliche Abrechnungen für geleistete Arbeit, Empfangsbescheinigungen, Berichte von Besuchern am Hof oder Briefe, in denen über Kunstwerke gesprochen wird (vgl. Eichberger 2002, S. 10).
All diese Schriftquellen bilden eine einmalige Datenbasis und erlauben die fast vollständige Beschreibung dieser frühneuzeitlichen Sammlung und Sammlungspraxis. Sie bestätigen, dass die Sammlungsgeschichte endgültig in ein neues Stadium getreten ist. Sichtbarer noch als beim Duc de Berry wird am Hof von Savoyen, der Residenz der Margarete in Mechelen, der Übergang von der Schatzsammlung zur Privatsammlung vollzogen, von den angehäuften Wertgegenständen zur Ordnung von Dingen, die neben der unvermeidlichen Repräsentation vor allem der Bildung und Erbauung ihrer Besitzerin dienten. Der Übergang manifestiert sich in der räumlichen Trennung der Privatsammlung von der Schatzkammer, in den neuen und differenzierten historischen und ästhetischen Beschreibungs- und Bewertungskategorien, in der von der öffentlich-repräsentativen zur privat-erbaulichen Sphäre gestaffelten Zugänglichkeit, in der geordneten Erweiterung, um nicht zu sagen Universalisierung der Sammlungsfelder und in der Integration der Bibliothek, die mit 360 Büchern und Genealogien damals eine der größten Fürstenbibliotheken nördlich der Alpen gewesen sein dürfte und immer wieder Gäste angelockt hat. Dürer besuchte sie 1521Footnote 6 und von Erasmus weiß man, dass er 1519 hier den Codex Aureus studiert hat.
Von der Gelehrtenstube zum Studiolo
Von der Schatzkammer zur fürstlichen Privatsammlung verläuft die eine Wurzel der neuzeitlichen Museumsgeschichte, die andere verläuft von der mittelalterlichen Gelehrtenstube, dem klösterlichen scriptorium, zum studioloFootnote 7 der Renaissance und den bürgerlichen Kabinetten des 16. Jahrhunderts.Footnote 8 So wie die kirchliche und fürstliche Anhäufung von Schätzen zunächst noch völlig frei war von jedem Bildungsmotiv, so war umgekehrt die mittelalterliche Gelehrtenstube zunächst noch völlig frei von jedwedem Sammlungsgegenstand. Die Gelehrtenstube war im Grunde eine Bet- und Schreibstube. Sie diente der Übersetzung, der Abschrift und dem Studium der heiligen Texte und erfüllte das private Bedürfnis nach einer Zwiesprache mit Gott. Für diese Zwecke reichte die einfachste Ausstattung. Die klösterliche Gelehrtenstube, der Prototyp sozusagen, war mit wenig mehr als einem Lesepult und einem Buchregal bestückt. Für das Selbstverständnis der mittelalterlichen Gesellschaft war dieser spartanisch möblierte Raum so wichtig, dass er mit einem eigenen Bildmotiv gewürdigt wurde: mit dem Motiv von Hieronymus im Gehäuse.Footnote 9
Im Spätmittelalter erfuhr dieses Bildmotiv nicht nur eine lang anhaltende Konjunktur – die Intellektuellen der Renaissance diesseits wie auch jenseits der Alpen hatten den Kirchenvater offenbar zu ihrem spiritus rector erkorenFootnote 10 –, es veränderte sich auch auf eine charakteristische Weise. Im Laufe des 15. Jahrhunderts häufen sich die Bilder von Hieronymus im Gehäuse, die eindeutig den Einzug von Realien, von Fundstücken und Instrumenten in die alte Gelehrtenstube dokumentieren. Teils handelt es sich bei diesen Realien um römische Überreste, die gerade ausgegraben worden waren, meist Münzen und Inschriftensteine, teils um astronomische Instrumente und Navigationsgeräte, teils aber auch um kleinformatige naturalia und Skulpturen. Durch die Aufnahme solcher Dinge verwandelt sich das klösterliche Oratorium, der traditionelle Ort der Meditation und Lektüre, schon im Verlauf des 15. Jahrhunderts in einen Ort der Sammlung und empirischen Forschung. Die schönsten Bildbelege dafür stammen wohl von Van Eyck, von Botticelli, von Ghirlandaio und von Carpaccio.
In Van Eycks herrlicher Version des Motivs von 1441 (vgl. Abb. 1) enthält die Gelehrtenstube des Hl. Hieronymus schon alle typischen Requisiten eines frühneuzeitlichen Labors. Neben der Paternosterschnur, den Büchern und dem Lesegestell, das allerdings immer noch im Zentrum steht, sind Sanduhr, Gefäße und Astrolabium minutiös wiedergegeben. Van Eycks Hieronymus, der im Palazzo der Medici hing, wurde zum unmittelbaren Vorbild für die Version des Themas von Ghirlandaio aus dem Jahre 1480 (vgl. Abb. 2).
Zwar dominieren auch hier die Lesewerkzeuge und Schreibutensilien, aber die Zahl der Kleinobjekte hat sich schon beträchtlich vermehrt. Auf dem vollgepackten Regal über ihm jedenfalls ist kaum noch Platz für seinen Bischofshut. Hieronymus, der Schriftgelehrte, ist dabei, ein Sammler zu werden. Das gilt wohl auch zumindest latent für den Hl. Augustinus auf dem Fresko von Botticelli (vgl. Abb. 3), das im selben Jahr wie das von Ghirlandaio entstanden ist und ebenso auf Van Eycks Bild als Vorlage zurückgreift.
Augustinus hat im Schreiben innegehalten und blickt nun nach oben zu einem nicht sichtbaren Fenster, durch das hindurch ihn die Strahlen der Erleuchtung treffen. Er wird offenbar gerade inspiriert. Doch diese Haltung wirkt wie eine Konzession an die traditionelle Heiligenikonographie, irgendwie äußerlich und aufgesetzt. Die Utensilien in seiner Gelehrtenkammer erzählen eine ganz andere Geschichte, keine sakrale, sondern eine durch und durch weltliche. Kultgegenstände, Kreuze oder Kelche etwa, sind nirgends zu sehen. Dafür hat Botticelli auf dem Wandbild die Geräte der wissenschaftlichen Welterkundung umso sorgfältiger wiedergegeben. Die Armillarsphäre oben links und das Räderwerk der Uhr oben rechts sind bis ins Detail durchgebildet. Und ein aufgeschlagener Codex lässt, wie in einem mathematischen Lehrbuch, verschiedene geometrische Figuren erkennen. Bei diesem Raum handelt es sich nicht mehr um eine Gebetsstube. Dies ist ein Ort der weltlichen Wissenschaft. Die Instrumente und Materialien, die man dafür braucht, stehen offen auf der Brüstung herum oder sind in den Schubladen des Schreibpultes verstaut. Der Weg zu einer wissenschaftlichen Sammlung scheint hier schon eingeschlagen.
Endgültig und unübersehbar betreten ist dieser Weg dann auf dem Wandbild „Vision des Hl Augustinus“, das Carpaccio im Jahre 1502 für die Scuola di San Giorgio in Venedig gemalt hat (vgl. Abb. 4).
Das Gemälde dokumentiert wie kein anderes der Zeit den Übergang von der Mönchzelle zum persönlichen Sammlungsraum des frühneuzeitlichen Gelehrten. In der Mitte der Rückwand befindet sich noch eine große Altarnische mit allen wichtigen Kultgeräten. Doch gleich links daneben sieht man schon durch die geöffnete Tür in einen weltlichen Studierraum mit vergittertem Fenster. Hier steht ein Tisch mit einer wahrscheinlich drehbaren Lesevorrichtung und verstreuten Büchern darauf. Und von einem umlaufenden Wandbord hängen astronomische Instrumente herab. Ähnlich ausgestattet ist auch der Arbeitsplatz des Heiligen im Vordergrund rechts. Neben Büchern und Schreibzeug befinden sich dort unter anderem eine Sanduhr, ein Glöckchen und eine Armillarsphäre. Fast ist man versucht zu sagen: das Übliche. Doch Carpaccios Version des Themas unterscheidet sich von seinen Vorläufern nicht nur durch die Größe des dargestellten Raumes und durch die Menge der Objekte, die in ihm aufgestellt sind, sondern mehr noch durch die Qualität dieser Objekte. Zum ersten Mal sind in dieser Gelehrtenstube nicht nur Bücher und wissenschaftliche Instrumente, wie die unvermeidliche Armillarsphäre, zu sehen, sondern unter dem Bücherbrett auf der linken Längsseite des Raumes auch ein mannshohes Gesims, auf dem neben einigen Leuchtern, Flaschen und anderen Gefäßen auch die Bronzestatuette eines Pferdes und der „Venus felix“ stehen. Diese beiden Kunstobjekte sind neu im Rahmen des Motivs von Hieronymus oder auch Augustinus im Gehäuse und liefern weitere Hinweise dafür, dass die alte Gelehrtenstube dabei ist, sich in einen Sammlungsraum zu transfigurieren.
Natürlich ist diese beobachtbare Veränderung in der Ausgestaltung des Bildmotivs noch kein endgültiger Beweis für eine parallele Veränderung in der historischen Realität. Aber als möglichen Reflex darauf darf man den innerbildlichen Wandel durchaus verstehen. Und weil es sich bei den neu auftauchenden Requisiten, insbesondere im Falle der Armillarsphäre, der Räderuhr und der antiken Statuetten, um Gegenstände handelt, die auch außerhalb der Bilder eindeutig als Sammlungsstücke fungieren, darf man die innerbildlichen Veränderungen doch als eine starke Unterstützung für die These von der historischen Transformation der Gelehrtenstube in einen privaten Sammlungsraum betrachten.Footnote 11
Einen weiteren starken Hinweis für diese Transformation der mittelalterlichen Gelehrtenstube in einen Sammlungsraum liefert auch der simulierte Sammlungsraum, den der Herzog von Urbino Federico da Montefeltre (1422–1482) zwischen 1479 und 1482 im Herzogspalast von Gubbio, einer kleinen Stadt nördlich von Perugia errichten ließ. Vermutlich wurde er entworfen von Francesco di Giorgio Martini (1439–1501/2) und realisiert von Giuliano da Maiano (1432–1490). Dieser Raum hat mit 4 × 5 Metern die für einen fürstlichen Raum bescheidenen Maße einer Studierstube und enthält doch schon eine stattliche Sammlung von Objekten. Nur, diese Sammlung ist fiktiv. Sie existiert nur als Erscheinung, in Gestalt von feinsten Intarsienbildern auf einer hölzernen Wandverkleidung. Die Intarsien simulieren in einer perfekten perspektivischen Konstruktion den Blick in die offen stehenden Schrankregale.Footnote 12
In einem davon (vgl. Abb. 5) sieht man z. B. ein Senkblei und ein Winkelmaß von der Decke hängen, außerdem eine Sanduhr, eine Zither und einen Stechzirkel. Alle fünf Objekte verweisen auf Maße und Proportionen. Das Senkblei und das Winkelmaß ist ein Instrument der Bauleiter und Architekten. Der Stechzirkel wird verwendet, um Distanzen auf einem Bauplan zu messen oder die Größe eines Entwurfs zu bestimmen. Die Sanduhr, die schon im Mittelalter populär war, zeigt die Gleichartigkeit der Zeit an, und ist insofern ein modernes Instrument zur Synchronisation komplexer Arbeitsverläufe. Und die Zither ist eine Anspielung auf die Theorie der harmonischen Proportionen in der Musik, die im 15. Jahrhundert zusammen mit der Untersuchung der Linearperspektive und der architektonischen Proportionen – in Anknüpfung an die antike pythagoreische Lehre – noch als Ausdruck derselben mathematischen Wahrheit angesehen wurden.
Mit diesem und den anderen Intarsien bringt MontefeltroFootnote 13 zum Ausdruck, dass er seine Aufgaben als Förderer der Künste, als gerechter Regent und tapferer Heerführer kennt. Das Studiolo ist der persönliche Ort, in dem er sich dieser Rolle im Angesicht der Intarsien immer wieder vergewissert: ein Ort der Bildung, seiner Bildung. Deshalb ist die perspektivische Konstruktion exakt auf seinen Standpunkt in der Mitte des Raumes ausgerichtet (vgl. dazu Olmi 1985). Das Studiolo in Gubbio ist in diesem Sinne noch ein Ort der Meditation, oder anders gesagt: ein Ort der inneren Sammlung. Erst unter den Nachfolgern wird sich die illusionistische Wandarchitektur in eine reale Schrankverkleidung verändern, und die abgebildeten Gegenstände auch wirklich aufnehmen. Die Fiktion wird dann zur Realität.
In ihrer ursprünglichsten Gestalt bestanden die fürstlichen studioli meist aus einem kleinen fensterlosen Raum, dessen Lage innerhalb des Palastes nicht selten geheim blieb oder doch zumindest sehr schwer zugänglich war. Das unterstreicht ihren intimen Charakter. Sie dienten, wie Stephen Greenblatt (1980, S. 256) formulierte, zunächst ausschließlich dem „Self-fashioning“, der Selbstbildung nach innen, nicht der Repräsentation nach außen.Footnote 14
Im Laufe der Zeit hat sich dieser Urtyp des fürstlichen Studiolos dann verändert und im Hinblick auf die Zugänglichkeit, die Menge der Objekte und die Größe des Raumes eine Reihe von Varianten hervorgebracht. Das studiolo verlor dabei zunehmend seine intime Funktion und entwickelte sich schon im Laufe des Cinquecento immer mehr zum Sammlungsraum, der auch für ausgesuchte Dritte offen war. Ab 1500 etwa zwang der wachsende Platzbedarf der Kollektionen zur Erweiterung und Vermehrung der Räume. Von nun an näherte sich die äußere Erscheinungsform der studioli den Privatsammlungen an, die aus einer Transformation der mittelalterlichen Schatzkammern hervorgegangen waren. Zwischen den studioli der oberitalienischen Fürsten und den Kabinetten der Margarete von Österreich gab es bis auf die Entstehungsgeschichte keine so großen Unterschiede mehr.
Am deutlichsten lässt sich die Entwicklung am Hof von Mantua beobachten. Er zählte in jenen Jahren zu den großen kulturellen Zentren Norditaliens. Hier versammelten sich die bedeutendsten Maler, Dichter und Gelehrten der Zeit. Im Brennpunkt des Geschehens stand wieder eine Frau, die „prima donna dell mondo“, die Markgräfin Isabella d’Este (1474–1539). Sie empfing Kaiser und Könige und wurde von den Künstlern verehrt. Maximilian I. war mindestens zweimal ihr Gast. Ariost (1474–1533) widmete ihr den L’orlando furioso, Tizian malte sie und von Leonardo da Vinci gibt es eine Porträtzeichnung.
Schon unmittelbar nach der Hochzeit und ihrem Einzug in Mantua hat die sechzehnjährige Marchesa damit begonnen, im Innern des mittelalterlich strengen Castello di San Giorgio, dem Hauptwohnsitz der Familie Gonzaga, der Kunst und den Studien gewidmete Räume auszubauen. Den ersten nannte sie „studiolo“ und den zweiten, der später hinzugefügt wurde, „grotta“. Das studiolo ist wohl kurz vor 1500 fertiggestellt worden. Es war ein kleiner Raum mit etwa 5 × 3 Meter Grundfläche und knapp über 5 m Höhe. Er befand sich in unmittelbarer Nähe zu den privaten Wohngemächern. Die grotta war etwa gleich groß, nur niedriger und wurde 1505/07 ein Stockwerk unter dem kleinen studiolo eingerichtet und durch eine Treppe mit den Gemächern Isabellas verbunden (vgl. hierzu und zum Folgenden Liebenwein 1977, S. 108 f.).
Etwa 1519/20 hat Isabella aus unbekannten Gründen, wahrscheinlich Platzmangel, den Entschluss gefasst, ihre Wohnräume samt studiolo und grotta in die Corte Vecchia zu verlegen, jenen Teil der Reggia von Mantua der an die heutige Piazza della Lega Lombarda grenzt. Dort im neuen Wohnbereich Isabellas befanden sich studiolo und grotta dann im Erdgeschoss und waren Bestandteil einer großzügig angelegten Raumfolge. Das neue studiolo war größer als das alte und etwas niedriger (6,7 m x 3,5 m; 3 m Höhe). Es wurde beherrscht durch ein berühmtes Bildprogramm, das schon für das erste studiolo geschaffen wurde und das nun wieder über der Wandverkleidung angebracht war. Der Markgräfin lag dieses Bildprogramm wohl sehr am Herzen. Sie hat die Aufträge dafür an die Spitzenkünstler der Zeit vergeben und dabei viel Zeit und Geld, aber auch Nerven investiert, denn einige der Stars, wie etwa Leonardo da Vinci oder Giovanni Bellini, haben ihre Verträge nicht erfüllt. Am Ende aber kam unter Beteiligung von Mantegna, Perugino, Costa und Correggio ein vielbeachtetes und oft gedeutetesFootnote 15 Bildprogramm zustande.
Die neue grotta entsprach in ihren Abmessungen etwa dem studiolo und ist zu großen Teilen noch in ihrem ursprünglichen Zustand überliefert. Rings um die Wände zieht sich eine Holzverkleidung, darüber befinden sich quadratische Intarsienfelder mit den in diesem Genre üblichen Motiven: Musikinstrumente und Architekturveduten usw. Die Intarsienfelder dienten hier aber – anders als in Gubbio – wirklich als Schranktüren. Dahinter befand sich der größte Teil der Sammlungsobjekte, darunter vieles von dem, was damals zum Standard gehörte und auch in der Sammlung von Margarete von Österreich etwa zu finden war.Footnote 16 Edelsteingefäße und Kameen, kostbare Vasen und Behältnisse aus Silber, Parfumfläschchen, ein Vogelbauer, Spiegel und ein Nachttopf in Form einer Kröte. Naturalien wie etwa Muscheln, Korallen, Fischzähne, Moschus-Kugeln und dergleichen, Tintenfässer, mechanische Uhren und Sanduhren, Altartäfelchen aus Goldemail, Kerzenhalter, Löffel aus kostbaren Materialien, außerdem einige wenige Sakral-Objekte: ein Kristallreliquiar der heiligen Clara, eine Pax-Tafel, ebenfalls aus Kristall mit einer Darstellung der Heiligen Drei Könige, schließlich noch vier Stundenbücher in der gewohnt prächtigen Ausstattung usw. Frei auf Borden und in Nischen standen nur die Skulpturen. Über den Schränken und dem Fenster waren außerdem ein Einhorn und ein Fischzahn montiert. Irgendwo im Raum stand noch ein Prunktisch aus Porphyr mit intarsierter Holzrahmung, auf dem Schreibutensilien und Uhren standen (vgl. Liebenwein 1977, S. 112; Eichberger 2002, S. 412 f.).
Mit ihrem neuen studiolo und mit der neuen grotta hat die Markgräfin von Mantua die ehemalige Gelehrtenstube nun endgültig in einen modernen Sammlungskomplex überführt. Er befand sich unmittelbar unter ihren Wohngemächern und stand Freunden und durchreisenden Bekannten stets zur Besichtigung offen. Auch interessierten Künstlern wurde Einlass gewährt, selbst wenn die Marchesa abwesend war.Footnote 17 So kamen im November 1519 Dosso Dossi und Tizian, der gerade in Ferrara arbeitete, nach Mantua, um sich Isabellas Sammlung anzusehen. Tizian war zu diesem Zeitpunkt der Marchesa offenbar noch unbekannt – ein Zeichen, dass selbst Außenstehende Zutritt fanden. Auch nach dem Tod der Marchesa behielten studiolo und grotta noch lange ihre Anziehungskraft für auswärtige Besucher bei (vgl. Liebenwein 1977, S. 127).
Dass die neue Sammlungsstätte neben ihren repräsentativen vor allem bildende Funktionen erfüllte, belegen folgende Sachverhalte:
-
1.
Trotz der räumlichen Erweiterung und trotz der vergleichsweise großzügig geregelten Zugänglichkeit für Dritte, ist das studiolo der Isabelle d’Este durch seine Größe und durch seine unmittelbare Nachbarschaft zum Wohnbereich ein Studierzimmer und Meditationsraum geblieben. Dafür stehen der Tisch und das Tintenfass, die im Inventar aufgeführt werden.
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2.
Das Bildprogramm des studiolo verrät mit seiner deutlich normativen Botschaft, worum es bei der Meditation vor allem ging: um moralische Aufrüstung und Selbstertüchtigung. Die Titel der Bilder wie „Minerva vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugend“ (Mantegna), „Der Kampf der Keuschheit gegen die Wollust“ (Perugino) oder „Allegorie der Tugend“ und „Allegorie des Lasters“ (beide Correggio) lassen keinen Zweifel an der Absicht der moralischen Selbsterziehung oder Selbstbildung (vgl. Romelli 2008).
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3.
Unter den Skulpturen gab es im studiolo wie in der grotta neben den Puttenköpfen, schlafenden Cupidos und Götterstatuen auch antike Büsten, z. B. von Augustus, Lucilla, Faustina, Claudius, Livia Augusta Gemanicus und Lucius Verus. In den Porträts dieser Imperatoren und ihrer Gemahlinnen sah man damals die römische „virtus“ exemplarisch verkörpert. Sie dienten Isabella und ihren Zeitgenossen als Vorbild, das zur Nachahmung aufforderte. Auch hier also: moralische Selbstbildung.
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4.
Ein weiteres wichtiges Argument für die Bildungsbedeutung der Sammlung von Isabelle d’Este stützt sich auf das Bildungsklima, auf die Vorstellungen vom richtigen Sozialverhalten, vom angemessenen Umgang mit sich und mit den anderen, wie sie damals in Mantua und Urbino diskutiert wurden und in dem in Urbino zwischen 1508 und 1516 entstandenen Prototyp eines neuzeitlicher Bildungsprogramms, in ,Il Libro del Cortigiano‘, dem ,Buch vom Hofmann‘ niedergelegt sind.Footnote 18 Der Autor dieses für die europäische Bildungsgeschichte zentralen Werkes, Baldassare Castiglione (1478–1529), wurde nur vier Jahre nach Isabelle d’Este, in Casatico bei Mantua als Sohn einer einheimischen Adelsfamilie geboren. Nach einer umfassenden Erziehung, die er durch Privatlehrer aus dem Kreis der Humanisten und am Hof der Sforzas in Mailand erfahren hatte, fand er seine erste Anstellung ausgerechnet am Hofe des Herrschers von Mantua, also im Dienst des Markgrafen Francesco Gonzaga und seiner Frau Isabella d’Este.Footnote 19
Resumee
Mit den Sammlungen der beiden Frauen Magarete von Österreich und der Isabella d’Este war der Übergang von der mittelalterliche Schatzkammer und der mittelalterlichen Gelehrtenstube zu einer neuzeitlichen Bildungsstätte im Prinzip vollzogen. Die Bildungsidee war von nun an in der Sammlungsgeschichte fest etabliert und ist auch nicht mehr aus ihr verschwunden. Auf allen Stationen der folgenden Geschichte, in den bürgerlichen Naturalienkabinetten, den barocken Kunst- und Wunderkammern und den beginnenden wissenschaftlichen Spezialsammlungen des 18. Jahrhunderts ist sie leicht nachzuweisen, bevor sie mit der Gründung des Britischen Museums und den Museumsgründungen im Gefolge der Französischen Revolution auch explizit formuliert wird.
Notes
Tony Bennett (1995) hat in Anlehnung an die Machtanalysen und die Terminologie von Foucault dem Museum sogar eine „Disziplinarmacht“ zuerkannt. Anders jedoch als das berühmte Beispiel des Panoptikums, das Gefängnismodell von Jeremy Bentham, an dem Foucault seine Theorie exemplifiziert, wirkt das Museum nach Bennett nicht disziplinierend dadurch, dass eine Gruppe, die der Gefangenen, der ständigen Beobachtung durch eine andere Gruppe, die selbst unsichtbar bleibt, nämlich die der Wärter, ausgesetzt ist, sondern dadurch, dass alle Besucher in den offenen Räumen des Museums wechselseitig sich den anderen zeigen, sie beobachten und dadurch auch kontrollieren. Für Bennett ist das Museum ein Disziplinarapparat, der sich gewissermaßen selber trägt: durch die wechselseitige Selbstregulierung der Besucher. Zum Beleg seiner These verweist Bennett u. a. auf die Veränderungen in der Museumsarchitektur. An die Stelle vollgestopfter Sammlungsräume, in denen man sich verstecken konnte, sind ihm zufolge im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild der Kaufhäuser und Industrieausstellungen, große, weitläufige Wandelhallen und Galerien getreten, in denen keiner sich dem Blick des anderen mehr entziehen kann. In den Raumfluchten und Aussichtspunkten der Architektur materialisiert sich das Prinzip der Selbstüberwachung. Jeder konnte sehen, aber jeder konnte auch gesehen werden. Die Architektur machte die Besucher jeweils wechselseitig zu Beobachtungsobjekten füreinander. Auf diese Weise wurde im Museum ein bürgerlich distinguiertes Verhalten eingeübt. Schauend und einander beobachtend gleiten die individualisierten Menschen im Museum berührungslos aneinander vorbei. Rennen, lautes Reden, gar Essen und Trinken sind verboten. Und die Hände werden nicht gebraucht. Sie hängen entweder herunter oder werden auf dem Rücken verschränkt bzw. in die Hosentaschen gesteckt. Alles Handgreifliche ist als vermeintlich proletarische Attitüde in der bürgerlichen Erfindung des Museums tabuisiert.
Auch die jüngeren Arbeiten zur Sammlungs- und Museumsgeschichte von Eilean Hooper-Greenhill (1992) und Horst Bredekamp (1993) über Tony Bennett (1995) und Anke te Heesen/E. C. Sprary (2001) bis Bénédicte Savoy (2006) und Michael Parmentier (2008) können, wie verdienstvoll man sie auch immer im Einzelnen beurteilen mag, nur als Bausteine für eine noch ausstehende umfassende Strukturgeschichte des Museums angesehen werden.
Von der jüngeren Literatur zur Rolle außereuropäischer Sammelgegenstände im 16. Jahrhundert vgl. Trnek/Haag 2001.
Neben ihrer Hauptfunktion als Finanzrücklage dienten die Schatzkammern partiell auch dem religiösen Kult und der Herrschaftslegitimation bzw. -repräsentation und wurden zu diesem Zweck gelegentlich dem Volk zugänglich gemacht. Die Kirchenschätze wurden für die Gläubigen sichtbar, wenn sie bei den öffentlichen kultischen Übungen vor allem an hohen Feiertagen zum Einsatz kamen oder wenn sie, wie im Falle der „Heiltumschau“, von den eigens dafür präparierten Balkonen und Erkern den Pilgermassen gezeigt wurden. Die fürstlichen oder kaiserlichen Schätze wurden den Untertanen dagegen bei festlichen Umzügen zur Begrüßung des fürstlichen Stammhalters oder bei Begräbnisprozessionen, wenn der Herrscher das Zeitliche gesegnet hatte, vorgeführt. Sie übernahmen dann eine legitimatorische und repräsentative Funktion. Zum Stand der Erforschung von mittelalterlichen Schatzkammern und ihren Gebrauchsformen vgl. Kohl 2003, Hardt 2004; Burkart 2005, 2008.
Am einfachsten zugänglich über die Teiledition von Heinrich Zimmermann (vgl. 1885), die auf der Wiener Abschrift des vollständigen Inventars aus dem Jahre 1524 basiert.
Vgl. Veth/Muller 1918, Bd. 1, S. 84 [7.6.1521].
Die Bezeichnungen sind nicht einheitlich. In den italienischen Quellen werden synonym verwendet: scrittoio, studio, stanzino oder camerino, vgl. Romelli 2008, S. 7.
Wolfgang Liebenwein (1977) hat diese Transformation der Gelehrtenstube historisch präzise und in allen Einzelheiten nachgezeichnet.
Hieronymus wurde dabei gelegentlich von Augustinus vertreten oder ersetzt.
Ausdruck dafür ist z. B. die Neuübersetzung der Briefe des Hieronymus durch Erasmus von Rotterdam.
Noch ca. 150 Jahre später zeugt die Definition des Museums als Studierstube im „orbis pictus“ (1556) des Amos Comenius von diesem Zusammenhang.
Die gesamten Intarsien des studiolos sind heute im Metropolitan Museum in New York zu bewundern. Vgl. die grundlegende Arbeit von Raggio (1999); das studiolo in Gubbio entstand nach dem Vorbild des studiolos, das Federico einige Jahre zuvor schon an seinem Hauptsitz in Urbino errichten ließ. Die illusionistischen Effekte waren dort aber noch nicht ganz so perfekt wie in Gubbio; vgl. dazu Cheles 1986.
Zu Federico Montefeltro vgl. Lauts/Herzner 2001; Roeck/Tönnesmann 2005.
Vgl. auch die Formulierung von Stephen J. Campbell (2006, S. 23), der in diesem Zusammenhang von Praktiken des „Constructing the self “ spricht.
Am einfachsten zugänglich ist das Inventar der Sammlung von Isabella d’Este (Codice Stivini) in der Abschrift, die Daniela Ferrari im Wiener Ausstellungskatalog von Ferino-Padgen (1994) veröffentlicht hat, dort S. 282–288.
In einem Brief aus Rom erteilte Isabella Anweisungen über die Schlüssel ihrer grotta, falls sich Besucher anmelden: „circa la chiave di la Grotta, dicemo che quando ce ne sono qualche gentilhomini che la voliano vedere, debiati pur dare la chiave a Zoan Jacomo castellano, facendovila poi restituire“ (zitiert nach Romelli 2008, S. 1, vgl. auch Eichberger 2005).
Das Buch entwirft in der frühen Neuzeit den Idealtypus eines allseits gebildeten und sich ständig perfektionierenden ,uomo universale‘, der in höfischer Verkleidung im Grunde schon das bürgerliche Bildungsprogramm vom autonomen, sich selbst bestimmenden Individuum vorwegnimmt. Über die Varianten des französischen „honnête homme“ und des englischen „gentlemen“ ist dieses Programm lange Zeit wirkmächtig geblieben (vgl. Burke 1995). Erst die neoliberale Reduktion von Bildung auf „employability“ (dem latenten Sinn gemäß frei übersetzt: Ausbeutbarkeit), die der gegenwärtigen Bildungsreform die Richtung zeigt, hat dieses Programm außer Kraft gesetzt.
Zu Art, Intensität und Reichweite der Bildungsdiskussion in der Renaissance insgesamt vgl. die Arbeit von Musolff 1997.
Literatur
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Parmentier, M. Der Einbruch der Bildungsidee in die Sammlungsgeschichte. ZfE 12, 45–63 (2009). https://doi.org/10.1007/s11618-009-0061-7
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- Bildungsgeschichte
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