Der Begriff der Kultur hat – nicht nur in verschiedenen Komposita mit Schule, Unterricht oder Lernen – seit längerem Konjunktur. Bereits 1994 konstatierte Terhart (S. 686), der Kulturbegriff habe in der Schulpädagogik eine „unübersehbare Karriere“ in Angriff genommen. Während er aber diese Konjunktur in seinem Bericht von 1994 noch als Abkehr von einer „gesellschaftstheoretisch-sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Schule“ interpretierte (Terhart 1994, S. 691), wird gegenwärtig für die Sozial- und Geisteswissenschaften ein durchaus gesellschaftstheoretisch elaborierter Begriff von Kultur, entwickelt im Zuge des „cultural turns“ (Reckwitz 2000/2006), in Anschlag gebracht. Das Thema des DGfE-Kongresses 2008 – „Kulturen der Bildung“ – und die Diskussion um eine Begründung der Pädagogik als „reflexive Kulturwissenschaft“ (vgl. Brumlik 2006) bringen das Interesse der Erziehungswissenschaft an der Diskussion eines solchermaßen entwickelten Verständnisses von Kultur zum Ausdruck.

Im Folgenden werden, nach einer knappen Skizze der Rezeption des Kulturbegriffs in der jüngeren Schulpädagogik, erste Überlegungen zu einer praxistheoretischen Konzeptualisierung des Begriffs der Lernkultur und daraus folgende methodologische Konsequenzen im Rahmen qualitativer Unterrichtsforschung vorgestellt. Ziel dieser Grundlegung ist es, sich des normativen Ballasts eines Kulturbegriffs zu entledigen, wie er in der Schulpädagogik im Sinne der Propagierung einer „neuen Lernkultur“ häufig verwendet wird (vgl. M. A. Meyer 2005; Arnold/Schüßler 1998). Vorgeschlagen wird eine methodologische Orientierung, für die die Entwicklung der interpretativen Unterrichtsforschung zu einer kulturwissenschaftlich fundierten (vgl. Reckwitz 2004) und schultheoretisch reflektierten ‚empirischen Didaktik’ leitend sein könnte. Im weiteren Sinne ist diese entlang eines nicht-normativen, „bedeutungsorientierten Kulturbegriffes“ (Reckwitz 2004, S.7) vorgenommene Fundierung einer Lernkulturforschung als Beitrag zu einer reflexiven, kulturwissenschaftlich orientierten Pädagogik zu verstehen.

1. Lesarten des Kulturbegriffs in der Schulpädagogik

Wir unterscheiden im Folgenden verschiedene Arten, den Kulturbegriff in der Schulpädagogik zu verwenden.

1.1 „Neue Lernkultur“ – Kultur als normativer Begriff

Am prominentesten ist der Kulturbegriff sicherlich in seiner Verwendung als normativer Leitbegriff der didaktischen Literatur (vgl. Reich 2006; H. Meyer 2004; Kösel 1993), der Debatte um Schulqualität (vgl. Steffens/Bargel 1993) und der Gute-Schule-Bewegung, wie sie beispielsweise im ‚Netzwerk innovativer Schulen in Deutschland’ der Bertelsmann-Stiftung organisiert ist (vgl. Czerwanski/Solzbacher/Vollstädt 2002, 2004). Hinter der Forderung nach einer „neuen Lernkultur“ stehen zumeist Krisendiagnosen zum gegenwärtigen Zustand des Unterrichthaltens in deutschen Staatsschulen. Ihnen zufolge ist der etablierte Unterricht eine ziemlich langweilige, reproduktive, auf Schülerseite Widerstand oder Rückzug provozierende, aber keine zu produktivem, nachhaltigem Lernen herausfordernde Angelegenheit. Besonders im Alltag der Sekundarschulen werde nur „träges Wissen“ in zumeist methodisch eingefahrenen, lehrerorientierten Arrangements vermittelt. Demgegenüber wird die „neue Lernkultur“ als Lösung angeboten: Ein methodisch flexibler, nach innen und außen geöffneter Unterricht, der sich an den Erfahrungsbeständen der Schüler(innen) orientiert und diese substanziell an der Gestaltung des Unterrichts selbsttätig partizipieren lässt. In den Konzepten einer Subjektorientierung und einer an den Prinzipien des radikalen oder gemäßigten Konstruktivismus ausgerichteten Reformdidaktik (vgl. Reich 2006; Kösel 1993) erscheinen Lehrer(innen) dann als Arrangeure von Lernumgebungen, die das selbstständige und kokonstruktive Lernen der Schüler(innen) anregen sollen. Die „neue Lernkultur“ ist in diesem Verständnis die idealisierte Projektion eines guten Unterrichts. Schulen, deren innere Zustände der oben knapp zusammengefassten Verfallsdiagnose entsprechen, haben dann diesem Kulturbegriff entsprechend keine Kultur, sondern allenfalls nur eine Schwundform davon: Sie bedürfen einer „Kultivierung“. Holtappels hat in seinen empirischen Untersuchungen zu Schulentwicklungsprozessen diese präskriptive Lesart von Schul- beziehungsweise Lernkultur in einem umfangreichen Konstrukt verschiedener Skalen operationalisiert (vgl. Holtappels 1995). In der empirischen Analyse lassen sich so auf der Grundlage aggregierter Daten Entwicklungsstände hin zu einer guten Schule feststellen.

Eine weitere, ebenfalls normativ ausgerichtete Rezeption des Kulturbegriffs lässt sich in eher schultheoretisch orientierten Arbeiten der Schulpädagogik um die 1990er-Jahre finden. Während Duncker (vgl. 1992) in seiner Kritik der Schultheorie Parsons’ (vgl. 1968) letztlich nicht über den geisteswissenschaftlichen Kulturbegriff hinausgelangt, versucht Fauser (vgl. 1989), mit dem Kulturbegriff den holistischen Erfahrungszusammenhang von Schule kategorial zu fassen. Sowohl Fauser als auch Duncker unternehmen also theoriestrategisch mit dem Kulturbegriff den Versuch einer ‚Wiedergewinnung des Pädagogischen’ in seiner Dignität gegenüber einer strukturfunktionalistisch-sozialisationstheoretischen Betrachtung von Schule und Unterricht.

Resümierend können wir festhalten, dass im schulpädagogischen Aufgreifen

  1. 1.

    häufig unklar bleibt, was eigentlich den Begriff der Kultur jenseits seiner Verwendung als holistische Kategorie spezifisch kennzeichnet, und

  2. 2.

    dass der Kulturbegriff der normativen Abgrenzung gegenüber einem für schlecht gehaltenen Unterricht als Un-Kultur dient. Lernkultur – im Gegensatz zu dem, was vorher herrschte – kann diesem Verständnis nach durch Unterrichtsentwicklung erreicht werden.

1.2 Schulkultur und Schulmythen – Kultur als Text

Ein sich von diesem Zugang diametral unterscheidendes Anknüpfen an den Kulturbegriff findet sich in den empirischen und grundlagentheoretischen Arbeiten der Hallenser Schulkulturforschung (vgl. Helsper et al. 2001). Schulkultur wird hier ausdrücklich in einem nicht-normativen Sinne und in Anknüpfung an ethnographische Fassungen des Begriffs als zentrale Kategorie in einem strukturtheoretischen Entwurf von schulischer Sozialität platziert. Sie wird als symbolische, sozial-distinktive Ordnung einer Einzelschule verstanden, die von den schulischen Akteuren in spannungsreicher Auseinandersetzung mit den strukturellen Rahmenbedingungen des Schulsystems symbolisch ausgehandelt wird und jeweils als latente Sinn einzelschulspezifische „Lösungsmuster“ der Strukturprobleme der modernen Schule hervorbringt. Helsper et al. interessieren sich insbesondere für sprachliche Konstrukte, die als legitimierende Sinnstiftungen der Institution Schule in ihrer praktischen Bewährung zu verstehen sind. Diese „Schulmythen“ (vgl. Böhme 2000) schlagen sich in besonders deutlicher Ausdrucksgestalt in rhetorischen Mustern zentraler schulischer Akteure nieder, die anlässlich außeralltäglicher Ereignisse entworfen werden. Helsper et al. nehmen in ihren objektiv-hermeneutischen Rekonstruktionen von transkribierten Audiographien der Reden von Schulleiter(inne)n, Schüler-Vertreter(inne)n oder auch von kollegialer Kommunikation, in späteren Arbeiten auch von Unterricht, nicht die schulische Lernkultur und die sachbezogenen unterrichtlichen Vermittlungs- und Aneignungsprozesse in den Blick, sondern die über das gegenständliche Lernen hinausreichenden Sozialisationsprozesse; diese werden jeweils von den habituellen Präferenzen der für sich besonderen Einzelschulen gerahmt, die Helsper auch als „Institutionen-Milieu-Komplexe“ (Helsper 2006) definiert. Es geht in dieser Rekonstruktion von Schulkultur darum, zu zeigen, inwieweit „das kulturelle Feld der jeweiligen Schule für Schülergruppen aus unterschiedlichen Herkunftsmilieus und mit unterschiedlichen Lebensstilen divergierende Bedingungen für die Artikulation und die Anerkennung ihres Selbst im Rahmen schulischer Bewährungssituationen und Bildungsverläufe“ bietet (Helsper et al. 2001, S. 26). Gegenstandstheoretisch und methodologisch wird hier Kultur auf die Ebene latenter, in Sprechakten diskursiv konstruierter Sinnstrukturen verkürzt: Kultur erscheint als sprachlich verfasster Text. Folgerichtig bezieht sich dann die Analyse auf die Ebene der Sprache und blendet dabei aus, dass es sich bei den Akteuren auch um körperlich Handelnde im Raum handelt, die sich auf sich selbst, aufeinander und auf Dinge beziehen.

1.3 Rituelle Lernkulturen – Kultur als performativer Prozess

Über einen solchen, gewissermaßen intellektualistischen Reduktionismus gehen die am Berliner Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ angesiedelten Forschungen zu rituellen Lernkulturen (vgl. Wulf et al. 2007) hinaus. Kultur ist für die Autoren nicht mehr ein „ausformuliertes Set von symbolischen Codierungen“, sondern eine „veränderliche, prozesshafte, dramaturgische und indeterminierte Gegebenheit“ (Wulf/Zirfas 2004, S. 27). Sie erheben den Anspruch, traditionelle Unterscheidungen zwischen Wissen, Können und Verhalten durch die Akzentuierung der körperlichen Seite des Lernens zu ergänzen (vgl. Wulf 2007, S. 8). Lernen und seine pädagogische Gestaltung werden als performativer Prozess verstanden, wobei Performativität sich auf „die Körperlichkeit, den Aufführungscharakter und die Sozialität ritueller Lernpraktiken, ihre Öffentlichkeit und Ostentativität“ (Wulf 2007, S. 9) bezieht. Lernpraktiken sind performativ, insofern sie vollziehen, was sie bedeuten, und ihre Bedeutung im Vollzug herstellen. Unter Bezug auf bereits in früheren Veröffentlichungen ausgearbeitete Theoretisierungen von Ritualen als wiederkehrende interaktive Handlungsmuster, die der Konstitution der Grenzen, Ordnungen und Normen einer Gemeinschaft dienen (vgl. Göhlich 2004, S. 22) sowie als Mittel zur kollektiven Erzeugung und Bearbeitung von Differenzen wird die Bedeutung von Ritualen für die Gestaltung von Lernkulturen analysiert (vgl. auch Zirfas 2004; Wagner-Willi 2005). Problematisch erscheint an diesem Konzept von Lernkultur die Ausweitung des Ritualbegriffs. Statt Rituale als Formen gesteigerter (lern-)kultureller Praxis nur für bestimmte Praxiszusammenhänge zu reservieren, wird beinahe jegliche soziokulturelle Praxis als Figur oder Ablaufgestalt eines Rituals oder zumindest einer ritualisierten Handlung interpretiert. Wir plädieren demgegenüber für einen sparsamen Gebrauch des Ritualbegriffs, betonen aber zugleich den performativen Gehalt jeglicher sozialen Praktik. Das Performative ist eine grundlegende Dimension von Sozialität, die allerdings im Ritual eine besondere Stilisierung erfährt.

1.4 Fachkulturen – Kultur als Habitus

Das Fach als zentrales Ordnungsprinzip schulischen Unterrichts, durch das spezialisiertes, disziplinäres Wissen organisiert und vermittelt wird, ist trotz immer wiederkehrender Kritik und dem Plädoyer für fächerübergreifendes Arbeiten (vgl. Huber 2001) bislang unumstritten: Das Fach habe, so Tenorth (vgl. 1999), nichts von seiner zentralen Stellung eingebüßt, auch wenn die selbstverständliche Geltung von Fächern als Rahmen schulischer Arbeit erschüttert sei. Die Schulfächer legen je bestimmte Formen der Wissenskonstruktion und der Schematisierung von Können nahe und schließen andere aus (vgl. ebd.). Von Fachkultur wird bislang vorrangig im Zusammenhang mit der Einsozialisation in ein Fach, einer Habitusbildung an der Hochschule gesprochen (vgl. Huber 1991). Erst in jüngster Zeit wird im Rahmen der Bildungsgangforschung der Versuch gemacht, die schulischen Fächer als entscheidende Bedingungen für die Bildungsprozesse der Lernenden in den Blick zu nehmen und für ihre Untersuchung systematisch Forschungsfragen und methodische Herangehensweisen zu beschreiben (vgl. Lüders 2007a). Schulische Fächer werden dabei als „komplexe Handlungsfelder mit ihren Sinnkonstruktionen, Glaubenssystemen, Ritualen und Gewohnheiten, Sprech- und Handlungsweisen“ (Lüders 2007b, S. 8) und Fachkulturen als „fachspezifische Sinnsysteme, die in Form von Wissensordnungen handlungsleitend wirken“ (Lüders 2007b, S. 8) bestimmt. Den Ansatz von Huber aufnehmend wird Kultur hier im Anschluss an den Begriff des Habitus von Bourdieu bestimmt und nach dem Zusammenhang zwischen der Kultur eines Schulfaches und dem Habitus von Lehrerinnen und Lehrern gefragt (vgl. Müller-Roselius 2007).

Wenngleich der Habitus durch Praxis, also im Tun und in deren Vollzug, erworben wird, liegt der Schwerpunkt der an ihm orientierten Forschungsvorhaben nicht auf der Rekonstruktion einer – nach Fächern sich möglicherweise verschieden gestaltenden – Ordnung des (fachspezifischen) Tuns von Lehrenden und Lernenden im Unterricht. Vielmehr werden im Wesentlichen die Einstellungen und Orientierungen der Akteure in den Blick genommen, also z. B. die fachspezifischen handlungsleitenden Vorstellungen von Lehrerinnen und Lehrern (vgl. Hericks/Körber 2007; Bastian/Combe 2007) bzw. die Fachkultur der Lehrer und das Lernen der Schüler und Schülerinnen (vgl. M. A. Meyer 2007). Dieser Zugang leuchtet mit Blick auf die fachwissenschaftliche Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen und die Annahme, dass diese – und weniger die didaktischen Theorien – die Unterrichtskonzepte der Lehrenden bestimmen, zwar ein (vgl. Schenk 2007), lässt aber die Frage nach spezifischen Handlungsmustern von Lehrenden und Lernenden, die den Unterricht verschiedener Fächer konstituieren, offen. Gewinnbringend und anschlussfähig erscheinen Untersuchungen der Bedeutung der Fachkulturen, wie sie für das Fach Mathematik skizziert (vgl. Gellert 2007) und für die Fächer Deutsch und Physik erstmals durchgeführt wurden (vgl. Willems 2007). Sie unterscheiden verschiedene Ebenen von schulischen Fachkulturen und beziehen diese aufeinander: Das Fach als akademische Disziplin und seine historische Entwicklung, die fach- und schulspezifische Wissensordnung etwa in Form von Curricula sowie die Mikrostruktur des Fachunterrichts mit seinen je spezifischen Praktiken in Bezug auf die Raum- und Sitzordnung, die Materialverwendung oder etwa die Leistungsbewertung.

2. Ein theoretischer Entwurf: Lernkultur als Praxis

Unser Entwurf eines auf Schule bezogenen Kulturbegriffs geht von zwei Prämissen aus: Erstens vertreten wir die Auffassung, dass die Lernkultur das Zentrum der Kultur einer Schule bildet. Zweitens schlagen wir für die theoretische Konzeptionalisierung des Begriffs der Lernkultur vor, an einen deskriptiven soziologischen Kulturbegriff anzuschließen, der im Rahmen der Theorie sozialer Praktiken insbesondere von Reckwitz (vgl. 2000/2006, 2003; vgl. auch Breidenstein 2006, S. 16 ff.) reformuliert wurde.

Zur ersten Prämisse: Kade (vgl. 1997) hat vorgeschlagen, den binären Code des Erziehungssystems nicht entlang der Leitdifferenz von besser vs. schlechter, sondern von vermittelbar vs. nicht-vermittelbar zu bestimmen und das kommunikative Prozessieren der Differenz von Aneignung und Vermittlung in den Mittelpunkt der theoretischen Beschreibung des Erziehungssystems zu stellen. Bezieht man diese allgemeine Fassung nun auf die schulisch-institutionelle Praxis, ist nicht mehr vom Vorrang des binären Codes der Selektion (besser vs. schlechter) auszugehen, sondern von der funktionalen Bestimmung der Schule, – in der Verschränkung von Aneignungs- und Vermittlungsoperationen – Lernen als eine Aneignungsform von Wissen und Können zu ermöglichen (vgl. Kade 1997, S. 49; Luhmann 2002, S. 59 f.). Ein unterrichtlicher Interaktionszusammenhang kommt aus dieser Sicht nur zustande, wenn zwei Differenzen ständig bearbeitet werden, die durch Unterricht entstehen und konstitutiv für ihn sind: Die Differenz von Vermittlung und Aneignung (a) und die Differenz zwischen schulischem Wissen und dem, was nach schulischer Wissensordnung irrelevant für schulisches Lernen ist (b).

Zu (a): In jedem Unterricht gibt es eine Lücke zwischen den Vermittlungsbemühungen einerseits und dem, was sich andererseits an Aneignungsprozessen auf Schülerseite vollzieht, weil die Beteiligten unterschiedlich disponiert sind und zugleich beide Prozesse kommunikativ und dadurch eigendynamisch vermittelt sind. Aneignung ist daher nicht determinierbar und vollzieht sich eigensinnig. Damit Lernen dennoch möglich bleibt, muss diese Differenz ständig bearbeitet werden. Systemtheoretisch gesehen ermöglichen zwei wesentliche Strukturierungen, Lernen aufrechtzuerhalten: eine spezifische, institutionalisierte Interaktionsstruktur und eine eigene, auf Lernen bezogene Gestaltung des Kommunikationsprozesses. Die Interaktionsstruktur beispielsweise in Lehrer- und Schülerrollen leistet es, eine soziale Ordnung des Unterrichts sowie pädagogische Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten und den Unterricht nach innen und außen zu stabilisieren. Darüber hinaus ist es für die eigene Gestaltung des Kommunikationsprozesses entscheidend, wie und als was die Personen adressiert werden, mit welchen Mitteln und wie zwischen Vermittlung und Aneignung unterschieden wird bzw. wie sie aufeinander bezogen werden, wie Thematisierungen zu Wissen gemacht werden und wie die Akteure den Kommunikationsprozess dabei selbstbezüglich beobachten, beeinflussen und bewerten.

Zu (b): Für jeden Unterricht ist außerdem die Differenz zwischen anerkanntem Schulwissen und dem nach schulischer Wissensordnung für Lernen nicht-relevanten Wissen konstitutiv. Pädagogische Vermittlung spezifiziert den Umgang mit „Stoff“ so, dass es der Wissensordnung entspricht. Dadurch entstehen unterschiedliche Prozesse der Wissensgenese, von der Wissensobjektivierung des gemeinsam Erarbeiteten bis hin zum Praktizieren von Verhaltensweisen nach bestimmten Regeln als ein Vorgang, welcher eine Art prozedurales Wissen entstehen lassen kann. Für eine praxistheoretische Dimensionierung von pädagogischen Praktiken, wie wir sie im übernächsten Abschnitt vornehmen werden, lässt sich an diese systemtheoretischen Überlegungen anknüpfen. Die aus funktionaler Sicht entscheidenden Bearbeitungsformen konstitutiver Differenzen können als unterschiedliche Praktiken eines Feldes verstanden werden, die „der Sache nach zusammenhängen und aufeinander abgestimmt sind in einer Organisation oder in Funktionssystemen“ (Reckwitz 2003, S. 295).

Zur zweiten Prämisse: Eine praxistheoretisch begründete Lernkulturforschung geht von der Grundannahme aus, dass der Mensch sich immer schon in einer durch symbolisch-sinnhafte Regeln strukturierten Welt bewegt, die allen anderen Dimensionen der Sozialwelt konstitutiv vorgängig ist und die soziale Ordnung begründet. Für unseren Entwurf ist die praxistheoretische These fundamental, die Lernkultur sei eine in sozialen Praktiken erzeugte performative und symbolische Ordnung. Mit einer solchen Ordnung sind sinnhafte Ordnungen der Welt des Handelns und die symbolische Organisation der Wirklichkeit gemeint. Die kleinsten Bestandteile einer solchermaßen verstandenen Kultur, die sozialen Praktiken (vgl. Schatzki/Knorr-Cetina/von Savigny 2001; Reckwitz 2003), werden von den Akteuren auf der Grundlage eines praktischen Situationsverständnisses bzw. Deutungsvermögens, eines Könnens als eines impliziten prozeduralen Wissens und einer motivationalen Haltung vollzogen bzw. aufgeführt. Grundlage ist deshalb auf Seiten der Akteure ein „praktisches implizites Wissen“, das in Routinen der Handlungspraktik enthalten ist und in einem Umgang mit kulturellen Artefakten inkorporiert wird.

Praktiken werden – im Gegensatz zu einer Konzeptualisierung von Aktivitäten als Handlungen – verstanden als regelgeleitete, typisierte und routinisiert wiederkehrende Aktivitäten. Die implizite Logik der Praktiken, die es zu rekonstruieren gilt, ist nicht, wie im Begriff des Handelns immer unterstellt, nur durch Elemente der Intentionalität, durch normative Kriterien oder symbolische Ordnungen und Sinnstrukturen hervorgebracht, sondern durch praktisches Wissen, das im Können und in praktischem Deutungsvermögen eingeschlossen ist. Als Elemente praktischen Wissens sind deshalb interpretierendes Verstehen in „routinemäßiger Zuschreibung von Bedeutungen“, methodisch-prozedurales Wissen im Sinne von „skriptförmigen“ Handlungsmustern und außerdem motivational-emotionales Wissen als „impliziter Sinn dafür, was man eigentlich will“ beschreibbar (Reckwitz 2003, S. 292). In deren Rekonstruktion werden deshalb zugleich die Deutungs- und Handlungsmuster und die motivational-emotionalen Implikate thematisch, die den Vollzug der Praktiken ermöglichen und beschreiben, wie das Subjekt in ihrem Vollzug disponiert ist, sich zu sich selbst verhält und mimetisch – das heißt in schöpferischer Nachahmung inszenierend (vgl. Wulf 2004), nie standardisierte Kopien wiederholend – lernt.

Gerade ein die Praktiken „zusammenhaltendes“ praktisches Wissen ermöglicht die Wiederholbarkeit der Aktivitäten, konstituiert darin Intersubjektivität und die potentielle Verstehbarkeit immer (fall-)spezifisch aufgeführter Praktiken. Reckwitz bindet die Sozialität von Praktiken nicht an Intersubjektivität (intersubjektive Praktiken sind nur eine Form neben selbstbezogenen und auf Artefakte bezogenen interobjektiven Praktiken), sondern an Iterabilität oder, wie er formuliert, an Repetitivität, das heißt an das Prinzip der Wiederholbarkeit (vgl. Reckwitz 2000/2006, S. 563). Butler hat in ihrem Entwurf einer „gesellschaftlichen Theorie der Iterabilität“ (vgl. Butler 1998, S. 215) deutlich gemacht, dass dieses Prinzip der Wiederholbarkeit gleichzeitig Wiedererkennbarkeit, Verstehen ermöglicht und die strukturelle Bedingung von Veränderungen und Transformationsprozessen darstellt. Gründe dafür, dass hier Neues entstehen kann, sind die „Unabschließbarkeit der Kontexte“ (Derrida) des Vollzuges von Praktiken, die Zeitlichkeit ihres Vollzuges, die lose Koppelung von Praktiken eines sozialen Feldes aneinander und die Unberechenbarkeit der Subjekte.

Mit dem hier vorgeschlagenen Verständnis von Praktiken wird grundlegend die Dimension der Materialität des Sozialen rehabilitiert. Dies meint vor allem die Fundierung des Sozialen im körperlichen Vollzug: Alle Handlungen sind zunächst einmal auch Bewegungen des Körpers. Zugleich bedeutet diese Rehabilitation der Materialität, den Blick auf Artefakte zu richten, also auf hergestellte Gegenstände und die in diesen materialisierten Praktiken und Wissensbestände. Soziale Praktiken werden als Körper/Artefakte/Wissenskomplexe in ihrer sinnlich-leiblichen Verankerung, ihrer raumzeitlichen Bindung und materiellen Dimension sowie in ihrer kommunikativen Struktur gesehen. Empirischer Gegenstand einer Lernkulturforschung sind nach diesem praxistheoretischen Verständnis von Kultur demnach szenische Gefüge körperlich hervorgebrachter Praktiken – und dazu gehören auch Sprechakte bzw. die Aufführung von Interaktionsmustern und pädagogische Kommunikationen. Im Folgenden sprechen wir daher, um die Referenz der von uns ins Auge gefassten Praktiken auf den institutionellen Raum der Schule und deren Zweck – die Ermöglichung von Lernen – hervorzuheben, von pädagogischen Praktiken.1

Pädagogische Praktiken strukturieren doppelt. Zunächst beruhen sie als Praktiken auf praktischem Wissen und seinen Unterscheidungen, das auf einem Netz symbolisch-sinnhafter Regeln der Kultur allgemein aufbaut; sodann und im Speziellen bearbeiten sie Differenzen bestimmter Art, nämlich die unterschiedliche Verwendung von Sinnzuschreibungen durch auch in dieser Form lehrende und lernende Subjekte. Pädagogische Praktiken strukturieren, indem ihr Vollzug ihr pädagogisches praktisch-implizites Wissen performativ vermittelt.

Wir fassen nun die dargestellten praxistheoretischen und systemtheoretischen Überlegungen noch einmal zusammen und führen in einem spezifizierenden Schritt aus, wie in pädagogischen Praktiken, in denen im Wesentlichen drei Differenzen bearbeitet werden, Lernkultur erzeugt wird:

  1. (a)

    Die pädagogischen Praktiken beziehen sich auf die Herstellung beziehungsweise Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung des Unterrichts in Unterscheidung zu anderen sozialen Ordnungen außerhalb des Unterrichts bzw. der Angebote. Hier geht es vor allem um die Frage, wie Regeln mit Hilfe unterrichtlich-schulisch erzeugter Hierarchisierungen und Heterarchien der Akteure praktiziert werden.

  2. (b)

    Darüber hinaus wird in den pädagogischen Praktiken die Differenz zwischen Aneignung und Vermittlung bearbeitet. Hier scheint uns von besonderer Relevanz zu sein, in welcher Weise Gestaltungsmöglichkeiten für „Vermittlung“ und „Aneignung“ markiert und wie sie aufeinander bezogen werden.

  3. (c)

    Als letzte bedeutsame Differenz bezeichnen wir die praktisch prozessierte Unterscheidung zwischen dem gegenstandsvermittelten schulisch relevanten und dem schulisch nicht relevanten Wissen und Können. Es geht also vor allem darum, wie die Legitimität einer schulischen Wissensordnung erzeugt wird.

In den pädagogischen Praktiken im Unterricht und in außerunterrichtlichen Lernangeboten in der Schule wird also darüber entschieden, welches Wissen und Können in der Institution Schule Anerkennung erhält, d. h. wie in machtförmigen Prozessen eine hegemoniale schulische Wissensordnung und damit zugleich die Möglichkeit eines „widerständigen“ praktischen Wissens hervorgebracht wird. In Verbindung mit und in Abhängigkeit von den Praktiken der Unterscheidung schulisch relevanter Wissensformen und Fertigkeiten sind dann auch die – subjektivierungstheoretisch2 interessierenden – Praktiken der normativen Integration in und durch Schule, der kulturellen Distinktion und der sozialen Selektion zu sehen, die, traditionell gesprochen, sozialisationsrelevant sind. Aus einem solchen Blickwinkel wird die Rekonstruktion der Lernkultur an die institutionell präformierten Machtverhältnisse rückgebunden, ohne dass wir allerdings die Machtförmigkeit der Beziehung einfach als ein Herrschafts- oder gar Unterdrückungsverhältnis sehen – vielmehr als eines, das die Subjekte immer auch gleichzeitig ermächtigt.3

Hinsichtlich der Differenz zwischen schulischem Wissen und dem, was nach der schulischen Wissensordnung nicht relevant für schulisches Lernen ist, ist darüber hinaus entscheidend, unterschiedliche Wissensarten in den Blick zu nehmen. Wenngleich Schulen (im Sinne expliziter kognitiver Schematisierungen unter gesteigerten Geltungsbedingungen in systematisierter, auf Dauer gestellter und kontrollierter Weise) dem intergenerationalen Wissenstransfer dienen, spricht viel dafür, unter den Wissensbeständen, um die es in pädagogischen Praktiken immer geht, nicht nur „ein geistiges ‚knowing that’ oder [...] rein kognitive Schemata der Beobachtung [zu verstehen, d. Verf.], auch nicht allein [...] die Codes innerhalb von Diskursen und Kommunikationen, sondern [...] ein praktisches Wissen, ein Können, ‚know how’, ein praktisches Verstehen im Sinne eines ‚sich auf etwas verstehen’“ (Reckwitz 2003, S. 289). Unterschiedliche Formen der „Wissensobjektivierung“ in Gestalt dessen, was zur Erinnerung festgehalten ist, kennzeichnen anzuerkennendes Wissen. Hier ist an die Transformation des von Schüler(inne)n verwendeten Wissens zu schulischem Wissen durch den manifesten und latenten Sinn zu denken, den Lehrer(innen) im Unterrichtsgespräch produzieren. Oder es ist zu denken an Praktiken des initiierenden Zeigens als Wissensgenese. Gleichermaßen ist ein wiederholtes Praktizieren von Verhaltensweisen nach bestimmten schulischen Regeln ein Vorgang, welcher eine Art implizites, weil „prozedurales“ Wissen entstehen lassen kann. Dies gilt auch für ein komplexes Können, das die Verwendung deklarativen Wissens einschließt. Es geht also um verschiedene Weisen der Festlegung dessen, was als legitimiertes Wissen gilt.

Für die „unvermerkte“ Aneignung praktischen, impliziten Wissens sind deshalb sowohl die pädagogische Praktik in der Erfahrung ihres Vollzuges als auch dessen Ergebnisse bedeutsam. Die Rekonstruktion der Praktik lässt Muster und Implikate erkennen, die den Vollzug der Praktiken ermöglichen und beschreiben, wie das Subjekt in ihrem Vollzug disponiert ist. Für die Subjektgenese als einer Subjektivierung ist deshalb die performative Aneignung desjenigen praktischen impliziten Wissens entscheidend, welches einen Vollzug dieser und die Herstellung ihrer materiellen Komplemente ermöglicht: die Aneignung von Mustern des interpretierenden Verstehens, des skript-geformten Handelns, des motivational-emotionalen Sinnes. In der Wissensforschung wird diese Aneignung im Sinne des übernehmenden Ausführens von Praktiken als Routinisierung und als abstrahierende Eigenkonstruktion musterartigen impliziten Wissens beschrieben (vgl. Combe/Kolbe 2004). Die in pädagogischen Praktiken enthaltenen Bearbeitungsformen der angeführten Differenzen eröffnen den Schüler(inne)n Lernoptionen, schaffen und verschließen damit Aneignungsräume und Optionen, die sie am Prozess in unterschiedlichen Graden teilhaben lassen.

Die grundlagentheoretische Pointe einer praxistheoretischen Konzeptualisierung des Kulturbegriffs liegt nun, wie Reckwitz (vgl. 2000) beschrieben hat, darin, die sozialtheoretische Dichotomie zwischen Objektivismus und Subjektivismus, Struktur und Handlung sowie Textualismus und Mentalismus aufzubrechen: Um dem Dilemma zu entkommen, Lernkultur entweder als vorgängigen Text oder aber als geistiges Gebilde im Kopf und die Erzeugungsmechanismen von Praxis entweder in sozialen Strukturen oder aber im intentionalen Handeln des Subjekts anzusiedeln, werden – sozialkonstruktivistisch gesehen – die pädagogischen Praktiken zum Ort der Herstellung von Lernkultur. Für eine ethnographische Lernkulturforschung birgt eine solche praxistheoretische Orientierung einen grundlegenden methodologischen Vorteil: Wissen wird weder an die innere Welt von Personen, die über Wissen und Können intentional verfügen, noch an vorgängige kulturelle Objektivationen und Sinnstrukturen, sondern konstitutionstheoretisch an die sichtbaren pädagogischen Praktiken gebunden (vgl. auch Wiesemann/Amann 2002; Breidenstein 2006), die empirisch kontrolliert beschrieben werden können. Mit einem solchen analytischen Zugang zur Lernkultur wird Lernen gerade nicht als innerpsychischer Aneignungsvorgang von Subjekten operationalisiert. Vielmehr erlaubt diese Fassung eines formalen Lernbegriffs, die sozialen Konstitutionsprozesse von Lernen empirisch in den Blick zu nehmen. Die grundlegende Frage richtet sich dann darauf, wie in den aufeinander bezogenen pädagogischen Praktiken von Lehrenden und Lernenden Lerngelegenheiten als Möglichkeitsräume emergieren. Im Folgenden werden wir nun unsere methodologischen Überlegungen im Hinblick auf die empirische Erforschung von Lernkultur weiter ausführen.

3. Methodologische Überlegungen zur ethnographischen Rekonstruktion von Lernkultur

Im Unterschied zu Reckwitz (vgl. 2000/2006, 2003) fassen wir soziale, in unserem Falle pädagogische Praktiken mikrologisch: Unter einer Praktik verstehen wir eine ethnographisch zu beobachtende und zu rekonstruierende Art und Weise, etwas zu tun oder zu sein bzw. etwas aufzuführen. Aus der skizzierten theoretischen Konzeptionalisierung unseres Forschungsgegenstandes folgt, dass wir sowohl an der Beobachtung von Sprechhandlungen der Subjekte als auch an ihrer Gestik, der Mimik und ihren Körperbewegungen, eben an Praktiken interessiert sind. Die in der interpretativen Unterrichtsforschung den Analysen bislang zumeist zugrunde gelegten Interaktionstranskripte (vgl. z. B. Krummheuer/Naujok 1999; Krummheuer/Fetzer 2005; Richter 2000) reichen deswegen für unsere Untersuchung nicht aus. Wenn “culture is manifested through visible symbols embedded in gestures, ceremonies, rituals, and artifacts situated in constructed and natural environments“, wenn man also, wie der Anthropologe Ruby schreibt, Kultur sehen kann: “one can see culture”, dann sollten Forscher in der Lage sein, “to employ audiovisual technologies to record it as data amenable to analysis and presentation” (Ruby 1996, S. 1345). Um rekonstruieren zu können, wie Lehrende und Lernende sprachlich und körperlich aufführen, dass und wie gelernt wird bzw. gelernt werden soll, nutzen wir daher die Videografie. Entscheidend ist dafür nicht nur, dass Videodaten im Vergleich zu anderen sozialwissenschaftlichen Beobachtungsverfahren Vorteile haben in Bezug auf ihren Detaillierungsgrad, auf Möglichkeiten, die Schnelligkeit und Dynamik einzelner Handlungsabläufe oder Szenen und die Simultaneität des Geschehens aufzeichnen zu können. Es können Prozesse quasi „zufällig“ in das Material gelangen, die erst auf den zweiten Blick für den Forschenden Interessantes enthalten und die bei der teilnehmenden Beobachtung eventuell gar nicht registriert worden wären (vgl. Wagner-Willi 2005, S. 256). Aber auch die Videografie bleibt – darauf ist ausdrücklich hinzuweisen – eine Aufnahme aus einer bestimmten Perspektive, deren Selektivität es zu reflektieren gilt, und die keine unabhängig von der Perspektive der Forschenden bestehende, quasi ‚objektive’ soziale Wirklichkeit oder eine wie auch immer geartete Totalität des Geschehens erfasst (vgl. Huhn et al. 2000; Wagner-Willi 2005).

Bedeutsam ist für uns noch etwas anderes: Die technische Aufzeichnung der Videografie und deren Reproduzierbarkeit erlauben uns unterschiedliche Verfahren des Umgangs mit dem Material, d. h. unterschiedliche Formen der Datenauswertung. Im Sinne der fokussierten Kameraethnografie (vgl. Mohn 2005; Mohn/Amann 2005) entscheiden wir zunächst nach eingenommener Perspektive für unsere Aufnahmen, welcher Ausschnitt aus dem Unterrichtsgeschehen uns interessiert. Beim Umgang und der Auswertung des hierbei entstandenen Filmmaterials durch Schneiden, Herstellen verschiedener Filme und der Anfertigung von szenischen Verläufen und Beschreibungen orientieren wir uns an zwei Prinzipien, dem der Serialität und dem der Sequenzialität. Das serielle Arbeiten mit dem Videomaterial – z.B. das Hintereinanderschneiden aller Formen körperlicher Zuwendung Unterrichtender zu einzelnen Schülern – ermöglicht durch eine das übliche Sehen unterbrechende Form des – im ursprünglichen Wortsinne – ästhetischen Umgangs mit dem Material die fundamentale Körperlichkeit pädagogischer Praktiken sichtbar zu machen (vgl. Schouten 2004). Die Herstellung „szenischer Verläufe“ des Materials und „szenischer Beschreibungen“ von ausgewählten Ausschnitten erlauben es uns dann anschließend, gewissermaßen sozialwissenschaftlich-hermeneutisch Sinn- und Bedeutungsstrukturen als sequenziell hergestellte zu rekonstruieren.

Unser Forschungsinteresse richtet sich zunächst nicht auf die Beschreibung epochenspezifischer allgemeiner Praktiken, wie sie Reckwitz (vgl. 2006), aber auch Bröckling (vgl. 2007) vorführen, wenn sie etwa von der Praktik des Lesens des bürgerlichen Subjekts oder von Praktiken des unternehmerischen Selbst sprechen, sondern auf die je fallspezifisch zu rekonstruierende Art und Weise von Lehrenden und Lernenden einer bestimmten Lerngruppe oder Schule, Lernen aufzuführen. So können sich etwa – wie wir beobachtet haben – die pädagogischen Praktiken der Aufgabenstellung und der Aufgabenbearbeitung, des Unterrichtsgesprächs, der individuellen Zuwendung und der kooperativen Bearbeitung von Aufgaben im Wochenplanunterricht der einen Lerngruppe oder Schule von denen im Wochenplanunterricht einer anderen Lerngruppe oder Schule deutlich unterscheiden. Erst eine kontrastierende Typisierung dieser fallspezifischen Rekonstruktionen könnte es dann erlauben, das Allgemeine dieser Praktiken empirisch auszumachen.

Um nun Hypothesen zur Lernkultur einer Lerngruppe oder Schule entwickeln zu können, haben wir eine Heuristik zur Differenzbearbeitung entwickelt, die aus unseren oben dargestellten praxistheoretischen Annahmen und den ersten empirischen Analysen unserer Videodaten entwickelt wurde. Die im Folgenden knapp zu skizzierende Heuristik, ist nicht als ein abgeschlossenes Untersuchungsinstrument zu verstehen, sondern als eine noch weiterzuentwickelnde Hilfe bei der Auswertung der Videodaten, als „sensitizing concept“ (Blumer 1954). Aus unseren konstitutionstheoretischen Annahmen zur sozialen Praxis und unseren objekttheoretischen Annahmen zu den Dimensionen der Bearbeitung von Differenzen in pädagogischen Praktiken, aus denen die Lernkultur hervorgeht, ergibt sich eine zweidimensionale Matrix. Konstitutionstheoretisch werden dabei vier Ebenen des Sozialen – Körper, Interaktion, Artefakte, Raum/Zeit – mit drei Differenzbezügen – soziale Ordnung, Vermittlung/Aneignung, schulisch anerkanntes Wissen – in Beziehung gesetzt (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1 : Matrix

Die Trennung der unterschiedlichen Ebenen und Bezüge ist eine analytische, in der Ausdrucksgestalt pädagogischer Praktiken sind sie miteinander verschränkt. Wir unterscheiden für unsere Untersuchung in der ersten Dimension eine Ebene des Körperlichen, der Formung der Körper von Lernenden und Lehrenden, eine zweite Ebene der Deutungszusammenhänge der Interaktion, eine dritten Ebene des Materiellen, d. h. der Gestaltung und des Umgangs mit Artefakten, z. B. mit Medien, mit Arbeitsmaterialien und Möbeln, und eine vierte Ebene der Dispositionen der Zeit- und Raumerfahrung durch die Gestaltung von Räumen und Zeiten.

In der zweiten Dimension, den Spalten, führen wir die genannten Differenzbezüge auf. Als erster Differenzbezug interessiert uns, wie in Unterscheidung zu anderen Rahmungen außerhalb des Unterrichts beziehungsweise der Angebote die soziale Ordnung des jeweiligen Kontextes hergestellt wird. Wir hatten oben bereits darauf hingewiesen, dass es hier insbesondere um die Analyse der Praktizierung von Regeln, von Geboten und Verboten in sozialen Hierarchisierungen der Lerngruppe geht. Ein wesentliches Kriterium, entlang dessen in der Schule Hierarchien praktisch erzeugt werden, ist die Leistung beziehungsweise Leistungsfähigkeit der Schüler(innen). Auch in eher offen strukturierten unterrichtlichen Angeboten der Grundschulen – um ein Beispiel zu nehmen, das nicht bereits auf den ersten Blick auf das Phänomen der Hierarchisierung verweist – gehört die Erzeugung von Asymmetrie notwendig zur Lernkultur dazu. In vielen „Hilfe“-Situationen unter Schülern und Schülerinnen können wir beobachten, wie die sehr guten Schülerinnen sich körperlich ausbreitend, raumgreifend Autorität inszenieren und wie sie dazu beitragen, nicht nur die weitere Arbeit zu strukturieren, sondern die Ordnung des offenen Unterrichts zu gewährleisten.

In der zweiten Spalte fragen wir, wie Lernende beziehungsweise Lernende und Lehrende die Unterscheidung zwischen Aneignung und Vermittlung in ihren Praktiken erzeugen bzw. gestalten. In der Auswertung von Unterrichtsszenen zu diesem Differenzbezug fragen wir z. B., wie sich ein Schüler als Lernender oder auch als Lehrender körperlich darstellt. Dann fragen wir bezüglich der Interaktion von Lernenden mit Lehrenden oder anderen Lernenden, wie diejenigen adressiert werden, die lernen sollen, wie die anderen angesprochen werden, die lehren, und wie sie sich jeweils auf die Sache des Unterrichts beziehen. Dabei können sich auch die Positionen zwischen Schülern und Schülerinnen oder zwischen einem Schüler und einem Lehrer im Verlauf einer Interaktion verändern. Darüber hinaus untersuchen wir, welche Bedeutung den Schulmaterialien hierbei zukommt, und wir richten die Aufmerksamkeit darauf, wie zwischen Aneignung und Vermittlung durch Gliederung des Raumes und der Zeit unterschieden wird. Was wir nicht untersuchen, ist das kontingente Verhältnis zwischen dem, was gelehrt wird, und dem, was gelernt wird. In Bezug auf die Lernkultur einer Lerngruppe oder Schule kann sich beispielweise zeigen, dass in der Interaktion stets dieselbe Option – wie z. B. die Belehrung im Sinne des Instruierens, Zeigens und Vormachens – oder, in einem anderen Fall, die des Sich-Aneignens im Sinne des eigenständigen Machenlassens und Entdeckens – realisiert wird. Unser Fokus wäre dann darauf gerichtet, dass im ersten Fall die Schüler(innen) beispielsweise als Unwissende, im zweiten Fall eher als potentielle Entdecker(innen) von Wissen adressiert würden. Wissen würde im einen Falle als zu besitzender Stoff, im anderen Falle als immer neu zu Produzierendes markiert.

In der dritten Spalte interessiert uns die grundlegende Frage, wie sich die schulische Wissensordnung praktisch ausformt: Wie wird das markiert, was gelernt werden soll, und wie wird das markiert, was nicht relevant ist für schulisches Lernen? Wie wird beispielsweise der Buchstabe zu dem gemacht, was gelernt werden soll? Der Unterschied zwischen schulisch relevantem Wissen und schulisch nicht-relevantem Wissen ist z. B. in der Differenz zwischen offiziellem Schulwissen und subjektiven Weltversionen ständig zu bearbeiten. Dieses Wissen ist, im Sinne unseres weit gefassten Wissensbegriffs, der sich auch auf implizites, prozedurales Wissen im Sinne eines Könnens erstreckt, nicht nur gebunden an den Inhalt oder die Sache, die didaktisch eingespeist wird, sondern umfasst auch Wissen darum, wie etwas vonstatten geht und welche Regeln Anwendung finden.

4. Fazit: Lernkultur, Unterrichtsforschung und ‚empirische Didaktik’

Die skizzierte sozialtheoretische und methodologische Konzeption einer Lernkulturforschung ermöglicht erstens eine Untersuchung der intermediären Ebene zwischen derjenigen einzelner Unterrichtsstunden und einer schulübergreifenden Lernkultur. In der qualitativen und der quantitativen Unterrichtsforschung werden institutionelle Merkmale der Einzelschule zumeist außer Acht gelassen, da sie nicht zu den im Unterrichtsprozess selbst deutlich werdenden Faktoren guten Unterrichts (wie z.B. time on task) gerechnet werden. Die Forschung zur Schule als Institution, etwa die oben bereits genannten Untersuchungen zur Schulkultur von Helsper und seiner Forschungsgruppe (vgl. Helsper et al. 2001), nehmen hingegen den Unterricht oft gar nicht in den Blick. Offen bleiben also Fragen zum Verhältnis von Unterricht und Schulkultur, etwa in welcher Weise das Unterrichtsgeschehen durch Elemente der Schulkultur beeinflusst ist, ob beispielsweise bestimmte Probleme der Unterrichtsentwicklung mit bestimmten Merkmalen der Schulkultur einhergehen. Mit der Rekonstruktion der Lernkultur lassen sich nun jene Praktiken herausarbeiten, die über die einzelne Lerngruppe hinaus für Aneignungs- und Vermittlungsprozesse von Lehrenden und Lernenden in einer Schule typisch sind. Mit der Verwendung des Begriffs „Kultur“ ist dabei immer verbunden, dass wir eine mehr oder weniger fragile Einheit unterstellen, also davon ausgehen, dass es an den Schulen eine je dominante (hegemoniale) Lernkultur gibt. Bei der Rekonstruktion von Lernkultur fokussieren wir also auf Strukturen, die über die Einzelstunde hinaus schulweit in ähnlicher Weise zum Tragen kommen. Die Unterstellung einer Einheit impliziert allerdings auch, dass es immer noch etwas anderes gibt, etwas, das sich nicht auf breiter Ebene durchsetzen kann, möglicherweise aber toleriert wird.

Zweitens ermöglicht diese methodologische Grundlegung einer qualitativen Unterrichtsforschung die empirische Untersuchung offener Lernarrangements – ein bislang in der qualitativen Unterrichtsforschung beklagtes Desiderat (vgl. Breidenstein 2002; Henkenborg 2002; Schelle 2003). In der qualitativ-rekonstruktiven Unterrichtsforschung sind bisher hauptsächlich einzelne Unterrichtsstunden in Bezug auf die Lern- und Aneignungschancen der Schüler und Schülerinnen untersucht worden. Dabei überwiegt die Untersuchung von lehrergesteuerten Unterrichtssituationen, da sich nur hier der Unterricht als Gesamtes in einem zentralen Ablauf abbilden lässt (vgl. Breidenstein 2002). Dezentral verlaufende Prozesse in offenen Unterrichtsarrangements lassen sich kaum mehr überblicken, geschweige denn selbst mit technischen Hilfsmitteln als linearer Ablauf dokumentieren. Und die wenigen qualitativen Untersuchungen hierzu fokussieren die Formen der Zusammenarbeit der Schüler und Schülerinnen innerhalb offener Arrangements (z. B. bei der Wochenplanarbeit – vgl. zusammenfassend Rabenstein/Reh 2007). Mit dem Konzept der Lernkultur lassen sich nun diskursive und nicht-diskursive Praktiken von Lernenden und Lehrenden in offenen, also dezentral arrangierten beziehungsweise auch außerunterrichtlichen Lernarrangements untersuchen. Verlassen wird damit das Vorhaben, vornehmlich einen roten Faden des Unterrichts im Sinne eines Phasenablaufs zu rekonstruieren und statt einer Unterscheidung in Vorder- und Hinterbühne kann diejenige zwischen Zentrum und Peripherie gemacht werden. Wir stellen Zusammenhänge her zwischen verschiedenen Praktiken als Teil von Lernkultur, wie z. B. der Interaktion der Schüler und Schülerinnen miteinander, dem Umgang der Lernenden mit Wissen, dem Umgang mit Materialien etc., wie wir mit unseren heuristischen Überlegungen des vorigen Abschnitts beschrieben haben.

Drittens ermöglicht dieses Vorgehen die empirische Untersuchung pädagogischer Praktiken ohne Reduzierung auf die didaktische Perspektive. Bislang gibt es in der qualitativen Unterrichtsforschung zum einen Untersuchungen, die fachliche Lehr-Lernprozesse aus didaktischer Perspektive untersuchen (vgl. z.B. Richter 2000; Krummheuer/Fetzer 2005). Zum anderen werden ethnographische Beobachtungen von Schülerpraktiken im Klassenzimmer durchgeführt, die bewusst auf eine didaktische Perspektive verzichten (vgl. z. B. Breidenstein 2006). Unsere Beobachtungen ermöglichen die Aneignungs- und Vermittlungsprozesse von Lernenden und Lehrenden sowohl im Hinblick auf ihre didaktische Bedeutung als auch im Hinblick auf andere, latente Gehalte zu untersuchen. Es kommen Praktiken von Schülern und Schülerinnen und Lehrpersonen jenseits der Frage, was der Lehrende damit erreichen will, welche didaktische Intention er hat, in den Blick. Damit eröffnen unsere Beobachtungen gegenüber didaktischen Analysen erweiterte Reflexionsmöglichkeiten und weisen möglicherweise einen konzeptuellen Weg in die Richtung einer „empirischen Didaktik“, die für die variierenden Muster von Lernsituationen sensibilisiert, in welchen sich alle Beteiligten tagtäglich an der „Praktizierung“, an der praktischen Aufführung einer Lernkultur im institutionellen Rahmen der Schule abarbeiten.

Anmerkungen

  1. 1

    Wir verwenden den Begriff der pädagogischen Praktiken nicht in einem – im Alltagsgebrauch üblichen – aktorzentrierten Sinn, nämlich als auf die Praktiken von Lehrern und Lehrerinnen bzw. Pädagogen bezogen. Der Begriff umfasst in gleicher Weise die Praktiken der Schülerseite.

  2. 2

    Wir nutzen – ohne das im Einzelnen hier näher ausführen zu können – statt des Begriffs der Sozialisation den der Subjektivierung, um deutlich zu machen, dass es sich um einen offenen Prozess handelt, Subjektivität als eine historisch spezifische Praktik zu verstehen ist, in der sich die Menschen zu sich selbst, zu anderen und zur Welt in ein Verhältnis setzen (vgl. z. B. Ricken 2002, 2004).

  3. 3

    Wir orientieren uns mit einem solchen Verständnis von Macht, das diese nicht gleichsetzt mit Herrschaft und Unterdrückung, sondern sie als eine wirkende, produktive, Wissen produzierende Kraft versteht, die etwa in der Subjektivierung in einer doppelten Bewegung sowohl unterwirft wie auch ermächtigt, an Foucault (vgl. 1983, 1987, vgl. dazu auch die Lesart von Butler 2001).