1. Einleitung

In den letzten Jahren sind nicht nur einige neue, zum Teil internationale quantitative Forschungen im Bereich der Grundschule durchgeführt worden. Es hat auch eine Reihe qualitativer Untersuchungen gegeben; zu diesen gehört die „Berliner Ritualstudie“. In dieser an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ auf zwölf Jahre angelegten, viermal evaluierten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten umfangreichen Studie in einer innerstädtischen Berliner Grundschule und ihrem Umfeld wurden Erziehungs-, Bildungs- und Lernprozesse in den vier Sozialisationsfeldern „Schule“, „Familie“, „Peer-Gruppen“ und „Medien“ untersucht. In bisher drei von vier geplanten Gesamtstudien (Wulf et al. 2001, 2004, 2007) und sechs von zehn geplanten Einzelstudien (Wagner-Willi 2005; Tervooren 2006; Bausch 2006; Audehm 2007; Jörissen 2007a; Kellermann 2008) entsteht ein komplexes Bild von Erziehung, Bildung und Lernen von Kindern im Grundschulalter (Grunert/Krüger 2007). In diesen Untersuchungen wird deutlich, wie vielfältig die Lernprozesse sind, die von Kindern im Grundschulalter und von Jugendlichen erwartet werden. Wie der UNESCO-Bericht „Learning: The Treasure Within“ geht diese Studie daher von einem Lernbegriff aus, der Wissen-Lernen, Handeln-Lernen, Zusammenleben-Lernen und Sein-Lernen umfasst (Delors 1996) und macht deutlich, dass eine Reduktion kindlichen Lernens auf bloßes Wissen-Lernen vermieden werden muss, damit keine ungewollten Nebenwirkungen entstehen (Göhlich/Wulf/Zirfas 2007).

Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen des Grundschulalters steht eine innerstädtische Primarschule mit 340 Kindern, von denen etwa eine Hälfte Deutsch als Muttersprache spricht und die andere Hälfte etwa zwanzig unterschiedliche Migrationshintergründe hat. Diese Schule ist durch ihre reformpädagogische Tradition und ihren Charakter als UNESCO-Modell-Schule charakterisiert. Aus dieser Schule wurden auch die Kinder ausgewählt, in deren Familien Rituale und Ritualisierungen untersucht wurden. Entsprechendes gilt für die Peer-Gruppen-Untersuchungen und die Erforschung des Medienumgangs. In einigen Fällen wurden zusätzlich Jugendliche aus dem schulischen Umfeld in die Untersuchung einbezogen, wodurch der Fallstudiencharakter der Studie erweitert wurde (Diederich/Wulf 1979; Kraimer 2000).

Die Ergebnisse dieses ethnographischen Projekts sind umfangreich und lassen sich in einem Zeitschriftenbeitrag nur ansatzweise darstellen. Daher sollen lediglich fünf zentrale Ergebnisse der Studie dargestellt werden, die sich thesenartig wie folgt zusammenfassen lassen:

  1. 1)

    Rituale und Ritualisierungen haben eine zentrale Bedeutung in der Erziehung, Bildung und Sozialisation von Kindern im Grundschulalter. Sie strukturieren deren Leben und unterstützen sie dabei, sich in eine soziale Ordnung einzufügen und mit dieser konstruktiv umzugehen. Rituale gestalten Übergänge zwischen Sozialisationsfeldern und Institutionen und ermöglichen das für Unterricht und Schule so wichtige soziale Lernen.

  2. 2)

    Aufgrund ihrer Performativität wirken pädagogische Praktiken wie Rituale und Ritualisierungen in allen Sozialisationsfeldern. Die Performativität von Handlungen zeigt sich darin, wie Kinder ihr Verhalten und Handeln allein bzw. gemeinsam mit Erwachsenen inszenieren und aufführen. Mit dem performativen Charakter erzieherischer und sozialer Praktiken wird deren Körperlichkeit bezeichnet.

  3. 3)

    Wichtige Teile kulturellen Lernens im Grundschulalter vollziehen sich in mimetischen Prozessen. In diesen werden Bilder, Schemata, Vorstellungen von anderen Menschen, von sozialen Situationen, Ereignissen und Handlungen inkorporiert und in die mentale Bilderwelt eingegliedert. Dadurch wird ein praktisches Wissen erworben, das Kinder fähig macht, gemeinsam zu lernen und zu handeln, zu leben und zu sein.

  4. 4)

    Angesichts der Globalisierung und Europäisierung ist Erziehung und Bildung in Europa heute eine interkulturelle Aufgabe, für deren Wahrnehmung Rituale und Ritualisierungen, pädagogische und soziale Gesten, die Performativität sozialer Praktiken und mimetische Formen des Lernens eine große Rolle spielen.

  5. 5)

    Ethnographie und qualitative Methoden eignen sich für die Erforschung von Ritualen und Ritualisierungen, der Performativität pädagogischer Praktiken, von mimetischen Prozessen und interkulturellen Bildungsprozessen. Zu den wichtigsten Methoden, die einander ergänzen und daher nach Möglichkeit miteinander verschränkt wurden, gehören die Teilnehmende Beobachtung, die Videogestützte Beobachtung, die Videoinszenierung und die Fotoanalyse sowie Interviews und Gruppendiskussion. Mit Hilfe dieser Methodenvielfalt wird versucht, möglichst komplexe und methodisch nachvollziehbare Untersuchungsergebnisse zu erarbeiten.

2. Die Dynamik von Ritualen in Erziehung, Bildung und Sozialisation

Die „Berliner Ritualstudie“ konnte die zentrale Bedeutung von Ritualen und Ritualisierungen in allen Sozialisationsfeldern nachweisen und damit dazu beitragen, die Ritualforschung zu einem international akzeptierten Thema der Erziehungswissenschaft zu machen (Wulf et al. 2001, 2004, 2007; Montandon 2005; Délory-Momberger 2005; Hatchuel 2005; Le Breton 2005). Sie konnte darüber hinaus die erziehungswissenschaftliche Ritualforschung zu einem in der internationalen Ritualforschung akzeptierten Bereich machen (Boëtsch/Wulf 2005; Wulf 2006a, 2007a; Wulf et al. 2008). Die Berliner Ritualstudie konnte nachweisen, dass Ritualen und Ritualisierungen nicht nur in der Schule und in der Familie erhebliche Bedeutung zukommt, sondern dass sie auch in der Peer-Kultur und in den Medien eine große Rolle spielen. In ethnographischen Einzelstudien konnte gezeigt werden, welche Formen und Funktionen Rituale und Ritualisierungen in den verschiedenen Sozialisationsfeldern haben.

Im Bereich „Familie“ konnte z.B. anhand der Untersuchung von Frühstücksritualen verdeutlicht werden, wie wichtig diese gemeinsame Mahlzeit für die Vorbereitung der Familienmitglieder auf den anstehenden Tag ist. Beim Frühstück erfolgt eine Selbstvergewisserung der Familien; es entstehen Gefühle der Zugehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit (Audehm/Zirfas 2001). Indem unmittelbar anstehende schulische Probleme besprochen werden, erfolgt häufig eine familiäre Vorbereitung der Kinder auf die Schule und ihre Anforderungen. In diesen alltäglichen rituellen Interaktionen zwischen den Eltern und Kindern und zwischen den Kindern werden Gender-Zuschreibungen erfahren und Gender-Rollen gelernt. In Tischritualen werden Differenzen und Konflikte ausgetragen und bearbeitet, deren potentielle Destruktivität mittels der sozialen Magie des rituellen Arrangements kanalisiert wird (Audehm 2007). Neben diesen Alltagsritualen erzeugen auch familiäre Feiern und Feste die Kohärenz der Familie. Zu diesen Ritualen gehören das Weihnachtsfest, der Kindergeburtstag, die Konfirmation und der Familienurlaub. In zwei Einzelstudien wurde gezeigt, wie sich das religiöse Ritual der Konfirmation zu einem rituellen Familienereignis wandelt, in dem etwas von der Sakralität der Liturgie auf die Familie übergeht (Tervooren 2004) und in dem eine neue Verbindung von Glauben, Wissen und Können entsteht (Audehm 2004). Auch der jährliche Familienurlaub lässt sich als ein Ritual begreifen, in dem durch neue gemeinsame Erfahrungen eine Gemeinschaft erzeugende Kraft entsteht. Für dieses Ritual sind die Suspendierung der Leistungserwartungen des Alltags und die daraus entstehende Offenheit für neue Erfahrungen der Familienmitglieder miteinander charakteristisch. In Übereinstimmung mit Familienstil und Familienkultur lassen sich verschiedene familiäre Lernkulturen identifizieren, die auch zu einer unterschiedlichen Verarbeitung der gemeinsamen Urlaubserfahrungen führen (Nentwig-Gesemann 2007). Darüber hinaus machen zwei umfangreiche Einzelstudien deutlich, wie wichtig Rituale und rituelle Arrangements für die familiäre Kohärenz und Dynamik sind.

Schulen sind in hohem Maße rituell organisierte Institutionen. Bei den schulischen Ritualen reicht das Spektrum von einmaligen schulischen Feiern anlässlich der Verleihung des Status einer UNESCO-Modellschule und des Status einer Schule besonderer pädagogischer Prägung (Wulf 2004a) über repetitive schulische Makrorituale wie die jährliche Einschulung oder Ausschulung von Kindern (Zirfas 2004; Göhlich 2004; Kellermann, im Druck), Sommerfeste (Wulf 2004b) und Adventsveranstaltungen (Wagner-Willi 2004a) bis zu den zahlreichen unterrichtlichen Ritualen, mit denen die Übergänge zwischen Pause und Unterricht (Göhlich/Wagner-Willi 2001; Wagner-Willi 2005) und die Struktur und Sequenz der verschiedenen unterrichtlichen Lernkulturen gestaltet werden (Göhlich/Zirfas 2007; Wagner-Willi 2007; Wulf 2007b; Blaschke/Ferrin 2007).

Die von uns untersuchte Grundschule zeichnet sich durch einen bewussten Umgang mit Ritualen für die Gestaltung der schulischen und unterrichtlichen Gemeinschaft aus. Die hier arbeitenden Lehrer und Lehrerinnen haben ein klares Bewusstsein von der Bedeutung von Ritualen und Ritualisierungen für eine differenzierte Schul- und Lernkultur und deren Entwicklung. Dazu greifen sie auf reformpädagogische Traditionen wie den Montagmorgenkreis zurück, mit dessen Hilfe der Übergang von den am Wochenende gelebten Familien-, Medien- und Peer-Kulturen zur Schul- und Unterrichtskultur inszeniert und aufgeführt wird. Andere Rituale werden erfunden, wie das gemeinsame Frühstück mit den Kindern in der ersten Pause oder die mit einem Gong angezeigten Minuten der Stille und Besinnung. Nach Überzeugung der Lehrer und Lehrerinnen hängt die Tatsache, dass es an dieser innerstädtischen Primarschule keinen Vandalismus gibt, damit zusammen, dass sich hier das Soziale in Ritualen konstituiert, bei deren Inszenierung und Aufführung sich die Kinder mit der Schule identifizieren.

Auch Peer-Kulturen konstituieren sich zu einem erheblichen Maß in und mit Ritualen. Dies konnten mehrere unserer Einzelstudien nachweisen. So konnte z.B. gezeigt werden, dass der performative Charakter von Pausenspielen auf dem Schulhof Kinderkulturen erzeugt (Tervooren 2001). Oder es konnte deutlich gemacht werden, wie sich Prozesse gemeinschaftlichen Lernens im Breakdance vollziehen. Ferner ließ sich herausarbeiten, wie sich Kinder und Jugendliche durch Zeigen und Nachmachen in mimetischen Prozessen Bewegungsmuster und Bewegungsabläufe aneignen und wie sie lernen, rituelle Kämpfe zu inszenieren und aufzuführen sowie sich in diesen zu behaupten und durchzusetzen (Althans/Schinkel 2007). Auch in den Streetdance-Kämpfen adoleszenter Mädchen geht es darum, in rituellen Arrangements gezügelte Aggressionen zu entwickeln, zu inszenieren und aufzuführen und in den entsprechenden battles zu siegen (Tervooren 2007). Schließlich konnte herausgearbeitet werden, wie wichtig Peer-Kulturen für die Entwicklung von Gender-Zugehörigkeit sind (Tervooren 2006).

Kinder und Jugendliche lernen mit und durch Medien. Wie am Beispiel ritueller Medieninszenierung in Peergruppen gezeigt werden konnte, verfügen Kinder – unabhängig davon, welchen Migrationshintergrund sie haben – über Bilder, Vorstellungen und Schemata aus dem deutschen Fernsehen, die sie nach Bedarf abrufen und für die Gestaltung eigener filmischer Inszenierungen verwenden können, in denen sie filmische Szenen mit Hilfe verinnerlichter Muster von „Werbespots“, „Talkshows“ und „Kriminalfilmen“ gestalten (Bausch/Sting 2001; Bausch 2006). Nach diesen Untersuchungen sind es rituelle Muster aus Fernsehsendungen, die sich nachhaltig in das Gedächtnis der Kinder einschreiben und sich daher besonders gut zur Weitergabe und Weitergestaltung eignen. Neben dem Fernsehen hat heute auch der rituelle Umgang mit dem Computer eine wachsende Bedeutung. So wurde die rituelle Gestaltung techno-sozialer Lernarrangements im Computerunterricht und im Kinderclub untersucht (Jörissen/Mattig 2007). Auch wurden neue Computer-bezogene informelle Lernkulturen in Online-Communities sowie ihre medialen Rahmungen und rituellen Gestaltungsweisen untersucht (Jörissen 2007a). Die hier entstehenden neuen Lernformen, die, wie die LAN-Partys, auch neue Formen der Jugendkultur schaffen, wurden bisher wenig erforscht (Bausch/Jörissen 2004).

Aus diesen Untersuchungen in den vier großen Sozialisationsbereichen ergeben sich einige Merkmale, die für Rituale im Bereich der Grundschule und die Sozialisation von Kindern von zentraler Bedeutung sind und die darüber hinaus auch einen Beitrag zur internationalen erziehungswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Ritualforschung liefern (Wulf 2005a, 2005b, 2006a, 2007a; Wulf/Zirfas 2003, 2004a, 2004b). Rituale konstituieren das Soziale und erzeugen Gemeinschaften, in denen die Kinder ihren Ort haben. Neben dem symbolischen Gehalt ihrer Interaktions- und Kommunikationsformen erfolgt die Gemeinschaftsbildung vor allem dadurch, dass diese rituellen Praktiken performativ sind, also Gemeinschaft inszenieren und aufführen. Dabei erzeugen sie eine Ordnung, für deren Herausbildung Machtbeziehungen eine wichtige Rolle spielen. Durch Regelmäßigkeit und Wiederholung werden diese Beziehungen zwischen den Kindern und zwischen den Erwachsenen und den Kindern bestätigt bzw. modifiziert. Rituale und Ritualisierungen haben einen Anfang und ein Ende. Sie sind durch ihre Dynamik gekennzeichnet, die Anpassungen und Veränderungen des kindlichen Verhaltens bewirkt. Ihre körperlichen Praktiken schaffen Handlungsformen, Bilder und Schemata, mit denen sich Kinder identifizieren, die sie erinnern, und in deren Inszenierung und Aufführung neue Handlungsformen emergieren.

In mimetischen Prozessen entwickeln die an Ritualen beteiligten Kinder ein praktisches Wissen, das die Grundlage ihrer rituellen bzw. sozialen Handlungskompetenz bildet. Im mimetischen Prozess nehmen sie „Abdrücke“ von rituellen Handlungen und inkorporieren sie. Der repetitive Charakter von Ritualen und Ritualisierungen bewirkt, dass Kinder immer wieder diese mentalen „Abdrücke“ aufrufen, sie an neue Situationen anpassen und sich dadurch ihrer Gemeinschaft in Schule und Unterricht, Familie und Peer-Gruppe vergewissern. Rituale bilden das soziale Gedächtnis solcher Gemeinschaften. Sie bringen vergangene Ereignisse wieder in die Gegenwart und machen sie zur Grundlage zukünftigen Handelns. Sie suggerieren Kindern Kontinuität und vermitteln ihnen dadurch Sicherheit und Verlässlichkeit. Indem Kinder in Ritualen und rituellen Arrangements gemeinsam mit anderen Kindern zielgerichtet handeln, bearbeiten sie auch die zwischen ihnen bestehenden Differenzen, die sie zurückzustellen oder zu beseitigen lernen, damit sie gemeinsam handeln können. Verschiedentlich wurde gezeigt, dass die in Gruppen vorhandenen Gewaltpotentiale durch Rituale kanalisiert werden (Tervooren 2007). Durch Rituale werden Kinder besonders dann geformt, wenn sie an diese glauben, wenn zwischen ihnen ein „Fließen“ von Emotionen stattfindet und die Rituale ihre „magischen“ Wirkungen entfalten können. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Rituale deutlich zwischen „außen“ und „innen“ unterscheiden, wenn sie Grenzziehungen vornehmen und ihren ludischen Aspekten genügend Raum geben (Wulf 2001). Dabei muss auch gesehen werden, dass Rituale inkludieren und exkludieren und dass diese Prozesse auch gewalthaltig sind und zu Einschränkungen und Unterdrückungen führen können.

3. Die Performativität pädagogischer Praktiken

Mit der Erforschung von Ritualen bei Kindern im Grundschulalter gingen die Fokussierung der Performativität pädagogischer Praktiken und Überlegungen zu einer Pädagogik des Performativen einher (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Wulf/Zirfas 2007). War die geisteswissenschaftliche Pädagogik davon ausgegangen, dass sich Erziehungssituationen wie Texte lesen lassen (Wulf 1992), so kommt mit der Akzentuierung des Performativen pädagogischer Praktiken eine neue Dimension zur Hermeneutik der Erziehungswirklichkeit hinzu. Mit dieser Dimension werden die in der Kulturanthropologie von Geertz und anderen entwickelten Überlegungen über die Notwendigkeit einer „dichten Beschreibung“ und über Kultur als eine „Montage von Texten“ ergänzt (Geertz 1995). Nun wird nicht mehr wie in der klassischen Hermeneutik davon ausgegangen, dass der historisch gewordenen Erziehungswirklichkeit eine Sinnstruktur innewohnt, die es lediglich herauszuarbeiten gelte. Vielmehr zeigt sich nach den umfangreichen Diskussionen über die „Krise der Repräsentation“ (Berg/Fuchs 1993) und der Einsicht in die doppelte Geschichtlichkeit und Kulturalität aller Aussagen über kulturelle Handlungsfelder (Wulf 2004b), dass weder die Innensicht der Handelnden noch die Außensicht der Forscher eine objektive Sinnstruktur des Erziehungsfelds herausarbeiten kann. Mit der Akzentverschiebung der Aufmerksamkeit der Forschung von der Hermeneutik der Erziehungswirklichkeit zur Performativität pädagogischer Praktiken wird weniger die Frage fokussiert, ob die Repräsentationen und Interpretationen „wahr“ sind, als vielmehr die Frage, wie mit diesen Sinndeutungen und Repräsentationen umgegangen wird.

Spricht man von der Performativität von Erziehungs- und Lernprozessen, so liegt der Akzent auf deren Inszenierung und Aufführung und ihrem Wirklichkeit konstituierenden Charakter. Untersucht wird der Zusammenhang zwischen körperlichem und symbolischem Handeln. Im Mittelpunkt der Forschung stehen Erziehung und Lernen als Prozesse dramatischer Interaktionen, in denen sich körperliches und sprachliches Handeln überschneiden, in denen soziale Szenarien und mimetische Zirkulationsprozesse wichtig sind, die mithilfe ethnographischer Methoden untersucht werden können. Die Fokussierung des Performativen impliziert ein Verständnis von Erziehungswissenschaft als Handlungswissenschaft und damit ein Interesse an der Entstehung praktischen Wissens als Bedingung erzieherischen Handelns.

In der „Berliner Ritualstudie“ liegt der Akzent auf der Untersuchung der Performativität der Lern- und Interaktionsprozesse der Kinder in den vier großen Sozialisationsfeldern, in denen erforscht wird, wie Kinder lernen, wie sie ihr Lernen inszenieren, und wie dieses sich in den Interaktionen mit anderen Kindern vollzieht. Unsere Untersuchungen in der Grundschule zeigen, wie Kinder über weite Strecken des Unterrichts ihr eigenes Lernprogramm verfolgen, das sie neben und manchmal auch gegen das offizielle Unterrichtsprogramm setzen. Im Mittelpunkt „ihres“ Lernprogramms steht die Auseinandersetzung mit anderen Kindern, die wieder gesucht, inszeniert und aufgeführt wird. Dabei spielt die Frage, wie sich Jungen von Mädchen und Mädchen von Jungen abgrenzen und Gender-Identität entwickelt wird, eine wichtige Rolle (Wagner-Willi 2004b; Tervooren 2006; Wulf 2007b). Der Wunsch der meisten Kinder, ihr Handeln auch selbst zu inszenieren, zeigt sich nicht nur in „ihrem“ Lernprogramm; auch im Unterricht entstehen – zum Teil ausdrücklich von den Lehrern und Lehrerinnen gefördert – immer wieder Szenen, in denen deutlich wird, wie die Kinder sich und ihr Lernen aufführen. Solche Situationen bilden sich vor allem dann, wenn der Unterricht Gelegenheit zur Eigeninitiative gibt. Wenn poietisches Lernen stattfindet und gefördert wird, emergieren auch entsprechende Aktivitäten der Kinder (Göhlich/Zirfas 2007; Wagner-Willi 2007; Wulf 2007b; Suzuki/Wulf 2007).

Unsere Untersuchungen zur Performativität pädagogischer Praktiken und kindlicher Formen des Lernens finden im Zusammenhang mit der Erforschung der performativen Dimensionen von Kultur statt, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität durchgeführt werden (Fischer-Lichte/Wulf 2001, 2004). Sie erfolgen in Auseinandersetzung und Weiterentwicklung einiger Diskurse, die für die Pädagogik unterschiedlich anschlussfähig sind: 1) die performative Sprechakttheorie John Austins, in der Aussagen als Handlungen begriffen werden; 2) die Transformationsgrammatik von Noam Chomsky mit der Diskussion über die Differenz zwischen Performanz und Kompetenz; 3) die kulturwissenschaftlichen Diskussionen über performance art; 4) die Gender-Diskussion im Anschluss an Judith Butler, die gezeigt hat, wie wichtig die rituelle Ansprache des Geschlechts eines Mädchens oder Jungens für die Herausbildung der Gender-Identität ist. Neben der konstruktiven Mitwirkung an diesen epistemologischen Diskussionen hat die „Berliner Ritualstudie“ herausgearbeitet, wie fruchtbar es ist, die Performativität pädagogischer Praktiken und kindlicher Lernprozesse zu fokussieren und diese mit qualitativen Methoden zu erforschen (Bohnsack 2005, 2007). Durch die qualitative Erforschung der Performativität von Lernprozessen wurde auch in methodischer Hinsicht ein Beitrag zur Grundsatzdiskussion über Performativität erarbeitet, der noch weiterer Ausarbeitung bedarf.

4. Kulturelles Lernen als mimetisches Lernen

Bereits Aristoteles sah, dass Menschen sich von allen anderen Lebewesen durch ihre ausgeprägten mimetischen Fähigkeiten unterscheiden (Aristoteles 1984). Bestätigt und weiterentwickelt wurde diese Erkenntnis in einer umfangreichen anthropologischen Studie zur Konzeption und Geschichte der Mimesis (Gebauer/Wulf 1992) und zur Bedeutung mimetischer Prozesse in anderen Kulturen (Taussig 1993; Gebauer/Wulf 1998, 2003). Auch neuere Arbeiten zur Primatenforschung belegen, dass bereits acht Monate alte Kinder über eine weiter entwickelte mimetische Kompetenz verfügen als sie non-humane Primaten jemals erreichen können (Tomasello 2002). Ebenso zeigen neuere Arbeiten über „mirror neurons“, dass bei der Wahrnehmung von Handlungssituationen im Gehirn die gleichen Prozesse wie beim Handeln selbst zu beobachten sind (Rizzolati/Craighero 2004; Fogassi et al. 2005). Schließlich konnte auch die „Berliner Ritualstudie“ in allen vier untersuchten Sozialisationsfeldern die zentrale Bedeutung mimetischer Prozesse für Erziehung, Bildung und Lernen nachweisen (Wulf et al. 2001, 2004, 2007). Daraus folgt: Große Teile kulturellen Lernens vollziehen sich mimetisch, z.B. beim Erwerb von rituellem und praktischem Wissen (Wulf 2006a), sozialer Kompetenz und Gender-Identität (Tervooren 2006), ästhetischen Erfahrungen (Gebauer/Wulf 2003; Hüppauf/Wulf 2006, 2008; Wulf 2007b; Imai/Wulf 2007). Entsprechendes gilt für die Verarbeitung von Lebenswelten und Atmosphären (Benjamin 1980) und den Umgang mit den Neuen Medien (Jörissen 2007b).

Verdeutlichen wir uns Prozesse mimetischen Lernens an einem Beispiel: Eine Gruppe acht- bis zwölfjähriger Mädchen hatte im Rahmen einer Projektwoche den „Mambo Nr. 5“ von Lou Bega unter Bezugnahme auf den dazu gehörenden Videoclip für eine Aufführung während des schulischen Sommerfestes einstudiert. In diesem „Song“ wird der deutsch-afrikanische Sänger von mehreren jungen Frauen umschwärmt, denen gegenüber er sich unterschiedlich werbend und abweisend verhält. In dem dazu gehörenden Videoclip umtanzen und umschmeicheln mehrere sehr attraktive junge Frauen den Sänger in den Rhythmen des Mambos. Während des schulischen Sommerfestes tanzen nun die adoleszenten Mädchen den Mambo auf einer extra für solche Aufführungen errichteten Bühne vor den Augen der Mitschüler, Lehrerinnen und Eltern. Dabei ahmen sie die Bewegungen der jungen Frauen nach. Sie machen allen deutlich, dass sie keine Kinder mehr sind und sich auf dem Weg befinden, junge Frauen zu werden. Sie inszenieren diesen Übergang und machen ihn in spielerischer Form vor allen Angehörigen der Schulgemeinschaft öffentlich (Wulf 2001).

In mimetischen Prozessen richtet sich das Begehren von Kindern auf andere Menschen, denen man sich „anähneln“ möchte. Dazu wird gleichsam ein „Abdruck“ von ihnen genommen, der in einem mimetischen Prozess inkorporiert wird, in dem dieser „Abdruck“ Teil der mentalen Bilder- und Vorstellungswelt wird. Kinder beziehen sich auf Eltern, Verwandte und andere Erwachsene wie Lehrer und Lehrerinnen und wollen wie die Menschen werden, auf die sich ihr Begehren richtet. In diesen auf Vorbilder und Modelle bezogenen mimetischen Prozessen bringen sie sich selbst hervor und entwickeln ihre Individualität und Einmaligkeit. Ohne einen solchen Bezug auf andere Menschen könnten sich Kinder weder als Individuen noch als soziale Wesen entwickeln. Ausgangspunkt mimetischer Prozesse ist oft der Wunsch, wie andere zu werden. Entscheidend für den mimetischen Prozess ist jedoch nicht der Wunsch, ähnlich zu werden, sondern die Beziehung, die sich mimetisch verhaltende Kinder zu anderen Menschen herstellen und die durchaus auch Momente der Distanzierung und Abgrenzung enthalten kann (Wulf 2005a). Mimetische Prozesse vollziehen sich zwischen den Schülern und Schülerinnen auch in den Stammgruppen, in denen die kleineren Kinder von den größeren lernen, und die größeren Kinder von den kleineren in ihrer Entwicklung bestärkt werden.

Das für Handeln und Zusammenleben so wichtige praktische Wissen wird ebenfalls weitgehend mimetisch gelernt (Wulf 2006a). Nur durch die Partizipation an sozialen Praktiken wird die Kompetenz erworben, selbst handeln zu können. Entsprechendes gilt für den lernenden Erwerb poietischer Kompetenzen, also der Fähigkeiten, etwas herzustellen (Wulf 2007b; Suzuki/Wulf 2007).

Mimetische Prozesse fördern die Polyzentrizität der Jungen und Mädchen. Sie reichen in Schichten der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit und des Begehrens, in denen andere Dynamiken als im Bewusstsein bestimmend sind. Zu diesen gehören auch Aggression, Gewalt und Destruktion, die häufig auch in mimetischen Prozessen geweckt und gelernt werden. Da in Gruppensituationen das Steuerungs- und Verantwortungszentrum der Individuen durch eine Gruppeninstanz ersetzt wird, können die destruktiven Kräfte besonders leicht wirksam werden, die z.B. durch rauschhafte Ansteckung Handlungen möglich machen, zu denen der Einzelne nicht fähig wäre. Funktionierende Rituale und Ritualisierungen können diese Dynamiken so kanalisieren, dass sie ihre Destruktivität nicht entfalten.

Wie wir in unserer Studie zeigen konnten, richten sich mimetische Prozesse nicht nur auf andere Menschen in face-to-face Situationen, sondern auch auf Orte, Räume und Gegenstände, imaginäre Handlungen, Szenen und Sachverhalte. Auch die in Institutionen wie Familie, Schule und Medien impliziten Handlungsspiele, Werte, Einstellungen und Normen werden von Kindern in mimetischen Prozessen gelernt und verkörpert.

5. Erziehung und Bildung im Grundschulalter als interkulturelle Aufgabe

Mehr als jemals zuvor ist Erziehung und Bildung in Europa heute eine interkulturelle Aufgabe (Wulf 1995), an deren Bearbeitung alle vier Sozialisationsfelder beteiligt sind. Besonders die in den Neuen Medien und den Peer-Gruppen, in denen Kinder mit deutschem kulturellen Hintergrund mit Kindern mit Migrationshintergründen zusammenkommen, liegenden Möglichkeiten, Alterität wahrzunehmen und zu verstehen, wurden bislang wenig genutzt (Tervooren 2001, 2007; Althans 2004; Wulf 2006b; Althans/Schinkel 2007). Im Unterschied dazu gibt es in der von uns fokussierten innerstädtischen Grundschule bei Lehrern und Lehrerinnen ein ausgeprägtes Bewusstsein der Notwendigkeit, interkulturelles Wissen, Handeln, Zusammenleben und Sein zu lernen. In unserer Studie haben wir Situationen gesehen und zum Teil analysiert, in denen diese so noch nicht sehr lange bestehenden Bedingungen und Formen des Lernens inszeniert und praktiziert wurden.

Bei der Zusammensetzung der jahrgangsübergreifenden Stammgruppen, in denen Kinder aus drei Jahrgängen zusammengefasst werden, sind neben dem Alter die Geschlechterzugehörigkeit und der Migrationshintergrund die Kriterien, die von der Schulleitung besonders berücksichtigt werden. Denn Lehrer und Lehrerinnen sehen im jeweiligen kulturellen Hintergrund ein zentrales Kriterium der Differenz zwischen den Kindern, die sie strukturell so organisieren, dass sie sie im Unterricht bearbeiten können. Durch die Zusammensetzung der Stammgruppen wirkt die Schulleitung den Wünschen der Kinder entgegen, die eher darauf gerichtet sind, Differenzen zu nivellieren. So möchten ältere mit anderen älteren Kindern in einer Stammgruppe, Jungen mit anderen Jungen, Mädchen mit anderen Mädchen und Kinder mit Kindern zusammen sein, die den gleichen Migrationshintergrund haben. Diesen Wünschen gegenüber besteht die Schulleitung auf der Repräsentation und Bearbeitung der Alters-, Gender- und kulturellen Differenz in den Stammgruppen.

Auch im Unterricht machen die Schüler und Schülerinnen kontinuierlich Alteritätserfahrungen. Im Rahmen eines Epochenunterrichts z.B. über Ägypten bearbeiten sie – unabhängig von ihren jeweiligen Migrationshintergründen – im Deutsch- und Mathematik-, Sach- und Kunstunterricht Themen aus dieser ihnen allen fremden Kultur. Ein Besuch im Ägyptischen Museum schließt die Einheit nach einigen Wochen ab. In mehreren Gruppendiskussionen, die hier aus Raumgründen nicht wiedergegeben werden können, erzählen die Kinder, wie faszinierend sie es finden, Geschichten aus dieser Kultur zu hören, sie nachzuerzählen und daraus eigene Geschichten zu machen. Sie berichten, dass es ihnen viel Spaß gemacht habe, im Kunstunterricht Basisreliefs von ägyptischen Königen und Adligen aus Styropor auszuschneiden und anzumalen sowie im Sachunterricht der Frage nachzugehen, wie die Ägypter die Pyramiden gebaut hätten. Unabhängig von ihrer eigenen kulturellen Herkunft machen die Kinder in diesem Epochenunterricht die Erfahrung von Fremdheit und der damit verbundenen Möglichkeit, ihre Vorstellungskraft zu entwickeln (Wulf 2007b).

Bei einer Schulfeier führen Kinder mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund gemeinsam einen türkischen „Schleiertanz“ auf und haben dabei fremdkulturelle Bewegungs- und Inszenierungserlebnisse. Auf dem jährlichen Sommerfest bieten die Mütter der Kinder mit unterschiedlichem Migrationshintergrund Speisen und Getränke aus ihren Kulturen an, die von Kindern und Eltern mit anderem kulturellen Hintergrund genossen werden (Wulf 2004a). Mithilfe der verkauften Speisen unterstützen die Eltern den Schulverein finanziell. Der Reichtum und die Vielfalt der Speisen, die von Döner und Pizza über Couscous und Borschtsch zu libanesischen, tunesischen und marokkanischen Süßigkeiten reichen, sind Ausdruck der kulturellen Vielfalt und Diversität dieser Schule, in der das über kulturelle Grenzen hinausreichende Zusammenleben-, Handeln- und Sein-Lernen zu den zentralen Aufgaben gehört. Nur wenn dieses sichergestellt ist, gelingt es auch, Wissen in interkulturell zusammengestellten Lerngruppen zu lernen und den damit verbundenen hohen sozialen und kulturellen Anforderungen gerecht zu werden.

Unsere Forschungen haben gezeigt, dass Rituale und Ritualisierungen wichtige Formen der Differenzbearbeitung darstellen, mit deren Hilfe kulturelle Unterschiede konstruktiv bearbeitet werden können. In diesem Prozess ist die Erfahrung entscheidend, dass Kinder mit Kindern aus anderen Kulturen produktiv zusammen lernen können und dass dabei kulturelle Differenzen, wenn sie neue und überraschende Perspektiven ermöglichen, ein Vorteil sein können, der andere Kompetenzen, etwa im Bereich des Sozialen (Wulf 2007b) oder des Umgangs mit dem Körper (Althans/Schinkel 2007) beinhaltet.

6. Methodenvielfalt in der pädagogischen Ritualforschung

Die „Berliner Ritualstudie“ ist durch eine Methodenvielfalt charakterisiert, deren Verfahren sich an den Methoden rekonstruktiver Sozialforschung und besonders der Dokumentarischen Methode orientieren (Bohnsack 2003). In diesen Arbeiten haben sich die Konzepte des „konjunktiven Erfahrungsraums“ und der „Fokussierungsmetapher“ als sehr produktiv erwiesen. Aufgrund der Regelhaftigkeit rituellen Verhaltens haben wir uns darüber hinaus auch mit der Sequenzanalyse befasst (Oevermann 2000), der wir manche Anregung für das Verständnis der Sequenzialität rituellen Handelns verdanken. Auch der Auseinandersetzung mit der Narrationsanalyse (Schütze 1983), der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Eberle 1997), der Biographieforschung (Krüger/Marotzki 1998) und der Ethnographie (Spindler/Spindler 1987; Berg/Fuchs 1993; Zinnecker 2000) verdanken wir wichtige methodische Anregungen.

Da der Schwerpunkt unserer Untersuchung auf der Erforschung von Erziehungs-, Bildungs- und Lernprozessen liegt, kommen prozessorientierte Verfahren zur Anwendung (Friebertshäuser 2004). Insofern der performative Charakter von Ritualen und Ritualisierungen sowie pädagogischen und sozialen Praktiken im Mittelpunkt der Untersuchung steht, spielen Methoden der visuellen Anthropologie und visuellen Ethnographie eine zentrale Rolle (Wulf/Zirfas 2005). Diese Verfahren sind besonders wichtig, wenn es um die Erforschung von körperlichen Interaktionen und pädagogischen und sozialen Handlungen sowie räumlichen Arrangements geht. In unseren Untersuchungen wurden daher nicht nur Interviews und Gruppendiskussionen angewandt, aus denen wertvolle Einsichten in das Imaginäre und die Symbolisierungen der Kinder gewonnen werden konnten. Vielmehr haben in unserem Projektzusammenhang neben der Teilnehmenden Beobachtung vor allem videogestützte Beobachtungen (Wagner-Willi 2004b), Fotoanalysen (Nentwig-Gesemann 2007; vgl. auch Pilarczyk/Mietzner 2005) und Videoinszenierungen (Bausch/Sting 2001; Bausch 2006) eine besondere Rolle gespielt. Von diesen drei Verfahren nahmen videogestützte Beobachtungen den bei weitem größten Raum ein. Ergänzt wurden sie durch die Fotoanalysen, vor allem im Bereich der Familienforschung, und durch Videoinszenierungen als Forschungsverfahren, die im pädagogischen Feld erstmals im Rahmen unserer Studie systematisch entwickelt wurden und mit deren Hilfe es gelang, anders nicht mögliche Einblicke in das kindliche Imaginäre und seine performative Kraft zu gewinnen.

In unseren Forschungen stand immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Bewegung, Inszenierung und Aufführung, Bild und Medium im Zentrum des Interesses. Wichtig war in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Bildern: 1) Bilder als Medium von Erziehung, Bildung und Lernen; 2) mentale Bilder des Imaginären, die durch rituelle Arrangements, pädagogische und soziale Praktiken sowie durch Lernsituationen erzeugt werden; 3) Körperbilder und 4) Bilder als empirische Zugangsweisen zu den untersuchten Erziehungs-, Bildungs- und Lernprozessen. In methodischer Hinsicht erhielt die Frage, wie wir der Interpretationswiderständigkeit der Bilder und dem „Eigensinn der Bildhaftigkeit“ gerecht werden können (Bohnsack 2005; Belting 2005), anhaltend Beachtung.

Bei der Erforschung der Performativität von Gesten und Ritualen ergab sich beständig die Frage, wie sich bildliches und sprachliches Material aufeinander beziehen lassen, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, den Eigencharakter der Bilder unter sprachliche Interpretationen zu subsumieren. Bei der Erforschung des Streetdance, des Breakdance und der Foto-Online-Community zeigte sich z.B. das Problem der Beziehung zwischen Körper und Bewegung, Bild-Medium und Sprache deutlich, das seit dem „iconic turn“ in den Bild- und Kulturwissenschaften diskutiert wird (Mitchell 1994; Boehm 1995; Schäfer/Wulf 1999; Belting 2002). Nach wie vor sind hier viele Probleme offen, die sich auch auf die Methodologie visueller Anthropologie auswirken. Panofskys Versuch, eine Ikonologie zu entwickeln, opfert den Bildcharakter der Bilder seinem Interpretationssystem und hilft daher zur Lösung der hier anstehenden Fragen nicht weiter. Imdahls (1994) Bemühung, mit Hilfe einer „Ikonik“ den Eigenwert der Bilder gegenüber dem Wort stärker zu berücksichtigen, geht in die richtige Richtung. Auch Beltings (2002) Überlegungen zu einer Bildanthropologie und die von Wulf und Zirfas (2005) herausgegebenen Untersuchungen zu einer Ikonologie des Performativen versuchen, dem nicht in Sprache überführbaren ikonischen Charakter des Bildes besser gerecht zu werden. Eine neue Dimension in diesem für die Weiterentwicklung einer visuellen Ethnographie wichtigen Diskurs eröffnen die Untersuchungen zum Verhältnis von Bild und Einbildungskraft, die Hüppauf und Wulf (2006, 2008) in die Diskussion eingebracht haben und bei denen es um die performative Kraft der Einbildungskraft, der von ihr erzeugten Bilder und ihr Verhältnis zum Körper und zur Sprache geht, und deren Bedeutung für die visuelle ethnographische Forschung weiterer Ausarbeitung bedarf.

7. Ausblick

In der letzten Phase der „Berliner Ritualstudie“ (2008-2010) wird die Bedeutung von Gesten in Erziehung, Bildung und Sozialisation erforscht werden. Obwohl pädagogische und soziale Gesten im Alltag von Familie, Schule, Peer-Gruppen und Medien eine zentrale Rolle spielen, ist ihre Verwendung bisher kaum untersucht worden. Als signifikante Bewegungen des Körpers gehören sie zu seinen wichtigsten Ausdrucksformen. Als körperlich-symbolische Darstellungen von Emotionen und Intentionen spielen sie in der Sozialisation und Erziehung von Kindern eine zentrale Rolle. In pädagogischen Situationen sind sie Mittel der Sinngebung, Verständigung und Steuerung. Gesten begleiten die gesprochene Sprache, haben aber durchaus ein „Eigenleben“. Sie sind performativ und initiieren, begleiten und strukturieren pädagogische und soziale Praktiken. Ihre Funktion in Ritualen und Ritualisierungen der Erziehung und Bildung zu untersuchen, war bereits Teil unserer bisherigen Forschungen, die deutlich gemacht haben, dass Gesten eine über rituelle Arrangements hinaus reichende Bedeutung für Erziehung und Bildung haben, die weiterer Erforschung bedarf.