1 Vorbemerkung

Letztes Jahr vor Weihnachten wollte mein siebenjähriger Sohn dem Papa beim Rewe von seinem Taschengeld ein Geschenk kaufen: Aus guter Beobachtungsgabe heraus sollte es eine Flasche Rotwein werden. Es wäre ein sehr preiswerter Wein geworden, aber die Dame an der Kasse nahm sie ihm wohl sehr freundlich ab und erklärte, dass er noch nicht alt genug dafür sei. Mein Sohn erfuhr, er müsse dafür 18 Jahre alt sein.

Zuhause angekommen berichtete er das seinem 11-jährigen Bruder, der erklärte: „Wir schenken das zusammen, ich weiß auch wie.“ Und so setzten sich beide heimlich, weil unerlaubt an den Familien-PC und riefen eine Wein- und Spirituosenseite auf. Dort erschien die Frage, „Sind Sie 18 Jahre alt?“ – und der jüngere Sohn freute sich, denn nun wusste er dank der Kassiererin, dass er auf dem richtigen Weg war. Sein Bruder klickte „Ja“ an, und schon konnte die Bestellung losgehen. Dann fiel ihnen auf, dass man auch auf Rechnung bestellen kann, was sie sehr praktisch fanden, denn dann konnten Sie dort den Namen ihres Vaters angeben, und so war auch eine bessere Flasche drin – und die Versandkosten konnte man sparen, wenn man 12 Flaschen bestellte. Und Papa würde sich sicherlich freuen, denn eine Überraschung ist es allemal, und mit ein bisschen Glück kommt die Rechnung ja auch erst nach Weihnachten an. Angenommen, die Geschichte stimmt: Warum ist das im Netz erlaubt?

In der Recherche für diese Tagung hier hatte ich die moralische Legitimation, mir einige Pornoseiten anzuschauen, was man ja sonst nicht tut und gewiss auch noch nie jemand hier im Saal gemacht hat, außer aus wissenschaftlichen Gründen. Hier tauchte auch wieder dieser Button auf: „Bin ich 18 Jahre alt?“ Mein jüngerer Sohn hätte sich jetzt gewiss wieder gefreut: Hurra, das ist eine gute Seite, da kann ich wieder was für Papa bestellen! Auch ich klickte „Ja“ an. Meine Bedenken, Ihnen jetzt die Seite zu zeigen, die sich auftat, sprechen für sich. Denn es ist eine Seite, die sich auch für unsere Kinder auftun kann. Aber ich glaube, wir brauchen diese Seite wenigstens kurz einmal, um zu verstehen, was das Netz unseren Kindern anbietet.

Und wieder: Warum ist das im Netz erlaubt? Laut JIM-Studie 2023 ist jede:r vierte Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren im letzten Monat ungewollt auf pornografische Inhalte gestoßen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2023). Immerhin: Anfang des Jahres wurde das Digitale-Dienste-Gesetz auf den Weg gebracht. Zumindest „Anbieter sehr großer Online-Plattformen“ müssen nun „Werkzeuge zur Altersüberprüfung und zur elterlichen Kontrolle“ einführen. Als „sehr groß“ gilt ein Anbieter, der eine durchschnittliche monatliche Zahl von mindestens 45 Mio. aktiven Nutzern in der EU hat. Bei Amazon etwa geht das also nicht mehr. Für viele kleinere Anbieter gilt das aber nicht. Wir alle wissen natürlich auch von den Vorteilen und dem Nutzen des Internets oder der digitalen Medien. Ich weiß es privat zu schätzen, dass meine Kinder mobil erreichbar sind, wenn sie in der Stadt unterwegs sind. Und ich selbst nutze es privat für meine Musik und dienstlich für fachliche Recherchen. Die Informationsmenge und die Bearbeitungsgeschwindigkeit stehen in keinerlei Verhältnis zu meinem ausschließlich analogen Dienstbeginn vor 30 Jahren.

Gerade jedoch diese Reizintensitäten und Geschwindigkeiten nähren auch plausible Vorbehalte aus neuropsychologischer Sicht. Denn es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Nutzung dieser Medien eine Quelle konstanter visueller und auditorischer Überstimulation des Gehirns werden kann – insbesondere des noch unreifen Hirns. Mit der Reizmenge und -geschwindigkeit haben wir die Bedeutung der Reizqualitäten, also in unserem Fall der Medieninhalte, noch gar nicht im Blick.

2 Gen-Umwelt-Interaktionen

Viele psychische Erkrankungen beruhen auf einer erheblichen genetischen Disposition. In der Literatur wird meist auf die Daten von Zwillingsstudien Bezug genommen. So wird etwa genetischen Faktoren ca. 40–60 % des Alkoholismus-Risikos zugeschrieben (Möller et al. 2015, S. 345). Nun wissen aber auch medizinische Laien, dass Alkoholismus nicht oder nur äußerst selten in Alkohol-abstinenten Kulturen existiert. Es braucht also einen kulturellen Faktor, damit aus der genetischen Ausstattung ein Gesundheitsrisiko wird. So stellt sich die Frage, wie wir in Zukunft die Ätiologie von digitalen Abhängigkeitserkrankungen erklären werden: Auch genetisch? Aber ohne digitale Medien würde es sie ja gar nicht geben. Auch für Adipositas konnte mittels Zwillingsstudien eine starke Vererbbarkeit von 40–70 % festgestellt werden. Und dennoch wissen wir, es braucht auch hier einen kulturellen Faktor – in diesem Fall die sog. Überflussgesellschaft –, damit aus der genetischen Ausstattung ein epidemisches Gesundheitsrisiko wird.

In einem reduktionistischen genetischen Konzept laufen wir also Gefahr, umfassendere gesellschaftliche Entwicklungen als Risikofaktoren zu übersehen und gesundheitliche Störungen als „genetisch bedingt“ einzustufen, nur, weil die bisherige genetische Ausstattung mit den neuen Faktoren überfordert ist.

Für ADHS wird etwa in den Therapie-Tools erläutert, es gelte „als gesichert, […] dass die Symptomausprägung zu ungefähr 75 % auf genetische Faktoren zurückgeführt werden kann. […] Betrachtet man eine kategoriale Diagnose (ja/nein), dann steigt die Erblichkeit sogar auf weit über 80 %“ (Kirsch und Haible-Baer 2021, S. 63). Insgesamt liegt die Prävalenz für AD(H)S derzeit bei 5,3 % aller Kinder und Jugendlichen, dabei 2,3 % der Mädchen und 6,5 % der Jungen. Evolutionsgenetisch wirft die so hohe Prävalenz einer hauptsächlich genetisch bedingten Störung durchaus Fragen auf.

Dazu schreiben Barack et al. in ihrer im Februar erschienenen Studie zu ADHS, dass die dort festgestellten Fertigkeiten von Teilnehmern mit ADHS-ähnlichem Verhalten nahelegen, „dass die Prävalenz und Persistenz von ADHS in menschlichen Populationen in manchen Umgebungen eine adaptive Funktion erfüllen könnte“ (Barack et al. 2024). Das könnte einer der Gründe für die hohe Prävalenz sein. Gen-Umwelt-Interaktionen werden auch in der Leitlinie zu ADHS hervorgehoben: „Einerseits können sich Umwelteinflüsse z. B. auf die Transkription bestimmter Gene auswirken, andererseits kann die genetische Disposition das Risiko gegenüber spezifischen Umwelteinflüssen erhöhen“ (AWMF 2017, S. 16). Konkrete Zusammenhänge mit der Nutzung digitaler Medien werden zwar nicht erwähnt. Mittlerweile jedoch mehren sich die Hinweise, dass bestimmte neuropsychologische Fertigkeiten durch eine frühe intensive Nutzung digitaler Medien nachhaltig beeinflusst werden. So ergaben sich in einer Ende 2023 erschienen kanadischen Studie (Wallace et al. 2023) mit knapp 4000 Oberstufenschüler:innen signifikante Hinweise darauf, dass die Nutzungsintensität digitaler Medien doch einen ursächlichen Zusammenhang mit der ADHS-Symptomlast haben könnte. Das meint, dass die Ausprägung der Erkrankung durch übermäßigen Medienkonsum stärker werden kann. Da ebenfalls als gesichert gelten darf, dass gerade ADHS-Betroffene eine sehr hohe Affinität zu den neuen Medien haben, könnte es sich hier um einen circulus vitiosus handeln. Aus medizinischer Sicht sei angemerkt, dass es also nicht um die Diagnose als solche geht, sondern darum, wie sehr sich die Symptomlast der betroffenen Patient:innen entwickelt – was allerdings erhebliche Auswirkungen auf das Erfordernis und die Intensität von psychiatrischer bzw. psychotherapeutischer Unterstützung und die psychosozialen Einschränkungen der Betroffenen haben dürfte.

3 Medienkonsum und Suchtpotenzial

Obwohl wir uns über die Risiken der Nutzung digitaler Medien zunehmend sicher sind, gewähren wir unseren Kindern allerdings recht freizügig deren Nutzung: In der JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (2023) wurden im Jahr 2023 1200 Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren mit gleichmäßiger Alters- und Geschlechtsverteilung hinsichtlich ihres Medienkonsums untersucht. 96 % der befragten Personen verfügten über ein eigenes Smartphone. Die größte Steigerung fand in den Jahren von 2010 (knapp 10 %) bis 2013 (75 %) statt. Jetzt, 2024, wird der o. g. „Digital Services Act“ umgesetzt. Wir haben also 11 Jahre gebraucht, um den Jugendschutz im Internet anzugehen – wenngleich nur für sehr große Anbieter. Mittlerweile sind es knapp 100 % Smartphone-Besitz, die durchschnittliche Online-Nutzungszeit lag 2023 bei 224 min, also bei mehr als dreieinhalb Stunden am Tag. Die Nutzungsdauer variiert hinsichtlich des Alters; zwölf- bis 13-Jährige waren 2023 durchschnittlich „nur“ zweieinhalb Stunden am Tag online.

Es ist mittlerweile völlig unzweifelhaft, dass digitale Medien ein erhebliches Suchtpotenzial haben. Es gibt keine stofflichen Drogen einschließlich Alkohol, deren Altersfreigabe wir so unreguliert lassen wie die digitalen Medien. Und es zeigt sich, dass Eltern mit der Rationierung der Konsummenge zunehmend überfordert sind und entgegen eigenen Intentionen irgendwann dem Druck der Masse nachgeben, um ihre Kinder nicht von der Peer-Group auszuschließen. Wenn wir davon ausgehen, dass die kindliche Nutzung digitaler Medien ein Risiko für die seelische Gesundheit darstellt, dann dürften die Folgen sich angesichts der genannten Zahlen allmählich auch in der Erwachsenenpsychiatrie bemerkbar machen.

Die digitale Revolution ist ein globales gesellschaftliches Phänomen, von dem allenfalls begrenzte Gruppen nicht betroffen sind. Tiefenpsychologische Autoren betonen traditionell neben familiären Kontexten auch die Eingebundenheit seelischen Erlebens in einen gesellschaftlichen Kontext. Und so schreibt der Psychoanalytiker Johannes Döser (2019), dass „das Smartphone […] das Subjekt auf eine neue und beispiellose Weise vergesellschaftet“ hat. Die Vergesellschaftung des Subjekts – was bedeutet das?

Das Internet, seine sozialen Medien, seine Nachrichten, seine YouTuber und Mini-Serien: Sie sind heute dank Smartphone nicht nur immer räumlich verfügbar; sie sind auch stets „aktuell“: Irgendetwas ändert sich hier immer, irgendetwas von soeben ist bereits nicht mehr aktuell – schon Sekunden nach dem letzten Chat. Auch mit Smartphone in der Tasche weiß ein Teil meiner (stets geteilten) Aufmerksamkeit, dort geht es weiter. Das durch das Smartphone vergesellschaftete Subjekt ist jenes, welches weiß: Ich gehöre nicht mehr dazu, wenn ich die Letzte ohne Smartphone bin. Online zu sein meint aber zudem auch einen Zustand der Pausenlosigkeit: Wir sind stets versucht, danach zu forschen, wie das weitergeht, was wir zuletzt angefasst hatten. Nur dass das Netz kein Ende kennt. Verbirgt sich hinter unserer digitalen Tätigkeit vielleicht ein subtil-gewünschtes Gefühl der Entgrenzung? Eine Entgrenzung in Raum und Zeit, von der sich die reale Sterblichkeit des Users allerdings wohl kaum irritieren lassen wird.

4 Entgrenzung in Raum und Zeit

Die Sehnsucht nach Entgrenzung meint in diesem Kontext zwar einerseits die Begegnung mit einer entgrenzten „Welt“. Dem könnte man gegenüberstellen, dass unsere „Welt“ auch im nicht-digitalen Leben durchaus Aspekte der Entgrenzung anbietet: Ein Blick in den nächtlichen Sternenhimmel kann uns entsprechend ergreifen. Allerdings erkennen wir in diesem Universum die Endlichkeiten unseres verfügbaren Lebens, sowohl unserer selbst als auch dessen, was uns unmittelbar angeht, auf was wir zugreifen können. Bei unserer Bewegung im Internet handelt es sich aber im Grunde immer um mehr als eine Begegnung, sondern eher um ein Eintauchen oder Aufgehen im Netz, da wir als Nutzer nie nur Konsumenten, sondern stets auch Protagonisten sind, die schon durch die „Nutzung“ den Weg der Netz-Algorithmen mitbestimmen – nicht selten im Sinne der „Anbieter“, die sich uns bereits beim nächsten Klick zur nächsten Verfügung stellen.

Begrenztheiten überschreiten zu wollen oder zumindest an ihre Grenzen gehen zu wollen, ist allerdings eine anthropologische Konstante: Solche Entgrenzungserfahrungen werden kultisch gesucht, oder im Drogenkonsum, oft auch als Transzendenzerfahrung. Nicht selten interpretieren wir solche Entgrenzungen dementsprechend als tröstlich: Es gibt ein Leben, das über mein Bewusstsein hinausweist, jenseits meines jetzigen und hiesigen Lebens. In solcher Entgrenzungserfahrung wird die kindliche Sehnsucht nach einer Art von Geborgenheit gestillt, welche die Endlichkeit des Lebens in Frage stellt. Die todbringende Droge verliert ihren Schrecken, weil sie die Verbindung mit primärprozesshaften Vorstellungen von einer jenseitigen Existenz herstellt und eine Verbindung zum „Ganzen“ spürbar werden lassen kann. Dann gehen wir in der Tiefenpsychologie von einem Rückschritt auf ein infantiles Urempfinden aus, welches in uns Fusionsfantasien bereitstellt: Sogar Suizidalität kann dann ggf. kein wirkliches Ende intendieren, sondern eine Verschmelzung, eine Auflösung der Grenzen, einen Übergang in das Große und Ganze.

Wenn das Internet eine Atmosphäre von Endlosigkeit erzeugt, in die wir eintauchen können, welche verborgenen, unbewussten Sehnsüchte werden dann in seiner Nutzung wohl bedient? Damit beschäftigt sich u. a. der Kommunikationswissenschaftler Christian Hoffmeister (2019) in seinem Buch „Google-Unser“. Er sieht in diesem quasi-religiösen Wesen der digitalen Medien die zentrale Ursache, warum wir uns wider besseres Wissen immer tiefer darin verstricken. Im Klappentext seines Buches wird hervorgehoben, „wie irrational die Rationalisierung wurde und wie aus einer Technologie eine globale Glaubensgemeinschaft entstehen konnte. Und weil die Digitalisierung eine Religion darstellt und nicht auf Technologie reduzierbar ist, hält uns diese in ihrem Nutzungsbann. Die rationale Kritik der modernen Technologiekultur greift so lange nicht, bis wir die irrationale Bindung an das Glaubenssystem ‚Digital‘ verstehen“ (Hoffmeister 2019).

Die Irrationalität dieser Bindung ist ein zentraler, oft übersehener Aspekt. Denn die Entgrenzungserfahrung im Netz steht in der Tat in Widerspruch zu unserer aufgeklärten und erwachsenen Alltagserfahrung: So suggeriert das entgrenzte Raum-Zeit-Erleben im Netz entgegen besserem Wissen grenzenlose Ressourcen. Dabei ist schon die Nutzung selbst mit erheblichem Verbrauch an Ressourcen verbunden: Allein die für die digitalisierte Welt erforderlichen rund 55.000 Rechenzentren in Deutschland verbrauchen mehr Energie als die Stadt Berlin (Grotelüschen 2022).

Diese Art des Ressourcenverbrauchs ist aber nur eine Facette der Entgrenzung. Eine weitere ist die scheinbar absolut kostenfreie Verfügbarkeit unzähliger Angebote. Wir erhalten endlose Mengen an Informationen, an Literatur, Kunst, Musik, Spielen oder Kommunikationen angeboten – meist quasi „gratis“, aber wie prägt dies unseren Umgang mit den dahinterstehenden Leistungen und Ressourcen? Selbst wenn wir doch einmal für einen Netzdienst zahlen müssen, wird uns eine Flatrate angeboten. Einmal bezahlt, betreten wir dann neuerlich einen Raum schier unbegrenzter Möglichkeiten, der den direkten Bezug zur Wertigkeit des einzelnen Angebots verstellt. Selbst der Versand ist mit der Flatrate kostenfrei – Sammelbestellungen lohnen sich nicht mehr –, als würden durch diese Flatrate nicht doch menschliche und energetische Ressourcen in Anspruch genommen. Im virtuellen Raum findet also eine Entgrenzungserfahrung statt, die unser Denken und damit unsere Seelen zunehmend prägen wird.

Auf der anderen Seite des Konsums wiederum finden sich Menschen, die durch die Digitalisierung zu unermesslichem Reichtum gekommen sind. Nicht wenigen von ihnen wird eine geradezu prophetische Huldigung zuteil (Delius 2015). Und selbst wenn wir dies ablehnen, bedienen wir sie weiterhin mit der Opferung unserer Ressourcen: mit unseren Daten, unserem Geld – und eben auch mit unserer wichtigsten Ressource, unserer Lebenszeit. Immer mehr Menschen träumen davon, im Netz zu Reichtum zu kommen – wenn schon nicht als ein Zuckerberg oder Bezos, so doch wenigstens als Influencer oder YouTuber, die gerade auf junge Menschen enormen Einfluss haben. So wirken im Netz Kräfte, die nicht mehr nur in Form ihrer Algorithmen, sondern auch durch die uns aufgedrängte Akzeptanz des Flatrate-Prinzips und der Ressourcenvergessenheit auf unser Denken und Fühlen einwirken. Es geht dann immer weniger darum, sparsam mit Ressourcen umzugehen, sondern allenfalls, wie wir unseren Ressourcenverbrauch trotz unseres Wissens um Klima und Umwelt weiter erhöhen können – ohne Sättigungsgrenze.

Entgrenzung indes ist mehr als nur Überfluss. Und so stellt sich mir die Frage, ob die digitale raum-zeitliche Entgrenzung vielleicht größere Auswirkungen auf unsere Psyche haben wird als die Überflussgesellschaft auf unsere Körpergewichte. Denn unsere Lebenswirklichkeit bleibt ja begrenzt. Wenn nun solche Grenzenlosigkeit Zugriff auf unsere Grenzhaftigkeit hat, dann passt sie dort quasi „nicht hinein“. Vielleicht erklärt dies auch unsere „alltägliche Erfahrung, dass wir für viele Dinge im Leben keine oder nur mehr oberflächlich Zeit haben, obwohl wir gleichzeitig immer mehr Zeit zu gewinnen scheinen“, wie es der Berner Historiker Juri Auderset beschreibt. Er erkennt darin eine „grundlegend ambivalente Zeiterfahrung des modernen Lebens“ (Auderset 2018).

Diese Veränderung unseres Zeiterlebens angesichts des Entgrenzungsparadigmas allerdings scheint psychologisch zentral. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt das Zeiterleben in der digitalisierten Gesellschaft so: „Die Zeit, die ich mir nehme, mich mit den Dingern vertraut (!) zu machen, wird immer kürzer, und das Gefühl, das ich dabei habe, immer schaler“ (Hervorhebung durch den Autor). Mit „Dingern“ meint er die „Alltagsdinge“ des digitalen Zeitalters, deren neueste Version schon kurz nach dem Einkauf in den virtuellen Regalen steht (Rosa 2006). In dieser Beschleunigung sieht Rosa einen Verlust von Tiefe, der immer über das Subjekt hinaus auf seine Beziehungen zur Welt, zu anderen geht. Diesen Gedanken vertieft er in seinem Buch „Resonanz“ (Rosa 2019). Die für die Tiefenpsychologie so bedeutsame Beziehungsgestaltung des Individuums mit seiner Welt erfährt also offenbar eine gravierende Transformation. Soziale Transformationsprozesse wurden zwar vom Individuum immer wieder abverlangt. Allerdings basiert der digitale Transformationsprozess unserer Beziehungsgestaltung auf dem Irrglauben, wir könnten dem Entgrenzungsparadigma gewachsen sein. Dabei bezieht sich die Entgrenzung einerseits auf Verfügbarkeiten, die mehr sind als Überfluss. Zudem erleben wir hier eine Art von Geschwindigkeit, die den Begriff von „Geschwindigkeit“ überflüssig macht, weil wir uns in einer gefühlten Echtzeit auf die andere Seite des Globus klicken können, ohne auch nur einen Ansatz von physischer Fortbewegung zeigen zu müssen.

Der französische Philosoph Paul Virilio (1992) erwartete einen „rasenden Stillstand“. Dass körperliche Passivität schon immer ein Faktor für sog. Zivilisationskrankheiten war, wird durch die installierten Schrittzähler ggf. noch kompensiert. Es geht um die geistige Passivität: Denn wenn Hartmut Rosa über die fehlende Zeit klagt, um Vertrauen zu schaffen, dann wird dies durch die geistige Passivität Paul Virilios quasi summiert: Passivität plus Vertrauensverlust = Verantwortungsverlust. Solcher Verantwortungsverlust kann durch die suggerierte Anonymitätsgarantie des Netzes dann noch gesteigert werden.

Zurück zur Entgrenzung: Es ist wohl schon eine Grundeigenschaft des Menschen, seine Grenzen überschreiten zu wollen – oder auch die seiner unmittelbaren, also verfügbaren Umwelt. Als Metapher sind wir Menschen immer auch Nautiker – also Seefahrer, oder heute eher Astronauten. In dieser Metaphorik wird ein gescheitertes Leben manchmal als „Schiffbruch“ bezeichnet. Und ebenso im maritimen Assoziationsraum „surfen“ wir uns durch das endlose Netz. Der Mensch erscheint uns als eine lebendige Endlichkeit, die immer schon an ihre Grenzen gehen will – und doch im Leben selbst nie in der Endlosigkeit ankommen kann: „No one here gets out alive“, wie es der Sänger der Band „The Doors“, Jim Morrison, 1968 aussprach.

In der evangelischen Theologie bezieht sich Paul Tillich auf diese widersprüchliche Eigenschaft. Wir Menschen seien aus der Gemeinschaft mit der Unendlichkeit – also mit Gott – herausgefallen in die Fremde. Er spricht entsprechend von der Entfremdung des Menschen von sich selbst – und theologisch gesehen natürlich von Gott. Nun aber empfinde der Mensch einen „unendlichen Abstand zwischen dem Ganzen der endlichen Dinge von ihrem unendlichen Grund“ (Tillich 1987, S. 13). Weil aber „kein Endliches seine Endlichkeit zum Unendlichen hin überschreiten“ kann, so Tillich, bleibe dem Menschen ein Gefühl der „Entfremdung“ (ebd., S. 52ff.). Dieses Gefühl verweise ihn immer auf einen nicht-entfremdeten Zustand, auf seine „Essenz“: Immer verhalte der Mensch sich auf irgendeine Art und Weise zu diesem Wissen vom unendlichen Grund (vgl. Bethge-Bonk 2013, S. 6). Tillich sieht darin eine ähnliche Grundannahme in Christentum und Tiefenpsychologie, nämlich, dass wir Menschen etwas als „Sünde“ verstehen, was uns Leid erzeugt, weil es die Abspaltung und Entfremdung des Menschen von seinem wahren Sein meine.

Aus tiefenpsychologischer Sicht ist die skizzierte Analogie zu theologischen Positionen zwar problematisch. Dennoch ist einer gewissen tieferen Übereinstimmung zuzustimmen: Im Menschen existiert eine Sehnsucht nach Entgrenzung, nach Auflösung unserer Grenzen hin zum Größeren, zum „Ganzen“. Und sicherlich wird diese auch aus der Ahnung des „unendlichen Grundes“ gespeist, die tiefenpsychologisch am ehesten dem primärprozesshaften Erleben des Kleinkindes entsprechen dürfte. Dieses Erleben ist ja nicht nur von Empfindungen der räumlichen Entgrenzung, sondern auch der Zeitlosigkeit geprägt – als könne man traumähnlich in Echtzeit große Distanzen wechseln. Und dieses Erleben endet mitnichten in der Reifung zum Erwachsenen; es wird vom sog. sekundärprozesshaften Denken nur überlagert bis zur Unkenntlichkeit. In manchem Traum allerdings finden wir noch einen Zugang zu diesem unbewusst wirksamen Primärprozess.

Sowohl im theologischen als auch im tiefenpsychologischen Sinne wäre die Sehnsucht nach der Entgrenzung für den Erwachsenen dann natürlich hoch ambivalent – am ehesten vergleichbar mit der Sehnsucht nach einem verloren gegangenen Paradies. Sucht der Nautiker von heute in seinem Aufgehen im endlos verfügbaren, zeit- und raumüberschreitenden Internet vielleicht auch nach seiner Erlösung? Steckt in der Suche nach dem Kick im Netz die infantile Sehnsucht nach einem Paradies? Vielleicht schon, aber wir wissen zugleich: Dort ist es nicht.

Die theologische Metapher scheint angesichts der Inhalte digitaler Medien wohl weniger angemessen zu sein als die triebpsychologische Deutung der Psychoanalyse: Mit so viel ungezügelter sexueller Lust und Perversion, so viel Aggression und Wut, so viel Fremd- und Selbstzerstörung hätte man wohl selbst als Tiefenpsychologe nicht gerechnet, als die digitale Revolution ihren Siegeszug antrat. Es ist überhaupt gar kein Paradies, und weil wir dies wissen, verzichten die modernen Nautiker des weltweiten Netzes meist auf die Nennung ihrer Klarnamen. Sie verstecken sich wie Adam und Eva nach ihrem Sündenfall, eben weil sie beim Surfen in diesen Abgründen und Höhepunkten nicht entdeckt werden wollen.

Aber das Netz selbst ist nicht böse. Und nicht gut. Sondern es ist ein Spiegel dessen, was Menschsein wohl alles ausmacht. Und so werden im Netz eben auch die Folgen sichtbar, wenn Vertrauen, Verantwortung und Ressourcenbewusstsein verloren gehen und die Geschwindigkeit des nächsten Klicks keine Achtsamkeit mehr erlaubt. Diese Geschwindigkeit gibt vor, uns Zeit zu schenken, weil wir nicht mehr in Straßenkarten lesen oder in Bibliotheken sitzen müssen. Dank KI können wir unsere Examensarbeiten in Sekundenschnelle schreiben lassen. Aber wo genau bleibt die eingesparte Zeit? Vielleicht beim Eintauchen, wenn wir uns wieder und wieder in der scheinbaren Unendlichkeit der digitalen Angebote aufzulösen scheinen.

5 Zeitverlust und Vertrauensverlust

Wir sollten noch einmal auf den Satz von Hartmut Rosa zurückkommen: Ihm fehle die Zeit, um sich mit den Dingen vertraut zu machen. In der Tat, das tiefenpsychologisch vielleicht gewichtigste Thema des digitalisierten Lebens ist der wahrscheinlich epochale Vertrauensverlust, den uns die fehlende Zeit aufzwingt: Vertrauen gelingt nicht ohne Zeit, denn Vertrauen verlangt Tiefe. Es wäre, wie ein Gedicht hastig zu lesen: Dann wird es uns nicht ergreifen. Bindung aber bedeutet, zu „begreifen, was uns ergreift“, wie es der Literaturwissenschaftler Emil Staiger einmal beschrieb (Rickes 2008). Es ist ein Einlassen auf den Klarnamen, ein Erkunden von Haupt- und Nebensachen.

Wir wissen es vorher doch nicht: Es kann die nebensächlich kleine Narbe auf deinem Rücken sein, die mir die Vertrautheit unserer Beziehung spürbar macht. Wir wissen es doch nicht. Wir sollten nicht immer alles weglegen, bevor wir es zu Ende gelesen haben. Es ist eine andere Art von Unendlichkeit, die ich in dir erkennen kann, wenn ich die Zeit dafür habe. Die Nebensächlichkeiten sind es, die das Verweilen in einer Bibliothek oder ein Buch oder sogar die Straßenkarte meiner Heimatstadt mir vertraut werden lassen.

Es ist also nicht nur die Entgrenzung, sondern speziell die ihr zugrundeliegende assoziative Führung des Netzes, der ich anheim zu fallen drohe; ihr Oberflächen-Algorithmus, der mich unbemerkt lenkt, dessen Erlösinteresse meine Ressourcen verachtet und dennoch suggerieren will, der Kick der Erlösung stehe zwar noch aus, aber stets unmittelbar bevor. Der Netz-Algorithmus droht, uns abzulenken von der Tiefe, die aus meinem inneren „Algorithmus“ heraus Vertrautheit schenken könnte. Eine Vertrautheit, die ohne sinnliche Berührung – im wahrsten Sinne ohne Er-„Griff“-enheit nicht auskommen will und kann.

In der realen Begegnung mit dir könnte ich dich berühren; ich könnte dir nahekommen, ich könnte dich riechen. Oder ich könnte dich verletzen. Auch wenn ich das nicht tue: Ich weiß, ich könnte. Wenn ich dir also nicht nahekomme, dann aus Respekt; oder aus Vorsicht; oder um dir zu zeigen, dass du mir vertrauen kannst. Aber wenn ich es doch tue, dann erst, wenn wir uns vertrauen, und erst recht, wenn wir uns vertraut sind. Diese Wirklichkeit des Berühren-Könnens ist meist nur unbewusste Phantasie, im Übrigen gar nicht immer liebevoll und zärtlich, aber wirkmächtig; denn, wenn diese meine Phantasie dir mit Klarnamen, mit meinem offenen Gesicht gegenübertritt, bestimmt sie die Resonanz zwischen uns, die Ergriffenheit.

Aber es ist die Hast, in der mir der Sinn für deine kleine Narbe entgeht. Eine scheinbar nonkausale Zeitwahrnehmung, die vergisst, dass auch ich für dich kausal, also eine Ursache, also vielleicht auch verantwortlich bin. Dann übersehe ich, dass du keiner der unendlich verfügbaren Gegenstände bist, dass ich jedoch in dir eine auch unendliche Tiefe ahnen und spüren darf, in die ich eintauche, ohne sie mir verfügbar machen zu wollen; vielleicht etwas von jenem wirklichen „Grund“, den Tillich meinte, dessen tieferes Erleben aber selbst religiöse Begrifflichkeit hinter sich lässt.

Die verantwortungslosen Inhalte im Netz sind offenbar wohl nicht nur Ursache, sondern mindestens so sehr Ausdruck davon, wie die Seelen der Nutzer erkranken. Und dennoch werde ich am Wochenende ein Rezept von Chefkoch.de kochen und dabei einem musikalischen YouTube-Algorithmus lauschen, der mich fröhlich macht. Es kommt eben darauf an, was das Netz für mich wird.

Vortrag anlässlich des 6. Wiesbadener Symposiums „Online – Offline. Wie sich digitaler Medienkonsum auf die seelische Gesundheit auswirkt“, veranstaltet durch die Fachklinik Katzenelnbogen am 19.06.2024 im Kurhaus Wiesbaden.