1 Hintergrund und Zielsetzung

Digitalisierung kann neben dem Streben nach größerer Nachhaltigkeit als einer der beiden Megatrends gesehen werden, die Wirtschaft und Gesellschaft und damit auch Unternehmen in den kommenden Jahren massiven Veränderungsprozessen unterwerfen werden. Gerade Digitalisierungsprozesse bringen dabei spezielle Herausforderungen auf Seiten der Führungskräfte und der Mitarbeitenden mit sich, deren Bewältigung die Inanspruchnahme einer externen Intervention im Sinne von Coaching oder Beratung in vielen Fällen sinnhaft erscheinen lässt. In Deutschland dürfte der Bedarf an solchen Interventionen in den kommenden Jahren besonders hoch sein, da das Land im europäischen Vergleich, vor allem gemessen an der Wirtschaftskraft, im Hinblick auf Digitalisierung eher einen unterdurchschnittlichen Rang einnimmt. So hat sich der Messwert Deutschlands im Digitalisierungsindex der Europäischen Union, der individuelle, infrastrukturelle und gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt (European Commission 2023, S. 19), mit 108,6 Punkten in 2023 gegenüber dem Jahr 2022 (110,5 Punkte) sogar leicht verschlechtert (BfWK 2024, S. 1). Dabei hinken vor allem kleine und mittelständische Unternehmen der Entwicklung hinterher (ebd., S. 6 f.).

Der vorliegende Artikel nimmt sich der Thematik Digitalisierung von Unternehmen an und zeigt auf, wie personenzentriertes Coaching bei der Bewältigung der damit einhergehenden Herausforderungen unterstützen kann. Zielpersonen des Coachings sind hier vor allem Führungskräfte, die die Digitalisierung in ihren Betrieben vorantreiben wollen oder durch äußeren Veränderungsdruck müssen. In dieser Hinsicht werden zwei Fragestellungen behandelt:

  • Welche speziellen Herausforderungen ergeben sich im Rahmen digitaler Transformationsprozesse in Unternehmen für die beteiligten Personen?

  • Was kann personenbezogenes Coaching leisten, um diesen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werden Erkenntnisse des Change-Managements auf die spezifischen Herausforderungen digitaler Veränderungsprozesse adaptiert und mit kurzen Beispielen aus der Unternehmenspraxis illustriert.

2 Digitale Transformation als Herausforderung für Unternehmen

Bevor die spezifischen Herausforderungen digitaler Transformationsprozesse in Unternehmen thematisiert werden, soll zunächst der Begriff der digitalen Transformation nochmals näher beleuchtet und mit aktuellen Entwicklungen dazu illustriert werden.

Im Folgenden soll unter digitaler Transformation die Umwandlung realer Objekte in digitale Formate für Unternehmen im Speziellen bzw. Organisationen im Allgemeinen verstanden werden. Konkret betrifft dies die intelligente Vernetzung von Personen, Dingen und Maschinen auf Basis von Informations- und Kommunikationstechnologien (Schallmo et al. 2018, S. 22). Treibertechnologien in diesem Sektor sind etwa künstliche Intelligenz (z. B. ChatGPT), Cloud Computing (die Speicherung von Daten unabhängig von Geräten und Nutzern), Augmented bzw. Virtual Reality (etwa virtuelle Welten in einer 3‑D-Brille), Blockchain (bekannt über digitale Währungen wie etwa Bit Coin) oder Big Data Analytics (also die Auswertung großer, heterogener Datenmengen, die zugleich Text‑, Audio- und Bildelemente umfassen). Diese digitalen Technologien führen zu Anwendungen wie etwa dem Internet der Dinge (Internet of Things, IoT), bei dem Gegenstände untereinander intelligent kommunizieren (etwa Bestellvorgänge bei Verschleißteilen von Maschinen von diesen selbst automatisch ausgelöst werden). Dies kann bis hin zu einer vollständig digital-autonomen Fabrik, auch als Industrie 4.0 bezeichnet, führen (Schallmo et al. 2018).

Die beiden zuletzt genannten Aspekte lassen schon erahnen, dass digitale Transformationsprozesse nicht nur eine technologische Komponente besitzen, sondern auch Wirkung auf die davon betroffenen Menschen entfalten, zuvorderst die Mitarbeitenden in einem Unternehmen. Denn mit diesen Transformationsprozessen ist mindestens eine deutliche Veränderung des Tätigkeitsgebiets betroffener Mitarbeitender verbunden, wenn nicht sogar deren Obsoleszenz. Damit wird Digitalisierung aber zu einer kritischen Führungsaufgabe auch im Hinblick auf das Personal. Im Folgenden soll genau dieser Aspekt im Vordergrund stehen.

3 Theoretische Grundlagen zum Verständnis der Herausforderungen digitaler Transformation

Um die besonderen Herausforderungen digitaler Transformation besser zu verstehen, bietet es sich an, mit den generellen Herausforderungen von Veränderungsprozessen in Bezug auf Menschen zu beginnen. Evolutionär gesehen sind Menschen eher auf Konstanz denn auf Wandel ausgerichtet, was angesichts der Tatsache, dass große Teile der Menschheit in einer Welt gelebt haben, die durch wenig Veränderung geprägt war, plausibel erscheint. Egal ob man nun zunehmende Veränderungen in der heutigen Lebensumwelt mit den Akronymen VUKA (volatil, unsicher, komplex, ambivalent) oder neuerdings BANI (brüchig, nicht-linear, ängstigend, unfassbar) bezeichnet (Mack und Khare 2016; Salun und Zaslavska 2024), ist die Tatsache kaum von der Hand zu weisen, dass gerade im Bereich der Digitalisierung eine zunehmende Akzelerierung des Wandels zu verzeichnen ist. Besonders eindrücklich wird diese Entwicklung, wenn man sich vor Augen führt, dass gemäß einer Studie der International Data Corporation (IDC) das jährlich generierte bzw. replizierte digitale Datenvolumen weltweit vom Jahr 2010 bis 2022 ungefähr mit dem Faktor 50 gewachsen ist (von 2 auf 103 Zettabyte; IDC 2023). Bis 2026 wird mit einer weiteren Verdoppelung gerechnet.

3.1 Ursachen unterschätzten Wandels

Mit den akzelerierten Veränderungen der Digitalisierung, die Lebens- und Arbeitswelten massiv transformieren, entstehen besondere Herausforderungen. Ein Aspekt dabei ist die menschliche Neigung, Bedeutung und Geschwindigkeit von Wandel erheblich zu unterschätzen. Vor solchen Fehleinschätzungen sind auch Führungskräfte nicht gefeit, wie prominente Beispiele (siehe Tab. 1) zeigen. Eine Reihe von (sozial-)psychologischen Mechanismen können als Ursachen dafür ins Feld geführt werden (Lauer 2019, S. 35 ff.):

  • Satisficing: Satisficing bezeichnet das vom Verhaltensökonom und Nobelpreisträger H. A. Simon beschriebene Phänomen (Simon 1955, 1956), dass Menschen in der Regel nicht wirklich ausdauernd nach optimalen Lösungen suchen, sondern sich mit zufriedenstellenden Lösungen begnügen und an diesen so lange festhalten, bis eine sehr große Unzufriedenheit auftritt. Begründet wird dieses als „begrenzte Rationalität“ (Bounded Rationality) bezeichnete Verhalten mit der begrenzten Informationsverarbeitungskapazität unseres Gehirns. Bounded Rationality ist, wie es der Name nahelegt, durchaus rational und kann gerade in Zeiten des digitalen Information-Overloads helfen, handlungsfähig zu bleiben (Agosto 2002), indem Informationen selektiv wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite wird dadurch aber ein zu langes Festhalten am Bestehenden begünstigt. Ein Beispiel dazu wäre die Aussage: „Ich erledige meine Steuererklärung weiterhin mit Papier und Bleistift statt mithilfe einer speziellen Software, es funktioniert ja auch so gut!“

  • Vermeidung kognitiver Dissonanz: Die Theorie der Vermeidung kognitiver Dissonanz von Leon Festinger (1957; vgl. Eckardt 2015) beschreibt die kognitiven Mechanismen in menschlichen Gehirnen, die dazu führen, (neue) Informationen, die dem bisherigen Denken nicht entsprechen (Dissonanz), zu übersehen, zu leugnen oder abzuwerten. Beispiele dafür wären Glaubenssätze wie: „Künstliche Intelligenz kann meinen Job nicht ersetzen, denn sie produziert zu viele Fehler!“, oder: „Elektromobilität wird sich nicht durchsetzen, da die Reichweite der Akkus zu knapp bemessen ist!“ Dabei wird zumeist übersehen, wie schnell sich scheinbare Hemmnisse abbauen lassen, sodass die angeführten Gegenargumente (erwartbar) obsolet werden. Gerade im Hinblick auf technologische Entwicklungen wird der falsche Glaube nicht selten noch dadurch bestätigt, dass diese in der Regel einen Zyklus durchlaufen („Gartner Hype Cycle“), bei dem nach einer ersten Euphorie eine Phase der Ernüchterung folgt, weil die Dinge sich doch nicht so schnell durchsetzen oder zur Marktreife entwickeln lassen, wie in der Euphorie geglaubt (Tiefel 2007, S. 12 ff.). Diese üblichen Startschwierigkeiten werden dann leicht zur Rechtfertigung des Festhaltens am Bestehenden verwendet, und damit werden die künftigen Entwicklungen massiv unterschätzt. Denn gemäß Gartner Hype Cycle folgt auf die Ernüchterung in der Regel ein konstantes und zügiges Wachstum der Technologien.

  • Die Berücksichtigung von Sunk Costs (sunk cost fallacy): Die Berücksichtigung versunkener Kosten stellt, trotz betriebswirtschaftlicher Terminologie, letztlich ein psychologisches Phänomen dar. Sunk Costs sind Kosten, die unwiederbringlich verloren (versunken) sind und von daher für zukunftsgerichtete Entscheidungen keine Rolle spielen (Battenfeld 2023). Ein alltägliches Beispiel stellt etwa die Neigung dar, einen Urlaub trotz schlechten Wetters, schlechten Hotels etc. bis zum Ende „durchzuziehen“, obwohl die Zeit zuhause schöner wäre. Denn, so die (psychologische) Rechtfertigung, man hat ja schließlich dafür bezahlt. Allerdings ist dies nicht rational, denn das Geld ist ohnehin unwiederbringlich verloren, und es geht eigentlich nur darum, den Erlebnisnutzen für die kommenden Tage zu maximieren. In unternehmerischen Zusammenhängen betreffen Sunk Costs die Neigung, an hohen Investitionen festzuhalten, obwohl diese sich als strategisch falsch herausstellen (dies spielte etwa im Beispiel des TV-Herstellers Loewe (s. Tab. 1) eine Rolle, der gerade erst in die Fabrikation von Röhrengeräten investiert hatte).

Tab. 1 Beispiele für Unternehmen, die Wandel unterschätzt haben (Lauer 2019, S. 32)

All die oben angeführten Mechanismen führen in Summe dazu, dass notwendiger Wandel eher verschleppt wird (vor allem durch die verantwortlichen Führungskräfte), und sollte dieser doch in Angriff genommen werden, eher auf Ablehnung seitens der Mitarbeitenden stößt, da man auch von deren Seite aus (zunächst) nicht an die Notwendigkeit der Veränderung glaubt.

3.2 Spezielle Herausforderungen für Mitarbeitende

Widerstände der Mitarbeitenden haben im Falle digitaler Transformationsprozesse aber in der Regel auch noch ganz spezifische Ursachen, die nicht primär auf die oben genannten psychologischen Mechanismen zurückzuführen sind, sondern dem Wesen der Digitalisierung selbst entspringen (vgl. Tab. 2). Zu nennen sind hier vor allem folgende Aspekte (Lauer 2021, S. 118 ff.):

Tab. 2 Beispiele für Widerstände in der Praxis

3.2.1 Die Angst vor Überforderung, mit der Technologie nicht klarzukommen

Angesprochen sind hier Phänomene, die auf einem wahrgenommenen Mangel an sogenannter digitaler Kompetenz beruhen. Digitale Kompetenz bezeichnet die selbstbewusste, kritische und kreative Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Erreichung von Zielen in Bezug auf Arbeit, Beschäftigungsfähigkeit, Lernen, Freizeit, aber auch zur Eingliederung und/oder Teilhabe an der Gesellschaft (Ferrari 2013). Mangelnde digitale Kompetenz ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass eine Digitalisierung im Arbeitsalltag zumeist mit dem Erlernen des Umgangs mit neuen digitalen Tools zu tun hat. Dabei wäre die Herausforderung geringer, wenn eine Softwareanwendung lediglich durch eine andere ersetzt wird. In der Realität führt die Digitale Transformation aber zu permanenten Strukturbrüchen. Im Laufe eines Arbeitslebens wurde deshalb eventuell zunächst das Ersetzen von Papier und Stift durch einen Computer erlebt, dann die Einführung einer speziellen, singulären Software für die eigene Tätigkeit (etwa einer Finanzbuchhaltungssoftware), anschließend das Ersetzen der singulären Insellösung durch ein vernetztes System (z. B. ein Enterprise Ressource Planning System wie SAP), dann die Einführung mobiler Anwendungen mit Virtual Reality Brillen und vielleicht (in naher Zukunft) das Ersetzen von Teilen der eigenen Tätigkeit durch Künstliche Intelligenz. Mit jedem dieser Strukturbrüche steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Betroffene überfordert fühlen, zumal Lernfähigkeit und -bereitschaft mit dem Alter tendenziell abnehmen (Pleger et al. 2016). Aber nicht nur ältere Arbeitnehmende leiden an einem Mangel an digitaler Kompetenz, sondern erste Studien zeigen gerade in Deutschland in dieser Hinsicht auch einen Nachholbedarf bei der Generation der digital Natives, da digitale Kompetenz mehr als den oberflächlichen Gebrauch von Smartphones umfasst (Palmer et al. 2020, S. 36).

3.2.2 Die Angst vor Job- und/oder Bedeutungsverlust (Verlust an Autonomie)

Digitalisierung im Arbeitsleben geht immer stärker mit der Substitution von Tätigkeiten einher, die vorher von Menschen ausgeführt wurden. Zunächst hat dies in starkem Maße physische Tätigkeiten im Zusammenhang mit Automatisierungstechnik betroffen, umfasst aber im Zuge der Entwicklung Künstlicher Intelligenz immer stärker auch geistige, bis hin zu kreativen Tätigkeiten. Entsprechend führen digitale Transformationsprozesse oftmals zu Ängsten vor Bedeutungsverlust oder gar Arbeitslosigkeit bei betroffenen Gruppen. So hatten bereits 2021 laut einer Studie der renommierten Unternehmensberatung Ernst & Young 12 % der über 1500 Befragten Arbeitnehmenden mittlere oder große Angst vor einem Jobverlust durch Digitalisierungsprozesse. Im Jahr 2017 lag dieser Wert noch bei 7 % (Ernst & Young 2021). Diese Ängste sind vom Grundsatz her rational, da ja eben diese Substitutionsprozesse real vorhanden sind. Das Ausmaß der Ängste ist aber nicht selten übersteigert. So werden mitunter die positiven Aspekte der Digitalisierung übersehen (etwa, dass man anstrengende oder langweilige Arbeiten digitalen Technologien überlässt) und das Ausmaß der Substitution überschätzt (wenn Entlassungen etwa gar nicht vorgesehen sind). Das Ausmaß der Ängste ist dabei in hohem Maße von der Güte der Kommunikation durch Führungskräfte im Rahmen der Transformationsprozesse abhängig. Dort, wo Kommunikation nicht transparent erfolgt, wird fehlende Information eher durch negativ behaftete Gerüchte ersetzt. Auch die Form der Führung – autoritär versus partizipativ – spielt hier eine Rolle. Ein angeordneter Wandel ohne Mitwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen führt psychologisch eher zu Reaktanz und somit Ablehnung (Lauer 2019, S. 53 f.).

3.2.3 Die Angst vor digitalem Stress und Isolation

Digital basierte Kommunikationstechnologien haben im Arbeitsleben eine durchaus ambivalente Wirkung auf das Wohlbefinden und speziell die Work-Life-Balance von Mitarbeitenden. So wird einerseits durch die Ermöglichung einer größeren Flexibilität (Stichwort Home Office) das Wohlbefinden gestärkt, andererseits droht aber auch eine Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit sowie ein Information-Overflow durch ein Übermaß an Nachrichten auf zahlreichen digitalen Kanälen. Zudem nimmt das Ausmaß direkter sozialer Kontakte, sei es mit anderen Mitarbeitenden oder auch Kunden, tendenziell ab (vgl. Palmer et al. 2020). Gerade aber auch der Austausch mit Gleichrangigen und das Einholen sozialer Unterstützung durch diese stellen aber einen wesentlichen Schutzfaktor in Bezug auf Stressprävention im Arbeitsleben dar (Zimber et al. 2015).

4 Spezifische Coaching-Aufgaben und Best Practices

Nachdem oben die allgemeinen und spezifischen Herausforderungen thematisiert wurden, die durch digitale Transformationsprozesse in Unternehmen ausgelöst werden, soll der zweite Teil des Artikels vor allem der Bewältigung dieser Herausforderungen gewidmet sein. Dabei wird darauf eingegangen, wo personenzentriertes Coaching bei Führungskräften ansetzen kann. Dies geschieht unter Rückgriff auf die in Abschn. 3 geschilderten Herausforderungen zweifach: zunächst in Bezug auf die Veränderung der Einstellung der Führungskräfte im Hinblick auf digitalen Wandel (4.1) und dann, um ihr Handeln im Hinblick auf die Widerstände der Mitarbeitenden zu verbessern (4.2).

4.1 Ansatzpunkt Selbstreflexion Führungskräfte

Beim ersten Ansatzpunkt geht es darum, Führungskräfte von der Notwendigkeit der digitalen Transformation zu überzeugen, falls diese bisher verpasst wurde und so langfristig strategische Nachteile für das Unternehmen drohen.

Best Practice

Sollte dieses Problem vorliegen, dann greifen vermutlich die psychologischen Mechanismen, die weiter oben diskutiert wurden (s. 3.1). Hier geht es also darum, Einsicht in die Notwendigkeit des digitalen Wandels zu erzeugen, um so kognitive Dissonanz zuzulassen und diese in eine Veränderung des Denkens zu überführen. Eine Möglichkeit kann hier sein, Führungskräfte zur Selbstreflexion in Bezug auf die eigene Digitalisierungsgeschichte anzuregen. Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man eventuell die Geschwindigkeit und das Ausmaß von Digitalisierungsprozessen unterschätzt, kann es für Führungskräfte hilfreich sein, das eigene Denken zur Digitalisierung und die eigene Nutzungsgeschichte nachzuvollziehen. Wie sieht z. B. die eigene Nutzungsgeschichte bei Smartphones, Cloud-Computing, Social Media aus? Hat man diese Technologien gleich mit Begeisterung empfangen oder ist man diesen eventuell zu Beginn eher kritisch gegenübergestanden oder hat zumindest das Potenzial nicht erkannt? Wie stark ist die eigene Nutzung dieser Technologien heute ausgeprägt? In einem Großteil der Fälle werden Führungskräfte (und nicht nur diese) hier erkennen, dass ein Einstellungs- und Nutzungswandel stattgefunden hat, den man selbst so nicht erwartet hatte, sofern man ehrlich zu sich ist. Aufgabe des Coachings kann hier sein, nicht nur zu diesem Gedankenexperiment anzuregen, sondern zu helfen, sich an seine wirkliche ursprüngliche Einstellung zu diesen Technologien zu erinnern. Denn Mechanismen wie die Vermeidung kognitiver Dissonanz (s. oben) können auch hier zu einer verzerrten Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit führen.

4.2 Ansatzpunkt Führungsverhalten in Bezug auf Mitarbeitende

Der zweite Punkt möglicher Interventionen setzt an der Schnittstelle Führungskräfte – Mitarbeitende an. Es geht hier darum, Führungskräften ein Bewusstsein dafür zu ermöglichen, dass gegebenenfalls eine Veränderung von Haltung und Verhalten notwendig ist, um Widerstände bei den Mitarbeitenden gegenüber digitalen Transformationsprozessen konstruktiv abzubauen. Dies ist vor allem dort wichtig, wo diese Widerstände durch einen möglicherweise eher autokratischen oder wenig transparenten Führungsstil verstärkt werden.

Best Practice

Um die Widerstände bei den Mitarbeitenden zu überwinden, bedarf es in erster Linie einer analytisch-konstruktiven Haltung von Seiten der Führungskräfte. Die spontane Reaktion von Führungskräften gegenüber Widerständen, etwa offener Gegenargumentation von Mitarbeitenden, ist aber nicht selten eine negative Sanktionierung, da diese als Angriff auf die eigene Autorität als Führungskraft erachtet werden. Sanktionierung kann hier von rein mimischer Ablehnung bis hin zu echten Sanktionen in Bezug auf die berufliche Laufbahn der Mitarbeitenden reichen. Unterbinden von Widerständen ist aber in der Regel der falsche Weg. Diese werden sich dadurch im Sinne der Reaktanz eher verstärken und durch weniger offensichtliches Verhalten – etwa mangelnder Einsatz am Arbeitsplatz („Dienst nach Vorschrift“) – manifestieren (Lauer 2019, S. 62). Zeigen Führungskräfte ein solches sanktionierendes Verhalten, ist es wichtig, die eigene Rolle als Führungskraft zu überdenken. Führung ist ein soziales Konstrukt, und die Rolle der Führungskraft – also die Erwartungen an Führung – unterliegen dem sozio-kulturellen Wandel (Blessin und Wick 2021, S. 461 ff.). Kultur entwickelt sich zwar schneller als die genetische Prägung von Menschen, ist aber grundsätzlich durch Sozialisationsprozesse auch eher auf Konstanz ausgelegt. Deshalb dürften nach wie vor Teile der Führungskultur in Unternehmen auf einer eher hierarchischen Vorstellung von Führung beruhen („Als Führungskraft habe ich das Sagen und darf keinen Autoritätsverlust zeigen!“), die gesellschaftlich und auch betriebswirtschaftlich einer Zeit der industriellen Massenproduktion im Sinne von Fließbandarbeit entspringen. Dies ist aber weder für eine Mehrzahl heutiger Arbeitswelten noch in Bezug auf die typischen Bedürfnisse der jüngeren Generationen Y und Z im Arbeitsleben angemessen, die eher eine Führung auf Augenhöhe erwarten (Mangelsdorf 2015). Vielmehr ist auch hier eine konstruktiv-analytische Haltung gegenüber diesen Widerständen einzunehmen, die bestenfalls auch auf Empathie beruht und somit eine gute Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden ermöglicht. Ausgehend von den spezifischen Herausforderungen digitaler Transformationsprozesse in Bezug auf die betroffenen Mitarbeitenden, ergeben sich dadurch für Führungskräfte insbesondere die beiden folgenden Aufgaben:

  • Förderung der Einsicht in die Notwendigkeit des Wandels bei den Mitarbeitenden, indem vor allem die positiven Aspekte des Wandels herausstellt und die negativen Konsequenzen aufgezeigt werden, die für das Unternehmen bei einem Unterlassen des Wandels erfolgen würden.

  • Nehmen der Angst vor Überforderung und Autonomieverlust, die ja insbesondere in Bezug auf Digitalisierung am Arbeitsplatz spezifisch auftritt.

Dazu sind vor allem von Seiten der Führungskräfte die folgenden Best Practices dienlich:

Offen über den geplanten Wandel kommunizieren

Dies bedeutet, frühzeitig über geplante Digitalisierungsprozesse, deren Notwendigkeit und die positiven Konsequenzen und – falls vorhanden – auch die negativen zu sprechen. Diese Kommunikation sollte dabei möglichst zeitnah und unternehmensweit durch die Führungskräfte persönlich erfolgen (Lauer 2019, S. 129 f.). Damit wird die Hoheit über den Informationsfluss durch die Führungskräfte sichergestellt und das Aufkommen von (zumeist ja negativen) Gerüchten vermindert. Leider besteht in der Praxis nicht selten die Tendenz, lieber nichts zu sagen, weil man Unruhe fürchtet. Dieses Schweigen erzeugt aber erst recht Unruhe, da sich Vorgänge, auch geplante, selten komplett verbergen lassen und das Nicht-Wissen durch Spekulationen und Gerüchte seitens der betroffenen Mitarbeitenden ersetzt wird (Lauer 2021, S. 48 f.). Aus Sicht der Mitarbeitenden werden diese Gerüchte besonders angsterregend ausfallen, denn: „Wenn man nichts sagen möchte, muss ja etwas ganz Schlimmes dahinterstecken!“ Coaches kommt hier die Aufgabe zu, Führungskräften in dieser Hinsicht eine neue Haltung zu verschaffen und mehr Offenheit zu „wagen“.

Schrittweise vorgehen

Digitaler Wandel heißt, Neues einzuführen. Die Wissenschaft, die sich mit der Ausbreitung von Neuerungen unter Nutzern beschäftigt, nennt sich Diffusionsforschung und fußt vor allem auf den Arbeiten von E. M. Rogers (2003). Demnach ist die Bereitschaft, neue Produkte, Technologien etc. zu nutzen, in der Bevölkerung in etwa normalverteilt und reicht von den sogenannten Innovators, die alles Neue aus reinem Interesse ausprobieren wollen, bis hin zu den Laggards, die allem Neuen gegenüber verschlossen sind. Die Ausbreitung von Neuerungen verläuft über die einzelnen Gruppen hinweg als sozialer Ansteckungsprozess. Wichtig ist dabei, eine gewisse kritische Masse an Nutzern zu erreichen, was allein durch die Innovators nicht geschieht, sondern vor allem auch der sogenannten Early Adopters (frühen Nutzer) bedarf. Diese sind Neuem gegenüber aufgeschlossene Personen, die den Nutzen von Neuerungen früh erkennen und bereit und in der Lage sind, diese Neuerungen zu adoptieren. Diese Early Adopters sind zugleich oftmals auch gesellschaftlich angesehene Personen, die damit den weiteren Prozess der sozialen Ansteckung maßgeblich prägen und die sogenannte Majority, also die Mehrzahl der potenziellen Nutzer (ca. 2/3 aller), beeinflussen (Lauer 1996). Das, was in der Diffusionsforschung vor allem für die Nachfrageseite von Märkten entwickelt wurde, gilt sozialpsychologisch gesehen auch für die Ausbreitung von Neuerungen in Unternehmen. Allerdings wird hier zumeist über das Mittel Hierarchie die Nutzung dieser Neuerungen angeordnet. Verdeutlicht man sich nun aber, dass die Bereitschaft dazu zunächst nur durch eine Minderzahl gegeben ist (Innovators und Early Adopters machen nur ca. 1/6 aller Menschen aus), dann sind Widerstände auch darüber leicht zu erklären. Es gilt an dieser Stelle also, aufgeschlossene Führungskräfte in ihrem Bestreben nach Veränderung etwas einzubremsen, also im Coaching davon zu überzeugen, die Geschwindigkeit aus dem Prozess zu nehmen, um eine Überforderung von großen Teilen der Mitarbeitenden zu vermeiden (siehe dazu auch das Beispiel zur Einführung des Beanstandungs-Managementsystems in der Bauwirtschaft). Dies Lösung dafür liegt in einer schrittweisen Einführung. Es gilt deshalb, Early Adopter innerhalb des Unternehmens zu identifizieren und für einen Pilotbetrieb der neuen digitalen Technologien oder Prozesse zu gewinnen. Sie nehmen dann die Aufgabe von Change Agents ein, also von Meinungsführern, die zugleich eine hohe Änderungsbereitschaft aufweisen (Clausen et al. 2011).

Partizipation offerieren

Partizipation, und damit Betroffenen eine gewisse Autonomie einzuräumen, ist einer der Kernerfolgsfaktoren des Change-Managements und entsprechend auch für die Steuerung digitaler Transformationsprozesse wichtig. Die generelle Bedeutung für Partizipation im Rahmen von Wandel wurde schon in den Grundlagenarbeiten zur Organisationsentwicklung durch Kurt Lewin in der Mitte des letzten Jahrhunderts gelegt (Lewin 1963). Neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaften bestätigen die motivationale Wirkung von Autonomie, die das Belohnungssystem im menschlichen Hirn stimuliert (Reinhardt et al. 2014). Die Gewährung von Partizipation bedarf bei denjenigen Führungskräften eines Einstellungswandels, die eben eher dem möglicherweise kulturell vermittelten Glaubenssatz anhängen, Führung bestünde im Anweisen von Dingen. Hier gilt es, von Seiten des Coachings Offenheit für Partizipation zu wecken. Dies kann unter anderem dadurch gelingen, dass man den Führungskräften verdeutlicht, dass es in aller Regel nicht darum geht, die Richtlinienkompetenzen für den von ihnen verantworteten Bereich aus der Hand zu geben, sondern vielmehr darum, Mitarbeitenden in diesem Rahmen die Möglichkeit zu geben, sich mit ihrem Wissen und ihren Bedürfnissen einzubringen. Das bedeutet, dass die genaue Ausgestaltung von Tätigkeiten und Prozessen, auch ihrer Arbeitsumgebung bis hin zu Ort und Arbeitszeiten so weit als möglich den betroffenen Mitarbeitenden überlassen bleiben sollte. Dies verhindert das Aufkommen von Reaktanz und fördert über die Mitwirkung auch die Bereitschaft, sich auf das Neue einzulassen, da man dem Neuen nicht willenlos ausgeliefert ist (Lauer 2019, S. 157).

Tab. 3 zeigt im Hinblick auf die oben angeführten Beispiele aus der Bankenwelt und Bauwirtschaft auf, wie mit Hilfe sinnvoller Interventionen in diesem Sinne anfängliche Widerstände durch die Mitarbeitenden erfolgreich überwunden werden konnten.

Tab. 3 Beispiele für die erfolgreiche Überwindung von Widerständen

5 Fazit und Empfehlung

Widerstände gegen Digitalisierung in Unternehmen sind normal und zu erwarten, da Menschen sozio-genetisch eher auf Konstanz als auf Wandel hin geprägt sind. Ausgehend von einer Selbstreflexion der eigenen Digitalisierungsgeschichte können Führungskräfte aber lernen, solche Widerstände produktiv zu überwinden. Dabei spielen vor allem eine richtige Haltung der Führungskraft, eine offene Kommunikation, die schrittweise Einführung über Change-Agents sowie das Ermöglichen von Partizipation die Hauptrolle.