1 Drei Fallbeispiele

Fall A:

Auftaktsitzung mit einem Team der Sozialarbeit. Der Supervisor schaut in die Runde: neun Frauen und ein Mann. Dieses für das Feld nicht untypische Geschlechterverhältnis markiert der Berater frühzeitig, woraufhin sich von Einzelnen starker Protest regt, wie er das „Gender der Anwesenden so ignorant und unsensibel annehmen“ könne. „Transphobie“ würde man hier entschieden entgegentreten. Der Supervisor ist erschrocken, wie schnell die anfangs zugewandte Stimmung gekippt ist, und betont stotternd, wie wichtig ihm Antidiskriminierung ist. Je mehr er versucht, sich zu rechtfertigen, desto wackliger fühlen sich die Beziehung und sein Supervisionsstuhl an.

Fall B:

Dritte Supervisionssitzung mit einer Gruppe JuristInnen. Die Anwesenden hatten vorher wenig Möglichkeiten zur beruflichen Selbstreflexion und sind noch dabei, sich an das Setting zu gewöhnen. Der Auftakt ist jedoch gut gelungen, die Anwesenden sind sich offensichtlich ausreichend sympathisch, sodass bereits erste eigene Fälle und Themen angebracht werden. Im Rahmen einer Fallbearbeitung entspinnt sich plötzlich eine Diskussion über Geschlecht, Gender und Familienformen. Eine Supervisandin empört sich intensiv darüber, dass „ja heutzutage alle miteinander Kinder bekommen können, Männlein, Weiblein oder sonstwas“ und man schon gar nicht mehr wisse, wie man alle Beteiligten ansprechen solle. „Mama, Mami, PaMa, KoMa – da blickt doch keiner mehr durch!“ Sie sei ansonsten eine tolerante Person, aber das gehe nun wirklich zu weit. Die Supervisorin, gemeinsam mit ihrer Partnerin Mutter von drei Kindern, erstarrt vor Schreck und errötet stark. Damit hat sie nicht gerechnet. Soll sie das ansprechen? Wie kann sie das ansprechen, ohne die noch junge Arbeitsbeziehung durch Beschämung zu gefährden? Wie kann sie es ansprechen, ohne sich selbst zu thematisieren? Oder muss sie sich gar selbst thematisieren und im wahrsten Sinne „outen“, um ihre eigene Lebens- und Familienform nicht zu verraten? Während die betreffende Juristin in der Runde ausschließlich Zustimmung erntet und sich im Raum eine Mischung aus Ablehnung, Entwertung und Spott breit macht, ringt die Supervisorin um Fassung, fühlt sich handlungsunfähig und hofft, dass die anderen es nicht mitbekommen. Irgendwie bringt sie die Sitzung zu Ende und verlässt den Ort sehr aufgewühlt, verletzt und empört. Die SupervisandInnen haben von dieser inneren Krise offenkundig nichts mitbekommen und gehen fröhlich entspannt aus der Sitzung.

Fall C:

Supervision in einem Team der Familienhilfe. Das Team verhandelt einen seit Monaten anschwellenden Konflikt zum gemeinsamen professionellen Sprachgebrauch. Dabei zeigen sich zwei „Lager“: Die eine Seite fordert eine gendergerechte Sprache, die möglichst alle Menschen einschließt. Die andere Seite lehnt das als völlig überzogen und unpraktikabel ab und hält am Bestehenden fest. Der feministischen Supervisorin liegt das Thema persönlich am Herzen, weshalb sie sich einem Lager näher fühlt und ihre Meinung „heimlich“ einbringt, indem sie Argumenten für das „Gendern“ mehr Raum gibt und auch selbst noch befürwortende „Fakten“ ergänzt. Sie kann sich nicht bremsen, selbst als sie spürt, wie sie die Spaltung verstärkt und ihr ein Teil des Teams wegrutscht. Aber sie darf doch unmöglich ihre eigene und „richtigere“ Meinung für sich behalten?

(Biologisches) Geschlecht und Gender (soziales Geschlecht) sind zu Recht heiß diskutierte Themen der Gegenwart. Der Unterschied zu anderen „üblichen“ Beratungsthemen liegt im garantierten persönlichen Bezug: Wir alle identifizieren uns bezüglich Geschlecht und Gender, sei es über Zugehörigkeit oder Abgrenzung, bewusst, benannt oder nicht, es sind grundlegende Säulen unserer Identität. Ebenso nutzen wir Geschlechts- (und zunehmend auch Gender‑) Kategorien, um die Menschen um uns einzuordnen. Unser Gehirn kann nicht nicht ordnen, es ist eine überlebenswichtige Funktion. Was aber nun mal nicht heißen soll, dass man nicht zu schnell, zu viel, unnötig oder falsch einordnen kann. Dann verhindern wir u. a. Gleichberechtigung und lassen Diskriminierung zu.

2 Die „Bindungs-Explorations-Wippe“

Die aktuelle Weltlage mit globalen Bedrohungen und brisanten gesellschaftspolitische Themen nimmt uns alle mit. Und damit auch die Beraterinnen und Berater, die sich in Juli-Zeh-Romanen ausgedrückt plötzlich weniger komfortabel „Über Menschen“ (beraterisch „draußen“ oder „meta“), sondern mitten „Unter Leuten“ („im selben Boot“) wiederfinden (Zeh 2016, 2021). Um sich diese Situation und ihre Folgen im Beratungskontext bewusst zu machen, lohnt ein Blick durch die bindungstheoretische Brille: In Anlehnung an Bowlby (2014) und Ainsworth et al. (1978) beschreiben verschiedene AutorInnen Bindung und Exploration als zwei grundlegende menschliche Aktionssysteme, die sich gegenseitig ausschließen. Diese Dynamik lässt sich in einer Art „Bindungs-Explorations-Wippe“ darstellen (Abb. 1).

Abb. 1
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Die Bindungs-Explorations-Wippe (nach Ainsworth et al. 1978; Brisch 2015; Grossmann und Grossmann 2012)

Im Explorationsmodus entdecken wir die Welt, sind entspannt, neugierig, flexibel und optimal denkfähig. Dieses System ist aktiv, wenn wir uns (als Kleinkind überwiegend durch die Anwesenheit einer Bindungsperson) ausreichend sicher fühlen. Bei Auftauchen einer plötzlichen Bedrohung kippt die Wippe in den Bindungsmodus: Wir hören auf zu explorieren, suchen Schutz und sind auf starke, schnelle Reaktionen eingestellt, was auf Kosten höherer Denkprozesse geht („passageres Frontalhirndefizit“; Besser 2013). Evolutionsbiologisch ist diese Überlebensreaktion hoch sinnvoll, da bei einem Angriff kaum Zeit zum Multiplizieren bleibt und dies für Angriff oder Flucht auch meist nicht notwendig ist.

Wir alle befinden uns ständig – mehr oder weniger schnell und steil „wippend“ – in Explorations- oder Bindungsaktivierung. Ziehen wir die „Bindungs-Explorations-Wippe“ diagnostisch für die beraterische Arbeit heran und betrachten sowohl die Beratenden als auch die Beratungssuchenden, so ergeben sich vier Proto-Typen von Beratungssituationen (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Proto-Typen von „Wippen“ in der Beratung von Teams (Schönfeld 2018)

Grundvoraussetzung für gelingende Beratung ist ein beruhigtes Bindungssystem auf Seiten der Beratenden (Abb. 2.: A und B). In Anbetracht der aktuellen globalen Krisen kann diese erwartete Grundstabilität jedoch nicht immer und überall oder nur mit zusätzlichem Aufwand hergestellt werden. Beraterinnen und Berater brauchen zusätzlich Zeit, Raum, Kraft und Kompetenz, sich selbst zu regulieren. Die mühsamer als sonst herbeigeführte Stabilität kann zudem eine fragile sein, die sich im Arbeitsprozess leichter aushebeln lässt als in ruhigeren Zeiten. Da braucht es abrufbare Ideen, wie Denk- und Handlungsfähigkeit erhalten bzw. schnellstmöglich wieder erreicht werden können. Eine fast immer geeignete Option ist hier die Pause: die Unterbrechung der akuten Bedrohungslage, um Abstand zu gewinnen, durchzuatmen, sich zu beruhigen und über körperliche Bewegung zur kognitiven Beweglichkeit und emotionalen Resonanzfähigkeit zurückzufinden.

In den oben ausgewählten Fällen sollten wir also vor dem Hintergrund multipler Bedrohungslagen davon ausgehen, dass die Grundstabilität der Beratenden, mit der sie in die Settings kommen, eine fragilere ist als „gewöhnlich“. Sie sind mutmaßlich anfälliger für gewisse Beratungsfallen, hier: „Gender-Fallen“ bzw. thematische „Fallen-Cluster“, von denen ich zwei näher betrachten möchte.

3 Fallen-Cluster 1: Das Verletzungstabu

Verletzung ist nicht schön, wir wollen üblicherweise weder verletzen noch verletzt werden. In den letzten Jahren ist besonders durch die #metoo-Bewegung ein größeres Augenmerk auf Grenzverletzungen jeder Art gelenkt worden, was eine wichtige Errungenschaft der (allerdings überwiegend westlichen) Welt darstellt. Machtausübung, Gewalt und die daraus folgenden Verletzungen werden definiert, markiert, kommentiert und ggfs. juristisch behandelt. Da ist nach wie vor noch viel Luft nach oben. Gleichzeitig lässt sich ein immer stärker werdendes generelles Verletzungstabu beobachten. Menschen fühlen sich verletzt und kreieren auf der Grundlage dieser subjektiven Wahrnehmung eine Täter-Opfer-Dynamik. In dieser hat das Opfer die Definitionshoheit und legt indiskutabel fest, wer zum Täter/zur Täterin geworden ist. Nicht selten verliert die andere Seite dabei den Anspruch auf Darstellung der eigenen Perspektive bis hin zum kompletten Sprechverbot. An dieser Stelle nimmt der Kampf gegen Macht- und Gewaltstrukturen eine absurde Wende, und das Verletzungstabu wird zu einer gefährlichen, weil schwer anfechtbaren „Waffe“, die neue Macht- und Gewaltstrukturen schafft und den Diskurs verhindert. Die Welt scheint voller bedrohlicher Fallen, in die man nicht treten möchte.

Gendergerechter Sprachgebrauch hat hohes Fallenpotenzial. Beim Schreiben dieses Textes überlege ich, wie ich gesunden Fußes durch die Landschaft kommen kann. Ich schreibe, wo möglich, neutral von „Beratenden“, aber auch von „BeraterInnen“ oder von „Beraterinnen und Beratern“, weil ich den Sprachkonflikt für mich noch nicht befriedigend auflösen konnte. Abb. 2 zeigt neben den Prototypen, dass ich 2018 den Gender-Stern verwendet habe, was ich aktuell nicht mehr tue, weil es mir eher um die Ansprache von Frauen als zweite große Geschlechtergruppe geht als darum, immer alle Menschen gleichermaßen zu meinen. Frauen explizit zu benennen, ist mir grundsätzlich wichtig und wichtiger als ein ungestörter Schreib- und Redefluss. Damit nehme ich in Kauf, dass sich erstens einige Menschen möglicherweise nicht benannt oder gar verletzt fühlen, was mich durchaus beschäftigt, und zweitens meine Sprache manchmal weniger elegant und flink ist, als es mir gefällt. Der Gender-Stern beschreibt zu oft nicht, was ich meine, und ist außerdem nur les- und nicht hörbar. Diese Entscheidung ist mein aktueller Kompromiss, um schreibend und sprechend zu bleiben.

Die Supervisorin im Fall B sitzt auf komplexe Art in der Falle. Sie wird in ihrer Identität verletzt, ohne dass das Gegenüber sich dessen bewusst ist. Nun dürfte man vielleicht erwarten, dass die Anwesenden sich ganz grundsätzlich darüber Gedanken machen, ob ihre Ausführungen nicht nur allgemein u. a. homophob, sondern tatsächlich subjektiv verletzend sein können. Individuelle Sexualität und auch Gender sind jedoch verschieden leicht von außen erkennbar, was eben nicht nur Vorteile hat. Die JuristInnen gehen davon aus, dass die Person, die sie sehen, eine heterosexuelle Frau ist, weil es statistisch wahrscheinlich ist und sich optisch nichts anderes „aufdrängt“. Ist das nun gut oder schlecht? Sollte die Supervisorin sich professionell und präventiv outen und damit eine potenzielle Falle aus dem Setting entfernen?

Die Supervisorin darf zunächst einmal ganz persönlich entscheiden, die objektive und subjektive Grenzverletzung anzusprechen. In obigen Fall hatte sie infolge einiger privater Gespräche und zweier Kontrollsupervisionen ihre Empörung reguliert und ihre Verletzung versorgt und enttabuisiert. So konnte sie sich wieder auf den Auftrag fokussieren und ihr weiteres Vorgehen unverletzt und neutraler abwägen. Ein direktes Ansprechen in der Folgesitzung hätte sehr wahrscheinlich für Beschämung gesorgt. Damit wäre die andere Seite in eine Bindungsaktivierung geraten und hätte sich im Altvertrauten stabilisiert. Erkenntnis und Haltungsänderung sind dann kaum noch möglich, oft kann es zu einer schwer heilbaren Beziehungsstörung führen. So entschied sie, zum aktuellen, für die anderen unbekannten Vorfall nichts zu sagen, es also zu verschieben in eine zukünftige günstigere Situation, wo es nicht konfrontativ anders aufgegriffen werden kann. Gleichzeitig beschloss die Beraterin, bei der nächsten groben Diskriminierung direkt etwas zu sagen, weil sie nun vorbereitet war und darauf vertraute, sich regulieren zu können. Sie ging entlastet in die nächsten Sitzungen und brachte im Verlauf z. B. über ihre eigene gendergerechte Sprache und Beiträge in den Fällen das Thema angemessen verdaulich in den Prozess ein. Es kam zu keiner weiteren derartig diskriminierenden Entgleisung, die Zusammenarbeit erfolgte zugewandt und konstruktiv. Ihre eigene Verletzung hatte die Supervisorin also erfolgreich verstoffwechseln und enttabuisieren können und war dadurch beziehungs- und arbeitsfähig geblieben, was unabhängig vom konkreten Auftrag auf lange Sicht mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Haltungs- und Handlungsänderung bei den JuristInnen beigetragen haben dürfte.

Die komplementäre Falle stellt das Verletzungstabu auf Seiten der SupervisandInnen dar (Fall A). Aus unserer Professionsperspektive ist es völlig angebracht, richtig und vielleicht wichtig, das offensichtliche Geschlechterverhältnis anzusprechen. Der Supervisor war in dem Moment arglos und voller Überzeugung, gute Arbeit zu leisten. Umso größer der Schreck, als er sich plötzlich angesichts starker Worte wie „Phobie“, „unsensibel“ und „ignorant“ als ein möglicherweise „böser Täter“ im Scheinwerferlicht wiederfand. Eine Pause hätte, so sie ihm eingefallen und noch initiierbar gewesen wäre, helfen können, den Schreck zu verdauen und sein weiteres Vorgehen zu planen. So aber sprach und agierte er aus einer Position von Angst und Angegriffensein, er rechtfertigte sich ungeschickt, was dem Verletzungstabu zu mehr „Munition“ und Macht verhalf. Im Rahmen einer Kontrollsupervision, in der die Destruktivität des Verletzungstabus sichtbar und die durch die SupervisandInnen angemahnte Verletzung normalisiert und enttabuisiert wurde, erarbeitete er sich einen „mutigen“ Einstieg für die nächste Sitzung, wo er das Thema noch einmal aufgreifen wollte. Zu dieser kam es dann nicht, da das Team ihm vorher mitteilte, dass es sich für einen anderen Supervisor entschieden habe, mit dem man sich die Zusammenarbeit eher vorstellen könne. So erfuhr er nachträglich, dass die erste Supervision weniger ein Auftakt, sondern vielmehr eine Probesitzung mit unbekannter Konkurrenz gewesen war – eine Intransparenz, die ja durchaus auch Verletzungspotenzial hat. Vielleicht also wirklich einfach keine gute Passung und verbuchbar unter „kommt vor“? Sollte der Supervisor besser zukünftig darauf verzichten, Offensichtliches anzusprechen, wenn es potenziell verletzen kann, also schweigen zu „neun Frauen und ein Mann“? Aber ist denn nicht nahezu alles potenziell verletzend?

Beratungsarbeit darf sich von dieser Möglichkeit und Drohgebärde nicht lähmen und an die Kette legen lassen, sonst wird sie weniger gut sein. Fehlerfreundlichkeit und ein feinfühliger, entwaffnender Blick auf Verletzung sind wichtige Wirkfaktoren und machen letztlich unsere Beratungsräume zu geschützten Räumen, in denen Verletzung einerseits markiert, begrenzt und verhindert, andererseits betrachtet, besprochen, „verarztet“ und entmachtet werden kann. Der Supervisor von oben entschied sich schließlich dazu, sprechend zu bleiben und in zukünftigen vergleichbaren Situationen gendersensibler auf „augenscheinlich neun Frauen und einen Mann“ hinzuweisen. Freilich erprobungswürdig und mitnichten die Garantie, nicht in die Falle zu tappen, aber aktuell eine geeignete Form, sich wieder weitgehend angstfrei bewegen zu können.

4 Fallen-Cluster 2: Meinungen

Merkmale und Problematiken von Meinungen sind in den vergangenen Jahren für diverse Kontexte umfassend beschrieben und besprochen worden (vgl. u. a. Brinkmann 2022; Busse 2022). Ähnlich dem Verletzungstabu scheinen auch hier ursprünglich positive Errungenschaften wie Demokratie und Meinungsfreiheit schwierige Nebenwirkungen mit sich zu bringen. Sich eine Meinung zu bilden, ist wichtig – keine Meinung zu haben, ist schwach. Meinungen sind grundlegend für Orientierung, Zugehörigkeitserleben und Entscheidungsfindung. In der Krise, in Ohnmacht und Hilflosigkeit wirken Meinungen angstreduzierend und stabilisierend. Deshalb sind wir gerade voll und umgeben von ihnen. Unsere demokratische Verfassung will, erlaubt und erträgt das – hoffentlich.

In allen drei beschriebenen Fällen ließen sich hinlänglich Meinungen vermuten, identifizieren und in ihrer Wirkung untersuchen. Näher betrachten möchte ich an dieser Stelle die Dynamik des Meinungskonflikts im Fall C bezüglich Rolle und Handeln der Supervisorin. Die qua Auftrag eigentlich neutrale Beraterin soll einen Konflikt schlichten, der an starke eigene Überzeugungen rührt. Eine feministische Grundhaltung mit einem dazugehörigen Meinungsgefüge ist wohl zumeist enger mit Identität und Person verknüpft als Haltungen zu „klassischen“ Beratungsthemen wie „Führung“ oder „Kommunikation“. Dass eine geteilte (feministische) Weltanschauung nicht zwangsläufig zu gleichen Meinungen führen muss, zeigen eindrucksvoll bis beängstigend die aktuellen Debatten um Transsexualität, (Non‑)Binarität der Geschlechter und das Selbstbestimmungsgesetz: Meinungsspaltungen und Verletzungstabus, wohin das Auge blickt.

Im vorliegenden Beispiel nun erscheint es wenig überraschend, dass eine feministische Supervisorin beim Thema gendergerechter Sprachgebrauch nicht neutral denkt und fühlt. Zumindest einem Teil des Teams dürfte dies in der bisherigen Arbeit nicht verborgen geblieben sein. In dem Moment jedoch, wo der Supervisorin ihre eigene starke Meinung im Sinne eines emotionalen Angefasstseins aufgefallen war, hätte sie ihre Priorität auf Selbstregulation legen müssen, um dann in Ruhe zu überlegen, ob und wie sie hier geschmeidig „neben“ oder besser „unter“ ihrer eigenen Meinung arbeiten kann.

In der Einzelberatung schnappt die Meinungs-Falle weniger schnell zu, weil es keine so intensive Spaltungsverführung gibt. Im Einzelsetting müssen wir uns nicht einer Seite näher fühlen und können uns so leichter in eine Neugierhaltung und auf eine Ebene des Verstehens begeben. Unter vier Augen wird es möglich, die Not hinter der Verschwörungstheorie zu entdecken und in Teilen sogar nachzuvollziehen. Die eigene Meinung kann leichter „draußen und drunter“ bleiben.

In der Gruppe, im Team ist das schwieriger – zu viel Gleichzeitigkeit, viele Augen, viele Bedürfnisse und Erwartungen, sich anzuschließen bzw. sich zu positionieren in der Frage nach dem, was wahr oder richtig ist – Verführung und Stress. Da ist es objektiv und subjektiv möglich, dass Selbstregulation nur über Meinungsäußerung gelingt, dass es „dran ist“ und die Supervisorin unbedingt etwas sagen muss – für sich, um z. B. eigene Werte nicht zu verraten; für die anderen, indem Grenzverletzungen angesprochen werden. In diesem Fall sollte die Supervisorin für alle deutlich markieren, dass und weshalb sie jetzt nicht neutral sein kann, will oder darf.

Gehen wir hier davon aus, dass die Supervisorin beim Thema gendergerechte Sprache nicht zwangsläufig an den Grenzen des (für sie) Aushaltbaren angelangt, sondern lediglich verführt worden ist, so wäre nach der obligatorischen Selbstregulation eine Konfliktbearbeitung mit dem Eisbergmodell denkbar (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Eisbergmodell (populäre Metapher in Anlehnung an das topografische Modell unterschiedlicher Bewusstseinsebenen von Freud 1900)

Meinungen entziehen sich mitunter dem Verstehen, sie können spalten und entzweien. Irgendwann sind alle Argumente auf dem Tisch und stehen sich, im Falle des Konflikts, scheinbar unvereinbar gegenüber. Daraus resultiert oft nicht nur ein eher sachliches Problem mit der anderen Meinung, sondern ein emotionales mit der meinungstragenden Person. Dann „haben wir ein Problem miteinander“. Wenn Meinungen auf diese Weise festgefahren scheinen und die Supervisorin nicht heimlich und in ihrem Sinne „Zünglein an der Waage“ zu spielen versucht, kann sie anhand des Eisbergs dazu einladen, „unter die Meinungen zu tauchen“. Die Beteiligten bekommen Gelegenheit, (ähnlich wie im oben beschriebenen Einzelsetting) über ihre „Not“ (Bedürfnisse, Emotionen, Werte etc.) zu sprechen, und stellen fest, dass unter der wilden Meeresoberfläche gleiche oder zumindest ähnliche und verstehbare Ursprünge zu finden sind. Dass jemand wissenschaftliche Fakten ausblendet, ist schwer nachvollziehbar. Dass jemand Angst hat und nach Erklärungen sucht, kann kognitiv und emotional verstanden werden. Gelingt es, auf diese Art wieder eine Wahrnehmung von Gemeinsamkeit herzustellen, sinkt die Bedrohlichkeit des Gegenübers und steigt die Chance, dass „Waffen niedergelegt“ und Kompromisse ausgehandelt werden können. Wo keine Kompromisse möglich sind, helfen Fragen nach der Arbeitsfähigkeit: Wo braucht es gemeinsame Lösungen und wo auch nicht? Wer soll, darf, kann oder muss entscheiden? Wie wird damit umgegangen, dass es unterschiedliche Zufriedenheiten mit getroffenen Entscheidungen gibt? Im Fall C z. B.: Was gibt die Organisation gender-sprachlich vor, was darf individuell verschieden umgesetzt werden? Worüber soll, darf und muss noch nachgedacht werden, und was ist vorerst (auch ohne Konsens) fertig besprochen? Schließlich: Wieviel Diversität begrüßt, erlaubt oder erträgt das Setting im Hinblick auf die gemeinsame Arbeitsfähigkeit?

Wir Beraterinnen und Berater kommen nicht umhin, uns mit der Welt und den Themen der Zeit auseinanderzusetzen, eigene Verletzlichkeiten zu managen, zu eigenen Meinungen zu finden und unser „Fallenwarnsystem“ stetig zu warten. Neben dieser Investition in Schutz, Sicherheit und Stabilität braucht es dann jedoch mindestens ebenso viel Leichtfüßigkeit, Mut und Vertrauen, die Dinge geschehen, unsere Meinung beiseitezulassen und auch Störungen als wirksame Variable in Erkenntnis- und Lernprozessen nicht nur auszuhalten, sondern bewusst einzurechnen. Nicht jede Falle muss falsch sein.