1 Vorbemerkung

Ich habe die zeitgenössische, postmoderne Organisation an anderer Stelle als „leaking“, als „undichten Container“ beschrieben (Boback 5,6,a, b). Schwaches Containment zeichnet sich aus durch einen Mangel an Orientierung, Verbindlichkeit und Schutz. Organisationen überlassen ihre Mitarbeiter zunehmend sich selbst: Als Arbeitsnomaden driften sie unbehaust, halt- und fassungslos durch fluide, changierende und erodierende Organisationslandschaften. Immer mehr Menschen arbeiten in Organisationen, die ihre haltende, bergende und schützende Funktion, wenn nicht verloren, so doch zumindest reduziert haben. Das Zoon organisationale, der Mitarbeiter muss folglich seine Ressourcen und Bewältigungsstrategien überdenken und neu ausrichten. Der auf sich selbst gestellte postmoderne Arbeitsnomade braucht neue Schutzvorrichtungen, die sie/ihn mit symbolischer Widerstandsfähigkeit ausstatten, um einem teils toxischen, oft schlecht containten Feld nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.

Das Kernargument – oder vielleicht besser gesagt, die fundierte Intuition, auf der dieser Aufsatz beruht – besagt, dass Poesie eine Quelle von Containment für das Individuum sein kann. Gedichte und das Verständnis dichterischer als poetischer Produktion können im seelischen Haushalt des Arbeitsnomaden, der durch die postmoderne Organisation driftet, eine stützende, Nachhaltigkeit erzeugende Funktion haben. Poesie wird somit zur Ressource, die sich mobilisieren und nutzen lässt, wenn es darum geht, sich agil und intelligent durch schwer berechenbare, unvorhersehbare, beängstigende und turbulente Organisationskonstellationen zu bewegen.

Gedichte gehörten schon immer zum Rüstzeug für das getriebene, ausgesetzte, vulnerable Subjekt. Die poetische Sprache bietet eine symbolische Matrix, ein umhüllendes Gewebe, um mit schwierigen Erfahrungen umzugehen, mit denen uns bedrohliche Situationen konfrontieren. Und Poesie hat die Kraft, stressige, toxische und sogar traumatisierende Erfahrungen, denen Menschen ausgesetzt sind, neu zu fassen und zu verarbeiten. Ich gehe so weit zu behaupten, dass die Schöpfungen der Dichter und ein besseres Verständnis ihrer poetischen Kreativität das symbolische Material liefern, aus dem wir als zeitgenössische Subjekte einen inneren Begleiter, ein unterstützendes Alter Ego, einen gutartigen Doppelgänger schaffen können.

In diesem Sinne beabsichtige ich, ein Reservoir reicher kultureller Produktivität anzuzapfen, das uns „kostenlos“ zur Verfügung steht. Mein Plan für diesen Essay besteht darin, das Potenzial und die Kraft der poetischen Kreativität zweier Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts, Hölderlin und Baudelaire, für uns Bewohner des 21. Jahrhunderts dienstbar zu machen.

(1)

Lassen Sie mich mit einer Selbstbeobachtung beginnen. Ich habe vor ein paar Jahren, als ich noch bei SAP arbeitete, damit begonnen, eine spezielle Form meditativer Praxis mit Gedichten zu entwickeln. Von Zeit zu Zeit nutzte ich die Mittagspause, um im nahegelegenen Wald, der einen kleinen See umgibt, spazieren zu gehen. Mit mir allein unterwegs begann ich, Gedichte zu rezitieren und sie während des Spazierengehens auswendig zu lernen. Ich merkte, wie mich das beruhigte, meinen Geist erfrischte und mein Denken neu ausrichtete und zentrierte. Ich fühlte mich neu geerdet, und es fiel mir leichter, den Rest meines Arbeitstages zu organisieren. Es schien mir, dass ich eine eigenwillige Art und Weise gefunden hatte, mit dem Druck und dem Stress meines Arbeitsumfelds umzugehen. Wie kommt das? Gibt es eine mögliche Erklärung für diese „heilende“ Wirkung des Gehens und Verarbeitens, des Memorierens, des auswendigen Rezitierens von Gedichten für eine gestresste und manchmal gequälte Psyche?

(2)

Ich habe zwei Lieblingsdichter: Charles Baudelaire und Friedrich Hölderlin. Obwohl beide im 19. Jahrhundert lebten, betrachte ich sie in dem, was sie geschaffen haben, und vor allem in ihrer poetischen Art, sich mit der conditio humana auseinanderzusetzen, als Zeitgenossen unseres 21. Jahrhunderts.

Hölderlin ist unser Zeitgenosse im Erleben von Zerrissenheit und Fragmentierung. Seine Dichtung ist das Ergebnis einer schöpferischen Auseinandersetzung mit seinen inneren Konflikten und den Erfahrungen von Entfremdung und Bodenlosigkeit. In seiner Dichtung ringt er um Versöhnung und die Ordnung in dieser Zerrissenheit – auf poetische Weise.

Baudelaires Dichtung ist leitmotivisch durchdrungen von einer Geste der Selbstpreisgabe („Exposure“ bei Sennett 1991). Seine Gedichte sind Zeugnisse einer Kunst des Sich-Aussetzens an und in einer Welt, über die der Einzelne wenig oder keine Kontrolle mehr hat. Seine Gedichte zeichnen Spuren eines schnell vergänglichen und flüchtigen urbanen Lebens. Baudelaire wandelt den Verlust von stabilen Bezügen in Übergangsobjekte: Gedichte.

(3)

„Ein Zeichen sind wir, deutungslos,

Schmerzlos sind wir und haben fast

Die Sprache in der Fremde verloren.“

So beginnt das Gedicht „Mnemosyne“ von Friedrich Hölderlin (1969), Dichter im Übergang von Klassik zur Romantik, Zeitgenosse und Tübinger Stifts-Bruder von Hegel und Schelling. „Mnemosyne“ bedeutet Erinnerung, Bedachtsamkeit, Sorge. In seinem Bedeutungskern verweist Mnemosyne auf das menschliche Bedürfnis nach einer sorgenden Umwelt und haltenden Beziehungen. Es erinnert uns an die Prekarität der condition humaine: Ursprünglich sind wir ein Zeichen, „deutungslos“ – noch nicht berührt, affiziert von Deutung, von Interpretation. Dieser Status der Deutungslosigkeit ist indes nicht zu verwechseln mit „bedeutungslos“. Um jedoch etwas Bedeutungsvolles, jemand Bedeutungsvoller zu werden, sind wir angewiesen auf achtsame und sorgsame Ansprache. Wir bedürfen der sorgenden und haltenden symbolischen Matrix der Sprache.

Meines Erachtens ist die vorherrschende Lobrede auf die Globalisierung von unglaublichen Illusionen durchzogen: „Sweet little lies“ bezüglich der vorgeblichen Gewinne und Chancen, die globale Informations‑, Waren- und Werteströme verheißen. Ist es abwegig, Hölderlins Dichtung zur Entzauberung und Dekonstruktion der Illusion des „globalen Dorfes“ zu nutzen? Globalisierung führt zu Delokalisierung, führt zu einem Verlust der Sprache „in der Fremde“. Sprachverlust wiederum führt zu einem Verlust der Fähigkeit, Bedeutung zu geben und Sinn zu produzieren. Wir sind Zeichen, die von Bedeutungsgebung berührt werden müssen, um nicht „bedeutungslos“ zu bleiben. Wir sind als menschliche Wesen auf eine Lebenswelt angewiesen, die „containt“, d. h. Halt gibt, gehaltvollen Inhalt ermöglicht und damit sinn- und bedeutungsstiftend werden kann für uns unfertige Wesen, die als deutungslose Zeichen zur Welt, zur Sprache kommen. Und sehr wahrscheinlich schon vor unserer leiblichen Geburt macht sich die Sprache als Klang an die Arbeit unserer Bedeutungsgebung. Sprache ist das symbolische Feld, in das wir hineingeboren, vielleicht besser noch, hineingezeugt werden. Und Sprache mit ihren multiplen symbolischen Ordnungen wird zeitlebens an uns und mit uns arbeiten, um uns zu dem werden zu lassen, was wir sind.

(4)

„Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle

Wenn der niedrige, schwere Himmel wie ein Deckel lastet

Sur l’esprit gémissant en proie aux longs ennuis,

Auf dem seufzenden Geist, Opfer langen Trübsinns,

Et que de l’horizon embrassant tout le cercle

Und vom allumfassenden Horizont

Il nous verse un jour noir plus triste que les nuits.“

Verbreitet über uns einen Tag, der düsterer ist als die Nacht

(Charles Baudelaire: „Spleen“ in „Les Fleurs du Mal“)

Das Genie von Charles Baudelaire liegt für mich in seiner Fähigkeit begründet, sich mit dem Stadtleben in all seinen Aspekten auseinanderzusetzen. Die Quelle seiner dichterischen Schöpfung liegt in der Kunst der Selbst-Aussetzung. Baudelaires Melancholie, seine Schwermut, sein „Spleen“, sind die Substanz vieler seiner Gedichte, insbesondere in „Die Blumen des Bösen“ (2011). Er kommentiert, was ihn umgibt, und gleichzeitig nutzt er die Vitalität einer Stadt im Wandel als Inspirationsquelle. Die Stadt befördert die Tugenden eines fragmentierten Selbst, das aufgrund seines Charakters empfänglicher, eifriger und offener zu sein scheint, um die Kunst der Selbstpreisgabe zu erlernen und zu praktizieren. Sich der Unordnung und Vielfalt des städtischen Lebens aussetzend, fand der Dichter Baudelaire Inspiration und formte allmählich seine poetische Art, mit dieser Vielfalt umzugehen, ohne sie zu leugnen.

Baudelaires „Spleen“, seine Melancholie eines heimwehkranken „Flaneurs“, machte ihn sensibel für die Kehrseite des triumphalen Fortschritts des Hochkapitalismus. In seinem Buch „Civitas“ charakterisiert Richard Sennett Baudelaires Eintauchen in das turbulente Pariser Stadtleben in der Mitte des 19. Jahrhunderts, indem er den Dichter selbst zitiert:

„Es war damals die Art von Szene, die Baudelaires Schwermut angezogen haben könnte: In einem Prosagedicht von 1851 schrieb der Dichter über die vom Schmutz der Arbeitsstätten vergifteten Arbeiter: ‚Diese Bevölkerung verzehrt sich nach den Wundern, auf die ihr doch die Erde ein Anrecht gibt; sie fühlt purpurnes Blut in ihren Adern wallen, und sie wirft eine langen, von Trauer beschwerten Blick auf das Sonnenlicht und die Schatten in den großen Parks‘.“Footnote 1

Und Sennett (1991) kommentiert diese Erfahrung der Selbstpreisgabe („exposure“) wie folgt: „Der zivilisierte Mann muss die Not, an der er nichts zu ändern vermag, gleichwohl zur Kenntnis nehmen“ (S. 163). Aber es gibt auch einen Gewinn: „… die Kultur der Großstadt [bestand] im Erleben und Erfahren von Unterschieden, von Klassen-, alters‑, Rassen- und Geschmacksunterschieden jenseits der eigenen, vertrauten Sphäre – auf der Straße“ (S. 166). Und der Dichter Baudelaire erkennt „in den Unterschieden, die die Stadt bereithielt, etwas Überraschendes und Anregendes, Provokationen des Andersseins“ (ebd.).

Kann Baudelaires poetische Art und Weise, sich diesen Unterschieden auszusetzen und sie zu verarbeiten, als ein Weg verstanden werden, der Welt, die ihn umgibt, nicht gleichgültig, abgestumpft – „schmerzlos“ – gegenüberzustehen?

(5)

„Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen.“

(Hölderlin, Hälfte des Lebens)

Im Zusammenhang mit dem Gedicht „Mnemosyne“ habe ich Friedrich Hölderlin als Mahner zu bewusster Fürsorge und Achtsamkeit im Hinblick auf eine heimatgebende und schützende Sprachmatrix vorgestellt. Hölderlin, ein Mann mit wechselndem Temperament, schwankte zwischen den Extremen. Das spiegelt sich in seinen Gedichten wider. Er war durchdrungen von heftigen Konflikten. Sein dichterisches Schaffen ist ein Spiegelbild davon. Und seine Gedichte – vor allem die späteren – sind ein Versuch, diese Extreme miteinander zu versöhnen. Sie können als ein poetischer Weg der „Aufhebung“ der Erfahrung der Fragmentierung durch die vereinigende Kraft der poetischen Sprache betrachtet werden.

Ich möchte mich auf zwei Autoren berufen, die sich mit Hölderlin beschäftigt haben: einen psychoanalytisch informierten Psychiater, Helm Stierlin, und einen französischen Germanisten, Pierre Bertaux. Beide verdeutlichen in ihrer Analyse die Genialität und die poetische Kraft Hölderlins in Bezug auf das „Arbeiten mit und das Durcharbeiten von Gegensätzen und Extremen“. Pierre Bertaux (1994) hebt die Besonderheit von Hölderlins poetischem Stil hervor, der Elemente jenseits einer logisch ordnenden und strukturierenden Grammatik nebeneinanderstellt. In Anlehnung an die Analyse von Th. W. Adorno nennt er dies „Parataxe“. Es handelt sich um eine musikähnliche Art und Weise, „die Sprache in eine Kette zu verwandeln, eine Sequenz, in der sich die Elemente auf andere Weise verbinden als im Urteil“ (S. 390). Helm Stierlin (1992) wiederum betont die besondere Fähigkeit Hölderlins, mit seinen heftigen inneren Konflikten und seiner Zerrissenheit umzugehen und diese Zerrissenheit in eine neue poetische Sprache zu verwandeln und dadurch eine Dichtung von beispielloser Schönheit und Komplexität zu schaffen.

(6)

„Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.

In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,

Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft

Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang;

(…..)

Ein Blitz … dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren,

Durch deren Blick ich jählings neu geboren,

Werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn?

(…..)“

(Charles Baudelaire: „An eine Passantin“. In „Die Blumen des Bösen“)

„Die Modernität“, so schrieb Baudelaire, „ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.“Footnote 2 Die Großstadt ist der Ort dieser Modernität. Urbanes Leben ist permanenter Übergang, und durch die Passagen bewegt sich der unerkennbare Einzelne im anonymen Strom der vielen. Persönliche Begegnung ist in dieser geschäftigen, lärmenden und beschleunigten Welt nur sehr schwer möglich. Urbanes Leben hinterlässt ungestilltes Verlangen und unerfüllte Sehnsucht. Gleichzeitig ist die Stadt die Arena einer „Exposure“ – einer Selbstaussetzung, einer Selbstpreisgabe, die für Baudelaires poetische Inspiration und dichterische Produktion unverzichtbar zu sein scheint. Er setzt sich aus, lässt sich treiben, weil diese Erfahrung für ihn die poetische par excellence ist. Das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige werden zum Erfahrungsstoff, der die dichterische Produktivität antreibt und im dichterischen Prozess umgearbeitet wird.

Wenn nun Baudelaire auch über „das Ewige und Unwandelbare“ spricht, die andere Hälfte der Kunst, blitzt da seine Hoffnung auf, dass er dem Entgleiten der Welt im Rausch und Getöse der Stadt etwas entgegenzusetzten hat? Hofft er, dass die Formung dieser Erfahrung im Gedicht, dass die Ästhetisierung des Leidens und die emphatische wie empathische Selbstpreisgabe an dieses Leiden einen Ausweg aus der Entfremdung weisen kann?

(7)

„La lucidité est la blessure la plus rapprochée du soleil.“

„Klarsicht ist die Wunde, die der Sonne am nächsten kommt.“

René Char „Fureur et Mystère“

Wie sehr kann man sich dem Verlust und der Fragmentierung aussetzen, ohne sein Selbst zu verlieren?

Ich habe Hölderlin wie Baudelaire charakterisiert als zwei Dichter, die sich der Erfahrung von Verlust, Fragmentierung und Zerrissenheit aussetzen. Das macht sie zu magischen Zwillingen. Doch wie sehr kann man sich preisgeben, ohne sich selbst zu verlieren? Hölderlin und Baudelaire haben an diesen Grundkonflikten menschlicher Existenz dichterisch gearbeitet. Beide kämpfen mit dem Verlust stabiler, verlässlicher Bezugsgrößen. Beide erleben Disruption und Fragmentierung. Und beide suchten und fanden dichterische Mittel, mit diesen existentiellen Herausforderungen umzugehen. In dieser „Exposure“, diesem Sich-Aussetzen schafften sie Dichtung und Gedichte von beispielloser Komplexität und Schönheit.

Doch was können wir heute – und speziell die postmodernen Arbeitsnomaden – von ihnen profitieren, von ihnen lernen? Die Beschäftigung mit ihrer Dichtung versetzt uns in ein Verhältnis der Zeitgenossenschaft mit ihnen. Denn die Frage, wie sehr man sich der Erfahrung von Verlust, Fragmentierung und Zerrissenheit aussetzen kann, ohne sich selbst zu verlieren, stellt sich auch dem Arbeitsnomaden des 21. Jahrhunderts. Und als so verstandene Zeitgenossen können wir von ihren dichterischen Schöpfungen profitieren wie von ihrer poetischen Haltung zur Welt.

Einmal sind da die Gedichte. Sie sind Stärkung fürs symbolische Immunsystem des Einzelnen. Dichterische Sprache ist eine Sprache der hochverdichteten Synthese menschlicher Erfahrung. Gedichte sind Container. Dichtung ist Containment. Poesie containt. Die symbolische Matrix dichterischer Sprache ist eine immunitäre Textur. Verabreicht als Tinktur in Form von Gedichten kann der Einzelne sowohl im rezeptiven Vollzug und Rezitieren von Gedichten wie im Selbst- und Umdichten eine Praxis des poetischen Selbstcontainments zum Selbstschutz und zur Selbstkräftigung entwickeln.

Dichterische Sprache ist eine Selbstsorgevorrichtung. Dichtung ist Mnemosyne: Erinnerung, Bedacht, Sorge. Sie hilft beim Aufbau und Erhalt eines symbolischen Immunsystems, das Produzent wie Rezipient resistent-resilient werden lässt gegen die An- und Zumutungen der postmodernen Organisation, der spätmodernen Welt im Allgemeinen. Dichterische Sprache schafft, nährt und erhält ein inneres solidarisches Alter Ego, poetische Sprachelemente können integriert werden in die symbolische Verfassung und Verfasstheit der eigenen Subjektivität. Dichtung als Praxis, Poesie im Vollzug schafft ein benignes inneres Double, den inneren Poeten.

Übung in dichterischer Praxis, im Gebrauch dichterischer Sprache, im Umgang mit Gedichten schafft einen inneren mentalen, poetischen Raum fürs Subjekt. Dieser Raum gleicht einem Sanktuarium, einem Schutzraum, einem Depot, das fürs Subjekt begehbar ist, eine innere Kathedrale, die symbolische, spirituelle, mentale Ressourcen bereithält, die das poetische Subjekt nutzen kann, um das eigene Immunsystem zu stärken. Es kräftigt die Konstitution, die vonnöten ist, will der postmoderne Nomade bei der Drift durch eine Welt voller Disruption, Fragmentierung, Unvorhersehbarkeit und Grenzenlosigkeit sich nicht verlieren. Dichtung wird so eine Quelle von Containment. Das Subjekt, gehalten vom symbolischen Gewebe, der poetischen Textur dichterischer Sprache, kann sich der Welt öffnen, sich ihr aussetzen und auch angesichts schwieriger Erfahrungen Halt finden, kann diese artikulieren, metabolisieren und ins poetische Selbst integrieren.

Zurück zu unseren Dichtern Hölderlin und Baudelaire. „Hölderlin hat“, um ein letztes Mal Helm Stierlin zu zitieren, „indem er sich um geordnete Zerrissenheit bemühte, sich der Zerrissenheit aussetzte, um daraus eine Ordnung entstehen zu lassen, sich in schöpferisches Neuland gewagt und eine Lyrik geschaffen, deren Schönheit und Komplexität für viele Heutige unübertroffen ist, ja ungemein modern anmutet, weil sie die Zerrissenheit unserer eigenen Zeit und die sich daraus ergebenden Chancen und Herausforderungen widerzuspiegeln scheint“ (Stierlin 1992, S. 63).

Und Baudelaire hat für Richard Sennett als Dichter im Paris des 19. Jahrhunderts als erster versucht, eine Vorstellung davon zu entwickeln, „wie die Großstadt eine neue Form von Subjektivität hervorbringen könnte“ (Sennett 1991, S, 159). Baudelaire ist ein Lehrmeister in „Exposure“, der Selbstpreisgabe an und der Selbstaussetzung in die Welt. Könnte sein poetischer Weltbezug nicht auch Vorbild sein für das postmoderne Organisationssubjekt? Ließe sich mit Baudelaire als poetisches Alter Ego im Gepäck, diesem Dichter, der seine poetische Subjektivität in der Drift durch den Lärm und das Dickicht der modernen Großstadt entwickelte, nicht auch eine radikal ästhetische und dabei poetisch-metabolisierende Haltung zur postmodernen Organisationswelt entwickeln?

(8)

Zurück zum Anfang: Mein Hauptargument war, dass die Poesie für den Einzelnen eine Quelle von Eigensinn und Selbstsorge sein kann, dass die poetische Sprache eine symbolische Matrix aufspannt, eine Sprache bietet, um schwierige Erfahrungen zu artikulieren und zu verarbeiten. Wenn wir zu den Wurzeln des Begriffs „Poesie“ zurückgehen, werden wir feststellen, dass er ursprünglich eine viel breitere Bedeutung hatte. Mit Sennett lässt sich „poetisch“ in Anlehnung an den griechischen Begriff poíesis als eine Form des Weltbezugs, der aktiven Teilhabe und engagierten Auseinandersetzung mit der Welt verstehen. In „Civitas“ erinnert Sennett (1991, S. 14) an die ursprüngliche Bedeutung von poíesis als „dem Verlangen, etwas zu tun, etwas zu machen“. Dabei steht poíesis in enger Nachbarschaft zu sophrosýne, übersetzbar als Anmut, Gelassenheit oder Besonnenheit. Zusammen dienen sie dem Individuum als Matrix einer Haltung und Tugend, die Lebenskunst als Kunst der Selbstpreisgabe (art of exposure) versteht. Hören wir hierzu nochmals Sennett:

„Zeuge zu werden sowohl von Unheil als auch von Vielfalt galt (…) insofern als wertvoll, als das Individuum, indem es sich der Welt aussetzte, nach und nach seine Orientierung fand und lernte, ein Gleichgewicht zu wahren. Diesen Zustand bezeichneten die Griechen als sophrosýne, was man mit ‚Anmut‘ oder ‚Gelassenheit‘ übersetzen könnte. Heute würden wir einen Menschen, der sein Gleichgewicht in der Welt wahrt, als centered, als ‚zentriert‘ oder ‚ausgeglichen‘ bezeichnen. […] Aber für die Griechen bedeutete Gleichgewicht sowohl Handeln als auch Sehen. Daraus, dass man Anteil nimmt an dem, was man sieht, erwächst auch das Verlangen, etwas zu tun, etwas zu machen. Die Griechen nannten dieses Verlangen poíesis. […] Insofern er (der Mensch im Gleichgewicht, PB) sich darauf einlässt, etwas zu machen oder zu tun, sind sophrosýne und poíesis eng miteinander verknüpft.“ (Sennett 1991, S. 13f.)

„Poesie“, in diesem weiteren Sinne verstanden als poíesis bedeutet also engagiertes Handeln. Im Modus engagierten Weltbezugs gewinnt das Subjekt seine symbolische Fassung, es konstituiert sich als poetisches Subjekt. Für den hier gewählten Ausschnitt von Welt, den Kontext der postmodernen Organisation, bekommt poíesis den Charakter einer Arbeit der Selbstbehauptung, der Selbst-Regierung und Selbst-Regulierung, orientiert an den programmatischen Leitlinien Eigensinn, Selbstsorge und Resonanz.

2 Epilog

Auf einer meiner regelmäßigen Wanderungen durch die Pfälzer Weinberge, etwa eine halbe Stunde von meinem Wohnort in der Mannheimer Neckarstadt entfernt, flog mir folgende Einsicht zu: „Das Gedicht ist das Gebet des Agnostikers.“ Es bietet für diejenigen, die nicht auf religiöse Weise glauben oder glauben können, die Möglichkeit, sich mit einer spirituellen Dimension im Leben zu verbinden. Musik mag da ein weiteres Medium sein, um ganzheitlich und sogar spirituell mit etwas verbunden zu sein, das nicht offensichtlich, konkret, evident, datenbasiert oder wissenschaftlich ist.

Ich habe hier über Poesie und poetische Artefakte als subjektive Containment-Strategien und als Ressource für Eigensinn und Selbstsorge im Kontext postmoderner, als schwach containter Organisationskulturen nachgedacht. Diese Überlegungen gehen zurück auf einen Beitrag, den ich für die ISPSO Konferenz 2010 in Elsinor vorbereitete (Boback 2010). Seitdem begleitet mich das Thema. Poesie ist als Kunst menschlicher Sprechakte eine genuin humane Fähigkeit. Als Symbolisierung und Mentalisierung im Vollzug stärkt sie unser symbolisches Immunsystem. Sie hilft uns auch, uns in Resonanz zu begeben mit dem, was Heidegger „Existenzialien“ nennt: Sorge und Angst als „Gestimmtheit“ und „Grundbefindlichkeit“, als Grundstimmungen des menschlichen Daseins (Heidegger 1967, S. 184ff.). Sorge und Angst sind in Organisationen allgegenwärtig und wirken am meisten dort, wo man sie mit lautem Marketinggetöse zu überstimmen versucht.

Lassen Sie mich mit Poesie schließen. Wenn Hoffnung ein wesentlicher Beweggrund der menschlichen Seele ist, dann sind Gedichte die Behälter der Hoffnung. Sie schweben durch unser kulturelles Universum, treffen auf diejenigen, die empfänglich und bereit für die Begegnung mit ihnen sind. Mögen sie unsere Seele impfen, unser Herz beleben und hoffentlich unsere Handlungen und Haltungen informieren und leiten – zum Besseren.

Der Anfang des Gedichts „Patmos“ enthält einen der berühmtesten, meist zitierten und vielleicht auch am meisten überstrapazierten Sätze in Hölderlins Lyrik. Dennoch möchte ich mich darauf stützen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Gefährdung und Bedrohung lassen das Rettende wachsen. Das ist die Überzeugung des Dichters. In diesem Sinne sollten wir poetisch hoffen, dass die Gefahr, die uns heute heimsucht, das hervorbringt, was uns morgen retten und bewahren kann.