Olaf Hoffjann/Hans-Jürgen Arlt (2015) Die nächste Öffentlichkeit. Theorieentwurf und Szenarien. Springer VS. 141 Seiten. 19,99 Euro

Öffentlichkeit 2015: „Bild“ ersetzt journalistische Berichterstattung über weite Strecken durch die mediale Inszenierung einer eigenen Kampagne zur Flüchtlingsdebatte, für die dann Promis und Sternchen werben. Die nachrichtliche Aktualisierung dazu übernehmen dann mitunter Blogs oder Bürgerdialoge der Regierungs-PR. Und der Skandal bei VW um manipulierte Abgaswerte von Dieselfahrzeugen kommt medial erst einmal wie ein unterhaltsames Drama um die Intrigen der Macht am Wolfsburger Hof daher. Öffentlichkeit und die vielen Gewerke, die hinter ihrer Herstellung stehen, werden in ihrer Unübersichtlichkeit unübersichtlicher. Die Grenzen verschieben sich. Olaf Hoffjann und Hans-Jürgen Arlt nehmen sich dieser „transistorischen Verhältnisse“ (1) theoretisch wie praktisch an – sie „öffnen den Horizont der Darstellung und schlagen eine andere Ordnung der Vorstellung von der modernen Öffentlichkeit vor“ (3). Deshalb sprechen sie auch von der „nächsten“ Öffentlichkeit, während sie die aktuelle systemtheoretisch systematisieren.

Ihr Vorschlag hat es in sich: Das „Funktionssystem Öffentlichkeit“ mit seinem „Erfolgsmedium“ Aufmerksamkeit konstituiert sich über die drei „Programme“ Ereignis, Erlebnis und Strategie. Dazu haben sich vier „Leistungssysteme“ ausgebildet: Journalismus, Unterhaltung, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung (37 ff). Dass diese abstrakte Ordnung das Zeug hat, die Unübersichtlichkeit tatsächlich zu strukturieren, machen die Autoren in ihren Analysen zur „Evolution“ von Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit exemplarisch deutlich. Ihre zentralen Diagnosen: In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher wie medialer Komplexität nimmt neben dem Bedürfnis nach Dabeisein auch der Bedarf an Überblick und Orientierung zu (112.) Journalismus behält so eine Führungsrolle – seine scheinbare Krise ist eher eine seiner Geschäftsmodelle. Das führt aber dazu, dass statt eines Booms journalistischer Formate ein Boom der Öffentlichkeitsarbeit mit ihrer Möglichkeit, Journalismus zu simulieren, zu beobachten ist (118–119). Und die Parallelisierung mit dem System Unterhaltung ist unter dem „Marketing-Paradigma“ (115) für die anderen Funktionssysteme unumgänglich – journalistisches Ereignis und organisationale Strategie müssen heute immer auch der Leitdifferenz des Systems Unterhaltung folgen: angenehmes Erlebnis/kein angenehmes Erlebnis.

Dass man Niklas Luhmann für einen Säulenheiligen einer Theorie der Öffentlichkeit hält, ist zwar nicht zwingende Voraussetzung der Lektüre – allerdings erleichtert es sie schon erheblich. Denn die ersten beiden Kapitel zur Öffentlichkeit und ihrer Leistungssysteme sind systemtheoretische Kernerarbeit. Hier werden Begriffe wie Funktion, Code, Leitdifferenz (9 ff) oder auch die Differenz „Funktionssystem Öffentlichkeit vs. Funktionssystemöffentlichkeiten“ (30 ff) in ihrer aktuellen theoretischen Diskussion erörtert und immer wieder von Luhmann aus hergeleitet. Das macht es aber auch zur begriffsgeschichtlichen Fundgrube, wenn z. B. beim Begriff der Massenmedien Luhmann gegen Luhmann gelesen und in der Folge wiederum die Kritik an der Kritik erörtert wird (11 ff). Da liest man deutlich raus, dass Olaf Hoffjann als Professor für Medien und Marketing in Braunschweig und Hans-Jürgen Arlt als Honorarprofessor für Strategische Kommunikationsplanung in Berlin lehren. Sie haben ihr Buch didaktisch gegliedert. Der studierende Leser kann die Komplexität der Gedankengänge Schritt für Schritt rekonstruieren. Für belesene Theoretiker wiederum liefern Hoffjann und Arlt reichlich Angriffsflächen, denn ihre Konstruktion der Leistungssysteme stellt sich in Vielem quer zu gängigen PR-Theorien, Theorien starker oder schwacher Medienwirkungen oder Thesen zur Interdependenz und Intereffikation von Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit.

Aber hier schreiben auch zwei erfahrene Praktiker – so war Hoffjann beispielsweise als Campaigner und Journalist und Arlt als Pressesprecher über lange Jahre im Geschäft. Indem sie die vier Leistungssysteme an praktischen Beispielen zueinander in Bezug setzen (Journalismus versus Unterhaltung, Öffentlichkeitsarbeit versus Werbung etc.), entsteht eine Vielzahl an Perspektiven auf die Berufspraxis. Das klingt dann zum Beispiel so: „Die Digitalisierung begünstigt nicht nur multi- und crossmediale Anwendungen nach der Maxime ‚one content, all media‘, sie trägt auch zu Transformationen der Berufspraxis bei: Von der Journalistin zur Pressesprecherin, vom Onlineredakteur zum Werbetexter, vom Kampagnenplaner zum Kolumnisten, von der TV-Reporterin zur Unterhaltungskünstlerin.“ (73) Wie nun die Gewerke der vier Leistungssysteme die Aufgabe des Funktionssystems Öffentlichkeit realisieren (oder konterkarieren), der Gesellschaft kollektive Informationen zu liefern, lässt sich in den vielen „Publikums-, Führungs- und Domänespielen“ des Buches nachlesen. Die Online-Öffentlichkeit schließlich produziert einen Mix aus Unterhaltung, Journalismus, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit. Ihr Extremismus zeigt sich für Hoffjann und Arlt durch „Autonomie und weitergehende Ausdifferenzierung jedes der vier Leistungssysteme an einem Pol“ und am anderen Pol durch den „Eigensinn des Funktionssystems, der nur noch der Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit schenkt“ (139). In Zeiten, in denen die Zahl der Likes für #refugeeswelcome schon eine Nachricht zu sein scheint, ist das eine starke theoretische Differenzierung.