Die hegemoniale Selbstdarstellung der Moderne ist nach wie vor gestaltungsoptimistisch. Die Erkenntnis der Moderne, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse Menschenwerk sind, hat den Schluss auf eine umfassende Gestaltungskompetenz – im dreifachen Sinne von Vermögen, Befugnis und Verantwortung – getragen. Wer hervorbringt, kann gestalten; und wer gestalten kann, kann und muss verbessern. Der Logiker mag hier ein mehrfaches „non sequitur“ attestieren: Das ist dennoch das Credo der heroischen Moderne. Zwar wurde dieser Glaube von Anfang an zugleich von Gestaltungspessimismus begleitet, der auch durchaus prominente Sprecher wie Edmund Burke oder Arthur Schopenhauer hatte. Doch bis heute dominiert der Gestaltungsoptimismus.

In der soziologischen Beobachtung der Moderne spiegelt sich dieses Gegeneinander wider, wenngleich mit einer verschobenen Gewichtung. Die Soziologie ist nicht so gestaltungsoptimistisch wie die öffentliche Meinung und die Entscheidungsträger. Doch auch in der Soziologie überwiegt nicht Gestaltungspessimismus, sondern lediglich Gestaltungsskeptizismus.Footnote 1

Im vorliegenden Beitrag liegt mein Fokus auf Phänomenen, die eher gestaltungspessimistisch als -optimistisch stimmen. Wenn Gestaltungsabsichten fehlschlagen, empfinden diejenigen, die gestalten wollten, sowie diejenigen, die sich von diesen Aktivitäten etwas versprachen, Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit will ich soziologisch näher beleuchten: Wie stellen sich ihre Ursachen objektiv dar, wie wird sie subjektiv erfahren? Meine zentrale These lautet: Die Moderne beschert dem Individuum zwei Arten von Hilflosigkeitserfahrungen. Die eine, bereits vielfach behandelte Art geht darauf zurück, dass die moderne Entscheidungsgesellschaft zugleich Organisationsgesellschaft ist. Ihr wende ich mich zunächst kurz zu. Sie dient aber nur als Kontrastfolie, um dann ausführlicher die andere Art von Hilflosigkeit charakterisieren zu können: die Hilflosigkeit in der kapitalistischen Gesellschaft, insbesondere als Kleinanleger auf deren Finanzmarkt.

1 Hilflosigkeit in der Organisationsgesellschaft

Max Webers (1971 [1918], S. 332) düstere Prognose, dass das Individuum vom Freiheitsversprechen der Moderne hinterrücks in ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ bürokratischer Herrschaft geschickt werde, haben so unterschiedliche Theorieperspektiven wie Alfred Webers Kultursoziologie, die klassische Kritische Theorie, die phänomenologische Soziologie oder der Rational-Choice-Ansatz aufgegriffen. Alfred Weber (1953, S. 295–298) diagnostiziert eine „Gesamtverapparatung“ des Menschen. Zeitgleich und sehr ähnlich spricht Adorno (1972 [1953]) vom „Ende des Individuums“ in der „verwalteten Welt“. Zijderveld (1972, S. 158, 160) registriert, „daß die moderne Bürokratie das generalisierte Zwangsinstrument der pluralistischen Gesellschaft ist, welches sie als ein funktionell integriertes Ganzes zusammenhält“. Dabei ist die Bürokratie „ein rein formales Organisationsprinzip, für das die sinnvolle Existenz des Einzelnen keine Rolle spielt und spielen kann“. Coleman (1982) schließlich sieht eine „asymmetrische Gesellschaft“, in der der Einzelne den ihn umstellenden Großorganisationen hoffnungslos unterlegen ist.

Die „organisierte Moderne“ (Wagner 1995), die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in fast allen Gesellschaftsbereichen den Siegeszug formaler Organisationen erlebt hat (Türk et al. 2002; Perrow 2005), findet seitdem die korrespondierende Erfahrung von Hilflosigkeit nicht nur in vielen soziologischen Studien und in Kritiken der „Bürokratisierung“,Footnote 2 sondern unübertroffen eindringlich in Franz Kafkas (1975 [1925]) Roman „Der Prozess“ wiedergegeben. Auch wenn Kafkas biographischer „Entdeckungszusammenhang“ existentiell viel tiefgreifender war als die Frustration mit der eigenen Berufstätigkeit als Anstaltsconcipist in der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, gab er dem Unbehagen an der Organisationsgesellschaft einen bleibenden Ausdruck.Footnote 3 Um es in drei markanten Schritten festzuhalten:

„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ (ebd., S. 7). So fängt es aus heiterem Himmel an. Eine Organisation – hier: ein Gericht – bemächtigt sich des Protagonisten. Er weiß nicht warum, doch die Organisation wird – daran hegt er nie einen Zweifel – ihre Gründe haben.

„Noch war er frei“ (ebd., S. 9). Eine ganze Weile bemüht der Protagonist sich, den gewohnten Alltag im Schatten der Organisation aufrechtzuerhalten. Doch dies gelingt nicht. Schrittweise gerät er immer tiefer in ihre Fänge, und von den drei möglichen Ergebnissen – „die wirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung …“ (ebd., S. 112) – bleibt bald nur noch Letzteres übrig: auf Zeit spielen und hoffen, dass das die Organisation noch eine Weile mitmacht.

Doch auch wenn die Mühlen der Organisation manchmal sehr langsam mahlen, ist dem Protagonisten alsbald klar, dass ihn die undurchschaubare und allein schon deswegen unbeeinflussbare Maschinerie in unheilvoller Zwangsläufigkeit zermalmen wird, bis er am Ende „wie ein Hund!“ (ebd., S. 165) – so die zutiefst schamvolle Selbstwahrnehmung – getötet wird.

Die alltagssprachlich nicht zufällig „kafkaesk“ genannte Hilflosigkeit in der Organisationsgesellschaft zeichnet sich also dadurch aus, dass der Einzelne einem übermächtigen korporativen Akteur gegenübersteht. Die Übermächtigkeit kommt dadurch zustande, dass ganz so, wie Coleman (1974) es analysiert, Einflusspotentiale vieler individueller Akteure nicht nur addiert, sondern kombiniert werden, einander also arbeitsteilig ergänzen. Diese gut geölte interne Arbeitsteilung bleibt dem Blick von außen oftmals verschlossen, ebenso wie das diffizile interne Regelwerk, nach dem die Organisationsmitarbeiter als Agenten des korporativen Akteurs verfahren. Von dieser Binnenperspektive derer, die für die Organisation arbeiten, ist die Perspektive des individuellen Gegenübers – wie Paris (2001, S. 223) vermerkt – „grundverschieden“. Denn: „Was dort als störungsfreie Maschine entworfen wird, erlebt jener als organisiertes Labyrinth …, ein kompaktes Gebilde, in das er nur kleinste Einblicke hat.“ Willkür allerdings, wie bei despotischer Macht oder Gewalt, erfährt der Einzelne nicht.Footnote 4 Er wird „sine ira et studio“ (Weber 1972 [1922], S. 129) behandelt; und die Agenten der Organisation sind austauschbar.

Das ist das Grundmuster einer als Bürokratiekritik daherkommenden Gesellschaftskritik. Hier wird der Einzelne als hilfloses Opfer von großen Konzernen („big business“), übermächtiger Regierung („big government“) und anderen Großorganisationen porträtiert: „Die wirklich großen Organisationen, seien sie öffentlich oder privat, haben damit begonnen, einen Großteil unserer Gesellschaft zu definieren und sich sogar einzuverleiben“ (Perrow 2005, S. 1). In diesem beliebten Thema soziologischer Zeitdiagnosen spiegelte sich wider, dass die Organisationsgesellschaft lange Zeit für die meisten Gesellschaftsmitglieder – neben den bereits zuvor bekannten überhistorisch auftretenden kollektiven oder individuellen Schicksalsschlägen wie Naturkatastrophen, Epidemien, Kriegen, Krankheiten oder Unfällen –Footnote 5 die vorherrschende Quelle spezifisch moderner Erfahrungen von Hilflosigkeit darstellte.

2 Die „Hyperkomplexität“ des Finanzmarkts

Die zweite wichtige Quelle von Hilflosigkeitserfahrungen in der Moderne ist die kapitalistische Wirtschaft – zum einen natürlich in Gestalt von Arbeitslosigkeit in der „Realökonomie“, zum anderen als Verlust von investiertem Kapital auf dem Finanzmarkt. Arbeitslosigkeit werde ich hier nicht weiter betrachten, wiewohl sie quantitativ das weit bedeutsamere Phänomen darstellt.

Generell – auch schon für die Hilflosigkeit in der Organisationsgesellschaft – gilt: Hilflos fühlt man sich, wenn man entweder bei der Verfolgung wichtiger Ziele scheitert oder wenn – noch schlimmer – bedeutsame, vielleicht gar existentielle Erfordernisse der eigenen Lebensführung nicht mehr gewährleistet sind und man nicht weiß, was man dagegen noch tun kann.Footnote 6 Der Finanzmarkt des modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems ist ein Strukturkontext, der den Geldanlegern generell und insbesondere den Kleinanlegern immer wieder genau solche Erfahrungen beschert. Sie wollen mehr aus ihren Ersparnissen machen, als sie bloß auf dem Sparbuch liegen zu lassen – und verlieren sie stattdessen; oder sie müssen sogar – dazu später noch mehr – durch Spekulationsgewinne ihre Rente aufbessern und stehen stattdessen plötzlich mit leeren Händen da, wie es literarisch Emile Zola (1976 [1891], S. 270) anhand des Zusammenbruchs einer Bank plastisch schildert: „Wieviel schreckliche stumme Dramen barg die Masse der armen kleinen Rentiers, der Kleinaktionäre, die alle ihre Ersparnisse in ein und demselben Papier angelegt hatten … Und plötzlich hatten sie nichts mehr, ihre Lebenskraft war gebrochen, hinweggerafft; alte zitternde Hände, die zur Arbeit unfähig sind und ratlos in der Finsternis tasten, alle diese bescheidenen, ruhigen Existenzen waren auf einmal entsetzlicher Not ausgeliefert!“

Wie der historische Rückblick mindestens bis zum holländischen Tulpen-Crash des Jahres 1637 zeigt (Kindleberger und Aliber 2005), ist die Abfolge schwerer und spätestens seit dem 19. Jahrhundert dann auch nicht mehr national begrenzter, sondern internationaler oder sogar globaler Finanzmarktkrisen so kurz getaktet, dass jede Kohorte von Kleinanlegern aus unmittelbarer eigener Erfahrung weiß, dass solche Krisen geschehen und man dann immer auch selbst betroffen sein könnte. Man mag das in Zeiten der Hochkonjunktur vergessen, doch es wird einem früher oder später wieder in Erinnerung gerufen; und dann kann man von Glück sagen, wenn man lediglich bangen muss, dass einem nichts Schlimmes widerfährt und dies nicht auch tatsächlich eintritt. Seit dem Herbst 2008 sind alle Kleinanleger – selbst die, die ihr investiertes Kapital halten oder sogar noch vermehren konnten – unaufhörlich besorgt; und es ist nicht absehbar, wann sie wieder ruhiger schlafen können. Anders als die von Heidegger (1927, S. 191–200) anthropologisch gefasste aktive „Sorge“ um die eigene Lebensführung ist dies ein Besorgtsein, das den Kleinanleger hinsichtlich der Erfolgschancen des eigenen Agierens fundamental verunsichert oder ihn gar ratlos macht und zur völligen Passivität verdammt – eben Hilflosigkeit. Im Monatsbericht vom Januar 2011 der Deutschen Bundesbank heißt es: „Anleger – insbesondere auch private Investoren – zeigen sich angesichts der entstandenen Verluste und der sich offenbarenden Fehlbewertungen an den Finanzmärkten stark verunsichert“ (Deutsche Bundesbank 2011, S. 45).

Fragt man nach dem Ursprung der Hilflosigkeit auf dem Finanzmarkt, stößt man auf dessen „Hyperkomplexität“ (Svetlova 2009), die Talcott Parsons’ bekanntes Problem der doppelten Kontingenz noch übertrifft (Parsons et al. 1951, S. 16). Doppelte Kontingenz heißt, dass zwei Akteure Ego und Alter beide wissen, dass das Ergebnis ihres Handelns – und damit ihre zielorientierte Handlungswahl – vom Handeln des jeweils anderen abhängt; und beide wissen, dass beide dies wissen. Finanzmärkte sind demgegenüber triadische Konstellationen wechselseitiger Beobachtung (Schimank 2011a, S. 113–115).Footnote 7 Der Kleinanleger Ego beobachtet die anderen Anleger Alter und Tertius beim wechselseitigen Beobachten – sehr prägnant von Keynes (2009 [1936], S. 133) auf den Punkt gebracht: „Wir haben den dritten Grad erreicht, wo wir unsere Intelligenz der Vorwegnahme dessen widmen, was die durchschnittliche Meinung als das Ergebnis der durchschnittlichen Meinung erwartet“. Wo Ego am besten investiert, hängt davon ab, wohin der Finanzmarkt sich bewegt, was das Resultat der – auf der Basis genau der gleichen Art von Beobachtungen getroffenen – Investitionsentscheidungen aller anderen Anleger ist.

Als wäre das nicht schon mehr als genug Komplexität, kommt oftmals auch noch ein ebenfalls im Koordinationsproblem der doppelten Kontingenz nicht gegebenes Problem des Timings unter Konkurrenzdruck hinzu: Egos Gewinnchancen hängen dann daran, dass er schneller als Alter und Tertius korrekt antizipiert, wohin der Hase läuft – welche Dynamik der Finanzmarkt insgesamt und einzelne Anlageoptionen im Besonderen durch Alters und Tertius’ Entscheidungen nehmen: „die Änderungen in der konventionellen Grundlage der Bewertung mit einem ganz kurzen Vorsprung vor dem allgemeinen Publikum vorauszusehen“ (Keynes 2009 [1936], S. 131). Wie in einem sportlichen Wettlauf können daher aber immer nur wenige auf den vorderen Plätzen landen. Und so wie dort viele mitlaufen müssen, um die Kulisse des „ferner liefen“ für die auf dem Siegertreppchen abzugeben, müssen viele Anleger den – objektiv zu späten, aber von wenigen anderen korrekt so antizipierten – Einsatz wagen, damit diese Wenigen die großen Gewinne realisieren können.

Diese hochabstrakte Fassung der Entscheidungslage soll die prinzipiell gegebene Komplexität verdeutlichen. Reale Anleger – Börsenprofis und Kleinanleger gleichermaßen – werden durch ihre Umwelt, gepaart mit eigenem Erfahrungswissen, immer schon mit vielfältigen Deutungsangeboten versehen, die die tatsächliche Entscheidungskomplexität reduzieren oder, besser gesagt, verbergen. Zu diesen Komplexitätsreduktionen gehören insbesondere alle Arten von Börsennachrichten, darunter auch tatsächliche oder vermeintliche „Insider“-Tipps, die verknüpft mit Rationalitätsfiktionen (Schimank 2005, S. 373–387) wie der Kaffeesatzleserei der Chartanalyse zu subjektiv plausiblen „Geschichten“ (Schimank 2011a, S. 120–126) – wie der des „Neuen Marktes“ um die Jahrtausendwende – synthetisiert werden. Wenn dabei die subjektive Deutung durch intersubjektive Verstärkung, sei es von Seiten charismatischer „Börsengurus“ (Kraemer 2010) oder professioneller Anlageberater, sei es durch wechselseitige Bestätigungen in Gesprächen – siehe etwa die Investmentclubs, in denen sich Kleinanleger regelmäßig treffen und gemeinsam ihre Entscheidungen besprechen (Harrington 2008) – gefestigt wird, kann sogar so etwas wie „Systemvertrauen“ (Luhmann 1968, S. 54) aufkommen. Dann setzt der Akteur voraus, „daß ein System funktioniert, und setzt sein Vertrauen … in dieses Funktionieren“. Der Anleger glaubt also zumindest zeitweilig an die Beherrschbarkeit und Berechenbarkeit des Finanzmarkts.

Auch die „Hyperkomplexität“ aus sachlich unüberschaubarer, überbordender Informationslast, sozialer Konkurrenz und Zeitdruck kann sich also zeitweise so darbieten, dass die Blackbox Finanzmarkt als Ergebnis ihres Prozessierens nicht nur ganz wenige, sondern viele Gewinner – zumindest auf bescheidenem Niveau – hervorbringt, und zwar solche, die davon überzeugt sind, nicht einfach pures Glück gehabt zu haben, sondern rational und mit dem „richtigen System“ Geld verdient zu haben. So hieß es in der Aufstiegsphase der „new economy“ um die Jahrtausendwende, dass selbst der Dümmste nicht in der Lage wäre, keine großen Gewinne einzustreichen; und folglich wurde in Fernsehsendungen der als dumm dargestellt, der nicht z. B. in die Telekom-Aktien investierte. Solange es gut läuft, ist von Hilflosigkeit nichts zu spüren – ganz im Gegenteil!

Wie auch in der Organisationsgesellschaft gilt also: Längst nicht immer ist die Hilflosigkeit des Kleinanlegers als manifestes Lebensgefühl präsent – was ja auch unerträglich wäre. Als latente, gleichsam im Stand-by-Modus lauernde Grundgestimmtheit durchzieht das Hilflosigkeitsgefühl freilich in vielen Fällen auch solche Phasen einer Kleinanlegerkarriere, in denen manchmal jahrelang alles gut läuft. Zu aufgekratzt wird das Selbstbewusstsein des Gewinners zur Schau gestellt, als dass man nicht merkte, dass die Person ihrem Glück nicht wirklich traut.

3 Hilflosigkeit auf dem Finanzmarkt

Bei genauerem Hinsehen lassen sich drei Stufen der Hilflosigkeit unterscheiden, die locker Charles Kindlebergers Sequenz von „manias, panics, and crashes“ folgen (Kindleberger und Aliber 2005). Die erste Stufe betritt, wer sich angesichts von investierbarem eigenen Kapital die Frage stellt: Wo soll ich investieren? Hier ist noch nichts verloren, und es kann ganz im Gegenteil noch alles gewonnen werden – aber was immer man entscheidet, kann sich als falsch erweisen. Und eine Nicht-Entscheidung ist auch eine Entscheidung: Dann „arbeitet“ das Geld eben nicht oder zu wenig. Die „Hyperkomplexität“ des Finanzmarkts, die sich in Gestalt einer unüberschaubaren Vielzahl von Investitionsmöglichkeiten darbietet, lässt einen ratlos und besorgt dastehen, und zugleich weiß man, dass das, was man tut oder auch nicht tut, folgenreich sein wird. Braun (2010, S. 31) gibt die entsprechende Stimmungslage einer Person, die mit Blick auf ihre Alterssicherung private Vorsorge durch Finanzmarktaktivitäten betreiben sollte, gut wieder: „Warum ich heute nicht an später denken mag – eigentlich komme ich im Leben ganz gut klar. Solange es nicht um Rente, Lebensversicherungen oder Riester-Sparen geht.“ Einerseits ist sie sich „als mündige Bürgerin völlig darüber im Klaren, dass die gesetzliche Rente ganz sicher nicht mehr sicher ist und nicht für ein gutes Leben reichen wird“. Andererseits gesteht sie sich ein: „Ich habe überhaupt keine Lust – weder auf strategische Überlegungen noch auf das im Vergleich weitaus simplere Policen-Suchen. Ich fühle mich von beidem überfordert.“ Immerhin: Verloren hat man noch nichts. Und wenn einem irgendein charismatischer Verkäufer mit einer suggestiven Story einen Floh ins Ohr setzt, wie um die Jahrtausendwende die Telekom-Aktie, ist man überglücklich; und wenn Hunderttausende oder gar Millionen andere das Gleiche tun, fühlt man sich in dieser „mania“ sicher aufgehoben und vermag die Hilflosigkeit zu vergessen.

Auf der zweiten Stufe wird der Akteur mit konkreten Befürchtungen konfrontiert: Seine Investitionen könnten verlustreich enden – aber es ist noch nichts Schlimmes passiert. Zwar folgt jeder Entscheidung eine „Umwandlung von Unsicherheit in ein Risiko (converting uncertainty … into risk)“ (Schon 1967, S. 25): Die Qual vor der Wahl wird in eine Qual nach der Wahl überführt. Aber wenn die auf der ersten Stufe der Hilflosigkeit erlebte Unsicherheit sehr hoch ist, was für viele Kleinanleger auf krisengeschüttelten Finanzmärkten gilt, geht daraus ein entsprechend hohes tatsächliches, zumindest aber gefühltes Risiko hervor. Diese Stufe der Hilflosigkeit kann zum Dauerzustand werden und sich als Kollektivzustand vieler Anleger zur Panik hochschaukeln. Besonders empfänglich für die Qual nach der Wahl sind solche Kleinanleger, die schon einmal die gleich anzusprechende dritte Stufe durchgemacht, nämlich massive Verluste erlitten haben. Selbst wenn sich danach alles wieder zum Guten gewendet hat und die Verluste sich wieder ausgeglichen haben: Diese Anleger wissen nun aus eigener Erfahrung, was passieren kann und wie es ist, wenn die Befürchtungen wahr werden. Zwar ist es jetzt noch mal glimpflich ausgegangen – aber mit so viel Glück darf man nicht immer rechnen.

Die dritte Stufe der Hilflosigkeit erlebt der Kleinanleger beim Eintritt der Risiken. Seine Investitionen erbringen keine Gewinne, sondern das genaue Gegenteil: Verluste – bis hin zum Totalverlust des investierten Kapitals. Diejenigen, die im allgemeinen Börsenrausch kurz nach der Jahrtausendwende Telekom-Aktien gekauft und dann – weniger aus Gier als aus naivem Glauben an die Solidität dieser Firma, immerhin einer ehemaligen Behörde – versäumt haben, sie rechtzeitig zu verkaufen, können ein Lied davon singen. Die Klage-Tirade in Elfriede Jelineks (2009, S. 224, 225) Theaterstück Die Kontrakte des Kaufmanns trifft den Ton solcher „crashes“: „da haben wir geglaubt, auf das richtige Pferd gesetzt zu haben, und das Pferd auf den richtigen Pfad, und wo sitzen wir jetzt?, hat da jemand auf was andres gesetzt?, da können wir doch nichts dafür, aber wir müssen es trotzdem ausbaden, nicht wahr?, nein, nicht wahr, die Krise breitet sich also aus und erfasst alle Segmente des Finanzmarkts, für dessen Gewinner wir uns hielten, für dessen einzige Gewinner wir uns hielten, wir Glücklichen, die Armen können arm bleiben, wir Armen aber werden jetzt reich! Jawohl, wir Armen sind die einzigen Armen, die jetzt reich werden, wenn auch nicht durch unserer Arme Arbeit!, wir können uns darauf verlassen, dass wir uns auf nichts verlassen können und schon verlassen sind …“.

Diese drei Stufen der Hilflosigkeit lösen einander nicht ab, sondern schichten sich auf. Wer Verluste gemacht hat, steht unter umso höherem Druck, so schnell wie möglich neu und besser zu investieren, um die Verluste wieder wettzumachen; und sobald er investiert hat, beginnt das Hoffen und Bangen aufs Neue, im Schatten der Trauer über die erlittenen Verluste. Und spätestens dann, wenn der Finanzmarkt in eine tiefe Krise gerät, die eigenen Anlagen und Anlageoptionen davon erfasst werden und keine Besserung absehbar ist, wie das seit dem Herbst 2008 für nicht wenige Kleinanleger gilt, zeigen sich die markanten Konturen der Art von Hilflosigkeit, die der Finanzmarkt hervorbringt.

Im Vergleich zur Hilflosigkeit des Individuums in der Organisationsgesellschaft stellt sich das, pointiert gegenübergestellt, so dar: In der Organisationsgesellschaft geht das Individuum davon aus, dass es sich in einer stabilen, von Regeln bestimmten Ordnung bewegt, deren Regelhaftigkeit es freilich oftmals nur unvollständig oder gar nicht durchschaut, so dass ihm böse Überraschungen widerfahren können, denen es hilflos gegenübersteht. Soziale Ordnung ist dort primär über Normen gesichert, im Unterschied zum Finanzmarkt, dessen Ordnung auf kognitiv beobachteten Regelmäßigkeiten beruht.Footnote 8 Sich hilflos vorkommende Kleinanleger auf dem Finanzmarkt nehmen sich dann selbst als Bestandteil einer allgemeinen Verunsicherung wahr: Keiner weiß, welchen Regelmäßigkeiten das Geschehen folgt und ob es überhaupt noch welche gibt oder schon das reine Chaos herrscht.

Die regelhafte Ordnung der Organisationsgesellschaft wird durch übermächtige korporative Akteure getragen, denen das Individuum hochgradig hilflos ausgeliefert ist. Auf dem Finanzmarkt ergibt sich eine vergleichbar hohe Hilflosigkeit hingegen nicht aus einer Machtbeziehung, sondern aus der allgemeinen Ohnmacht in der Konstellation involvierter Akteure. Die Organisationsgesellschaft stellt eine – freilich aus Sicht der Individuen extrem asymmetrische – Beeinflussungs- und Verhandlungskonstellation dar, während der Finanzmarkt nur eine Konstellation wechselseitiger Beobachtung ist.Footnote 9 Deren Ordnung – solange es sie gibt – beruht lediglich auf Gleichgewichten wechselseitiger Anpassung, die sich als Regelmäßigkeiten ineinandergreifender Handlungsmuster ergeben.

Die korporativen Akteure der Organisationsgesellschaft sind intentionale Gestalter der regelhaften Ordnung, auch wenn ihre Absichten dem Individuum oft unerforschlich erscheinen und jedenfalls nicht nur Gutes verheißen. Immerhin: Die Individuen können noch Akteure adressieren und an deren Gestaltungsfähigkeit und -verantwortung appellieren. Wie wenig aussichtsreich es auch sein mag, Organisationen dazu zu bringen, stärker auf die Belange der einzelnen Gesellschaftsmitglieder einzugehen oder auch nur im Einzelfall die Regeln außer Kraft zu setzen und im Stile der vormodernen Gesellschaft „Gnade vor Recht“ ergehen zu lassen – das ist gegenüber dem Finanzmarkt, der eben kein Akteur ist, von vornherein aussichtslos. In der Konstellation des Finanzmarkts kann kein Kleinanleger nennenswerte Gestaltungsintentionen hegen; insbesondere in Krisenzeiten verlieren sämtliche Finanzmarktakteure die Kontrolle über das Geschehen. Die Konstellation ist „transintentional“ im doppelten Sinne von unvorhersehbar und – jedenfalls in der Krise – unerwünscht.

Weder in der Organisationsgesellschaft noch auf dem Finanzmarkt ist das Individuum freilich völliger Hilflosigkeit ausgeliefert. In der Organisationsgesellschaft geht die Ohnmacht der Individuen mit Erfahrungen einher, die darauf verweisen, dass die Organisationen Sorge für einen tragen. Wie sehr sie sich auch immer wieder gegenüber den Individuen verselbständigen mögen: Als rein selbstbezogen stellen sie sich nicht dar. Auf dem Finanzmarkt hingegen erfahren die Kleinanleger kaum ein passives Umsorgt-sein. Selbst von ihren Anlageberatern – vorausgesetzt, sie vertrauen ihnen! – werden die Kleinanleger unmissverständlich daran erinnert, dass sie allein die letztendlichen Entscheidungen treffen. Das tun die Berater schon deshalb, weil sie sich rechtlich absichern wollen. Teil- und zeitweise geht diese Selbstresponsibilisierung noch deutlich darüber hinaus, und die Kleinanleger werden zur aktiven Selbstsorge animiert, über die sie sich immer wieder geradezu euphorisch in das Gefühl hineinsteigern, ganz allein des eigenen Glückes Schmied zu sein. Dies drückt sich oft gleichsam sportlich als Herausforderung der Finanzmarktprofis durch die Kleinanleger aus – siehe etwa folgende anfeuernde Botschaft in der amerikanischen Börsenzeitschrift „Fortune“: „Der populärste und am meisten verbreitete Sport Amerikas, die Wall Street-Weisen auszustechen, wurde in den neunziger Jahren zu einer nationalen Obsession. Es ist die Essenz des amerikanischen Mythos – jeder kann groß rauskommen –, die im neuen Millennium wiedergeboren wurde (zitiert bei Stäheli 2010, S. 362, eigene Übersetzung).

Auch wenn der Katzenjammer auf den Fuß folgte: Dass es trotz aller Hilflosigkeit immer wieder Hoffnungsschimmer gibt, sorgt auf dem Finanzmarkt dafür, dass die Kleinanleger als Akteure aufrecht und bei der Stange gehalten werden. In der Organisationsgesellschaft ist ein nahezu totaler Verlust von Handlungsträgerschaft („actorhood“, Meyer und Jepperson 2000) auf Seiten der Individuen denkbar, ohne dass diese durch Ausstieg die Notbremse ziehen könnten. Denn dem Zugriff von Organisationen kann das Individuum nicht einmal als „Aussteiger“ völlig entkommen. Den Finanzmarkt kann der Kleinanleger hingegen jederzeit verlassen – und sei es zwangsweise, weil er alles verliert und kein Geld mehr zum Investieren hat. Wenn sich seine Hilflosigkeit zum Äußersten steigerte, stiege er aus bzw. würde wegen mangelnder Zahlungsfähigkeit weggeschickt. Damit er dabeibleibt und dann freilich immer wieder die damit verbundenen Hilflosigkeitserfahrungen macht, darf die Hilflosigkeit eine – freilich sehr hoch angesetzte – Obergrenze nicht überschreiten.

Eine regelhaft durch dominante korporative Akteure gestaltete Ordnung, die in ihrem unbeirrten Prozedieren dem ihr unterworfenen Individuum immer wieder feindlich oder zumindest gleichgültig gegenübertritt, hier, eine nur labile Regelmäßigkeiten aufweisende, oft genug aus der Bahn geworfene „transintentionale“ Konstellation, die den Kleinanleger immer wieder mit vielen anderen zugleich ins Verderben zu reißen droht, dort. Um es plastisch an typischen kommunikativen Genres festzumachen: auf der einen Seite autoritative amtliche Bescheide, die Widerspruch entmutigen, auf der anderen ständig neue Börsennachrichten, deren unklaren Signalen man hinterherhetzen muss.

Literarisch wird Kafkas Fackel von Thomas Pynchon (1994 [1973]) in dessen Roman Gravity’s Rainbow weitergetragen, der die organisationsgesellschaftliche Hilflosigkeit mit der hier explizierten zweiten Art von Hilflosigkeit verbindet – zwar nicht für Finanzmärkte, sondern für die Zeit des Zweiten Weltkriegs, die bei ihm wiederum für die Moderne als solche steht.Footnote 10 Zum einen finden sich die Protagonisten immer wieder im Absurdistan der „verwalteten Welt“ wieder; doch sie merken schnell, dass die unverstandenen Regeln der Organisation, denen sie sich unterwerfen müssen, in ein noch absurderes organisationsübergreifendes Universum eingebettet sind, in dem gar keine Regeln und auch keinerlei Regelmäßigkeiten mehr auszumachen sind. Dieses Universum heißt „System“ (auch im englischen Original mit großem „S“!), was die fehlenden Ausstiegsmöglichkeiten des Akteurs markiert:Footnote 11 „Innerhalb des Systems zu leben ist wie eine Überlandfahrt in einem Bus, der von einem Wahnsinnigen gesteuert wird, der seinen Selbstmord plant … obwohl er ein netter Kerl ist und ständig Witze über den Lautsprecher läßt: ‚Guten Morgen, Leute, und jetzt Heidelberg, in das wir da gerade einfahren, ihr kennt ja das alte Lied, ‚Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren‘. …“ (ebd., S. 645)

Heidelberg könnte hier durchaus für Max Weber und das „eherne Gehäuse der Hörigkeit“ stehen,Footnote 12 womit die Lektion klar wäre: Beide Arten von Hilflosigkeit sind in der Moderne untrennbar miteinander verknüpft.Footnote 13

Das würden auch Kleinanleger sicher so sehen, die sich ja auf dem Finanzmarkt nicht nur einer turbulenten Konstellation, sondern darin inbegriffen auch Großbanken, Fondsgesellschaften, Rating-Agenturen und anderen Arten von einflussreichen Organisationen gegenübersehen. Diesen Organisationen, an deren Investitionsentscheidungen viele Kleinanleger in guten Zeiten abzulesen versuchen, wohin sich der Finanzmarkt bewegt, werfen sie in Krisenzeiten regelmäßig hilflos ihre maßlose Gier als Krisenursache vor.

4 Der Kleinanleger als Spekulant wider Willen

In Deutschland war der Boom der „new economy“ Ende der 1990er Jahre der Durchbruch einer verstärkten Inklusion auch solcher Bevölkerungsgruppen in den Finanzmarkt, die sich bis dahin nie um Aktien gekümmert hatten. Zwischen 1997 und 2001, also in nur fünf Jahren, verdoppelte sich hierzulande die Anzahl der Aktien- bzw. Fondsbesitzer reichlich von weniger als sechs auf mehr als zwölf Millionen Kleinanleger (DAI 2010). Angesichts der zeitweiligen Renditeversprechen wurden viele Angehörige auch der mittleren oder unteren Mittelschicht, die ihr Geld bis dahin auf dem Sparbuch, in Bundesschatzbriefen oder dem eigenen Haus angelegt hatten, zu Kleinanlegern – auch wegen eines in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg angesparten Vermögens, das nicht durch Kriege oder eine tiefgreifende Wirtschaftskrise vernichtet worden war (Deutschmann 2008).

Zu den Kleinanlegern gehören nicht nur die Aktienbesitzer, sondern auch diejenigen, die ihr Geld in Aktien-, Immobilien- oder Rentenfonds anlegen. Denn auch Letztere begeben sich mit ihren Ersparnissen auf den Finanzmarkt und lassen die Fondsmanager damit spekulieren. Zwar treffen Fondsbesitzer nicht aktiv selbst immer wieder Anlageentscheidungen – was im Übrigen auch für viele Aktienbesitzer gilt, die sich wenig um ihr angelegtes Geld kümmern. Doch Fondsbesitzer treffen aktiv zumindest die Entscheidung, ihr Geld für höhere Gewinnaussichten auf den Finanzmarkt zu schicken, auch wenn sie dann passiv abwarten, was die Fonds daraus machen. Das Entscheidende ist, dass man auch als passiver Kleinanleger von den Turbulenzen des Finanzmarkts betroffen ist und darunter leidet.

In den USA startete die Inklusionsdynamik in den Finanzmarkt viel früher als in Deutschland. In den 20 Jahren zwischen 1980 und 2000 verzehnfachte sich der Prozentsatz aller amerikanischen Haushalte, die als Kleinanleger tätig waren, von knapp fünf Prozent auf knapp 50 Prozent (Investment Company Institute and U.S. Census Bureau 2011), so dass Nadler (1999) vom „rise of worker capitalism“ sprach, also sogar nennenswerte Teile der Arbeiterschicht zu den neuen Kleinanlegern zählte.Footnote 14 Die „new economy“ sorgte auch hier durchaus für einen weiteren Sprung, war aber nicht so entscheidend wie in Deutschland. In den USA führten weder das Platzen der „new economy“-Blase noch die Ereignisse ab dem Herbst 2008 zu einem starken Rückzug der Kleinanleger aus dem Finanzmarkt.

In Deutschland ging die Zahl der Kleinanleger nach beiden Einbrüchen spürbar zurück, lag aber mit knapp neun Millionen im zweiten Halbjahr 2009 immer noch um die Hälfte über der Zahl von 1997. Der Rückgang betraf vor allem die Aktienbesitzer, deren Zahl inzwischen wieder auf dem Stand von 1994 ist. Dass unter den Kleinanlegern also mittlerweile wieder die Fondsbesitzer klar die Oberhand haben, weist auf einen deutlichen Rückzug aus aktiven Anlagestrategien hin – was wiederum ein Indiz für gestiegene Hilflosigkeit ist. Wüssten die Kleinanleger, so wie sie es kurze Zeit um die Jahrtausendwende zu wissen meinten, wie sie ihr Geld gewinnbringend oder wenigstens Verluste vermeidend anlegen könnten, überließen sie es nicht den Bankberatern und Fondsmanagern, denen sie ja gerade heute wohl kaum mehr vertrauen dürften als früher. Was die Entwicklung dieser Zahlen in beiden Ländern nicht erkennen lässt, ist die Überlagerung von zwei grundverschiedenen Beweggründen des Investierens. Zeitlich zuerst, und in Deutschland bis vor kurzem dominierend, waren diejenigen, die – salopp formuliert – etwas dazuverdienen wollten. Ihr disponibles Kapital sollte mehr Rendite abwerfen als bei traditionellen Anlagemöglichkeiten. Das war eine Situation, in der es die Kleinanleger existentiell nicht nötig hatten, auf dem Finanzmarkt erfolgreich zu sein.Footnote 15 Ganz anders stellt sich das für viele derjenigen dar, die später eingestiegen sind. In den USA waren bereits in den 1990er Jahren für „die Welle von Neuanlegern …“ ihre Renditen „… eine zunehmend unverzichtbare Quelle von Einkommen“ (Harrington 2008, S. 19). Ihre Alterssicherung hing von ihren Erfolgen als Kleinanleger ab, oft vermittelt über die Pensionsfonds großer Firmen oder Branchenpensionsfonds. Das zeigt sich mittlerweile drastisch an den aktuellen Rentensorgen in den USA: „Fast drei Viertel der Amerikaner glauben, dass die Schwankungen der Aktienmärkte es für die durchschnittlichen Amerikaner unmöglich machen, vorherzusagen, wie groß ihr finanzielles Polster bei der Pensionierung sein wird“ – so kürzlich eine Mitteilung des National Institute of Retirement Security. Der Vorstandsvorsitzende eines auf private Rentenversicherungen spezialisierten Versicherungsunternehmens stellt fest: „Investmentformen und Diversifikationsstrategien, die den Leuten helfen sollten, ihre Pensionsziele zu erreichen, haben sie nicht beschützt“. Als Folge dessen – so eine Umfrage dieses Unternehmens – „fürchten sich drei Fünftel aller Amerikaner am meisten davor, länger zu leben, als das Geld für die Rente reicht“ (FAZ, 26. Juni 2011, S. 21). Derartige Ängste erschienen eigentlich spätestens seit den 1950er Jahren in allen entwickelten Ländern des Westens gebannt.

In Deutschland begann sich nach der Jahrtausendwende ganz allmählich, den Sozialpolitikern der großen politischen Parteien sehr unangenehm, herumzusprechen, dass die von den Rentenversicherungen gezahlten Renten – entgegen den Ankündigungen der Sozialminister – nicht mehr sicher sind (Bulmahn 2003).Footnote 16 Die Einführung der sogenannten Riester-Rente war ein Signal. Eine typische Werbung einer Bank – hier: der Hohenzollerischen Landesbank – fragte im Jahr 2010 unverblümt: „Und wie groß ist Ihre Versorgungslücke? Jeder hat eine.“ Und bietet in Sachen Geldanlage an: „Lassen Sie sich jetzt beraten.“Footnote 17

Dahinter stand und steht ein massiver und anhaltender „neoliberaler“ Umbau des Wohlfahrtsstaats. Der „providential state“ (Thibaud 1985, S. 136), der einstmals unverschuldete und sogar individuell selbst verschuldete Härtefälle kompensiert hatte, ist durch den „aktivierenden“ Sozialstaat abgelöst worden. Anstelle der sorgenden Organisationsgesellschaft, verkörpert durch die Rentenversicherungsanstalt, tritt der als Kleinanleger für sich selbst sorgende Einzelne als „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2007) auf den Plan – sprich: Er betritt den Finanzmarkt. „Sozial“ heißt nun nicht mehr, dass der Staat für seine Bürger sorgt, sondern, dass Bürger nicht länger auf „Staatskosten“, also auf Kosten der sich als Steuerzahler geschröpft vorkommenden Teile der Mittel- und Oberschicht, leben (Lessenich 2008). Zwar stammen in Deutschland die Renten bekanntlich überwiegend nicht aus der Staatskasse, sondern aus Versicherungsbeiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Doch ganz abgesehen von durchaus staatlich bezahlten und damit von der staatlichen Haushaltslage abhängigen Beamtenpensionen gleicht der Staat schon seit geraumer Zeit, vom Wähler mit Sorge beobachtet, jährliche Fehlbeträge der Rentenversicherungen aus; und die demographische Entwicklung wird inzwischen im öffentlichen Bewusstsein mit einer sich dadurch verursachten immer weiter auftuenden Rentenlücke verbunden. Zugleich ist das Haushaltsdefizit des Staates nicht erst seit 2008 inzwischen in schwindelerregende Höhen gestiegen (Streeck und Mertens 2010), so dass auf den Staat als „Lückenbüßer“ immer weniger gehofft werden darf. Auch wenn teils vielleicht etwas übertriebene Ängste geschürt worden sein mögen, um private Zusatzrenten verkaufen zu können: So völlig anders, als gerade für die USA geschildert, stellt sich die Lage der deutschen zukünftigen Rentner auch nicht dar.

Das Resultat: Immer mehr Kleinanleger begeben sich auf den Finanzmarkt und werden dort „zum hilf- und wehrlosen Beratungssubjekt“ (Stäheli 2010, S. 363), wenn sie es nicht tollkühn auf sich allein gestellt versuchen. Man weiß nicht, was schlimmer enden kann.

Auf der einen Seite fühlen sich auch viele Kundenberater für Kleinanleger – selbst in den traditionell risikoaversen Sparkassen – zunehmend unter Druck, wider besseres eigenes Wissen Anlagen zu verkaufen.Footnote 18 Sie stehen bereits seit längerer Zeit sowohl unter hohem Verkaufsdruck von Seiten ihrer Arbeitgeber als auch unter dem Druck unrealistisch hoher – durch die Banken und Fondsgesellschaften geschürter – Renditeerwartungen der Kunden (Egger und Rychner 2010). Ob sich dies, wie mittlerweile beteuert wird, wieder gelegt hat, bleibt noch abzuwarten.

Auf der anderen Seite geben sich die Kleinanleger noch mehr als alle anderen Finanzmarktakteure angesichts der „Hyperkomplexität“ ihrer Entscheidungssituationen einer unkontrollierten Kontrollillusion hin, die von ein paar wenigen altbekannten psychologischen Mechanismen getragen wird (Fiske und Taylor 1991, S. 212–216; Goldberg und von Nitsch 2004, S. 140–142, 153–156). Hier ist insbesondere das „ipsative Denken“ (Frey 1988), also ein Denkmuster hervorzuheben, demzufolge die meisten Menschen glauben, dass sie selbst in allen möglichen Hinsichten – vom Autofahren bis zu Anlageentscheidungen – überdurchschnittlich gut seien und ihnen deshalb schon nichts passieren werde.

Kleinanleger werden dazu animiert, das zu werden, was sie nie werden wollten, weil es ihnen von ihrer sozialen Herkunft und Lage her habituell widerstrebt: Spekulanten im traditionellen Verständnis des Hasardeurs (Stäheli 2010), der unverantwortlich hohe Risiken auf sich nimmt und vielleicht gar noch Angehörige damit belastet. Und diese Spekulanten wider Willen können sich angesichts ihrer nicht länger als wohlfahrtsstaatlich abgesichert eingeschätzten Altersvorsorge kaum noch zum Ausstieg aus dem Finanzmarkt entscheiden, so dass die Obergrenze der zu ertragenden Hilflosigkeit nochmals angehoben wird; ihr Ausstieg erfolgt in letzter Konsequenz oftmals nur noch unfreiwillig, wenn das Anlagekapital verloren ist. Eine entsprechende Selbstruinierung herkömmlicher Spekulanten löste unter diesen Kleinanlegern, solange sie noch keine waren, klammheimliche oder offene Schadenfreude des „soliden“ Bürgers aus. Nun kann so etwas auch ihnen passieren, weil auch sie ihr Schicksal herausfordern – freilich nicht wegen des „thrills“ (ebd., S. 356), sondern eben gezwungenermaßen und zitternd.

5 Perspektiven einer Soziologie der Hilflosigkeit

Die zeitdiagnostische Soziologie hat sich immer schon mit der Kehrseite des Gestaltungsanspruchs beschäftigt, den Individuen in der modernen Entscheidungsgesellschaft hinsichtlich ihrer Lebensführung hegen – also mit Hilflosigkeitserfahrungen, wenn dieser Anspruch enttäuscht wird. Angesichts ubiquitärer Geschehnisse des Scheiterns von Gestaltungsbemühungen ist eine Soziologie der Hilflosigkeit eine notwendige Abklärung der gestaltungsoptimistischen Aufklärung. Denn gerade weil die moderne Gesellschaft in all ihren Strukturen als Menschenwerk verstanden wird, das im Sinne der Fortschrittsidee prinzipiell durch gezielte Gestaltung verbessert werden kann und sollte, sind solche Strukturen, die nicht bloß zufällig, sondern systematisch Hilflosigkeit der in ihnen agierenden Individuen erzeugen, höchst anstößig. Man fragt sich nicht nur: „Muss das sein?“, sondern man fordert: „Das darf doch nicht wahr sein!“

Der Schluss, den die Deutsche Bundesbank (2011, S. 53) aus ihrer oben zitierten Betrachtung der Hilflosigkeit der Kleinanleger zieht, zeugt allerdings von Meta-Hilflosigkeit. Nach ihrer Einschätzung „ließe ein umsichtigeres Verhalten der Marktteilnehmer … ein weniger krisenanfälliges Finanzsystem, höhere Wachstumsraten und damit einen größeren gesamtwirtschaftlichen Wohlstand erwarten“. Und so sei mehr Umsicht der Kleinanleger zu erreichen: „Individuelle Anlagefehler lassen sich jedoch durch die Aneignung von entsprechendem Finanzwissen begrenzen, da durch finanzielle Bildung Anleger in die Lage versetzt werden, Ineffizienzen zu erkennen und zu vermeiden.“ Bei der Bundesbank scheint noch nichts vom „ABS-Effekt“ bekannt zu sein: Gerade Autofahrer bzw. Anleger, die sich technisch unterstützt bzw. kundig fühlen, fordern bekanntlich ihr Glück heraus, weil sie meinen, ihnen könne nun erst recht nichts mehr passieren. Wenn schon die Börsenprofis sich durch immer weiter vorangetriebene Mathematisierung der Anlageentscheidungen – siehe etwa die berühmt-berüchtigte Black-Scholes-Formel – der „Illusion isolierbarer und berechenbarer Risiken“ (Stäheli 2010, S. 360) hingeben, dürften Kleinanleger eher noch mehr blindes „Systemvertrauen“ an den Tag legen. Soziologische Aufklärung sollte demgegenüber die Kleinanleger nicht in dem Irrglauben belassen, sie hätten eine realistische Chance, ihre Geschicke selbst zu gestalten. Wenn und solange sie auf dem Finanzmarkt Renditen erzielen, haben sie Glück – weil sie sich gerade in einer Aufschwungphase befinden oder weil sie zufällig aufs richtige Pferd gesetzt haben. Aber sobald dieses Glück sie verlässt, oder wenn es von Anfang an fehlt, manifestiert sich ihnen die eigene Hilflosigkeit in den dargestellten Erscheinungsformen.

Deutlich geworden ist, dass die Hilflosigkeit auf Finanzmärkten in wichtigen Aspekten ganz anders beschaffen ist als die soziologisch bereits eingehender analysierte Hilflosigkeit in der Organisationsgesellschaft. Weil die Ära des „Fordismus“ (Aglietta 2000) nach dem Zweiten Weltkrieg und bis Mitte der 1970er Jahre die Hochzeit der „organisierten Moderne“ darstellte, in der ein annäherndes Kräftegleichgewicht derer, die die kapitalistische Dynamik vorantrieben, und derer, die sie wohlfahrtsgesellschaftlich einhegten, gegeben war (Schimank 2011b), war zu dieser Zeit der Finanzmarkt weder ein Ort überschwänglicher Hoffnungen noch tiefer Besorgnisse und Schrecken. Man glaubte, nach der Katastrophe der Weltwirtschaftskrise nicht nur Wirtschaftskrisen generell, sondern auch speziell Finanzmarktkrisen durch keynesianische Wirtschaftspolitik in den Griff bekommen zu haben (Plumpe 2010, S. 92–101); und in der Tat blieb es, abgesehen von gelegentlichen kleineren Währungsspekulationen, gut ein Vierteljahrhundert ruhig (Kindleberger und Aliber 2005, S. 301). So trat die Hilflosigkeit in der Organisationsgesellschaft in diesem Zeitraum klar in den Vordergrund der Aufmerksamkeit der Gesellschaftsmitglieder wie auch ihrer soziologischen Beobachter. In den „postfordistischen“ Zeiten, die inzwischen schon eine ganze Weile vorherrschen und nicht zuletzt, vielleicht sogar am stärksten, durch die Liberalisierung und Globalisierung der Finanzmärkte geprägt sind (Frank 2009; Plumpe 2010, S. 101–115), ist nun die mit deren Wirken verbundene Hilflosigkeitserfahrung nicht nur wiedergekehrt, sondern hat sich sogar, entsprechend der höheren Taktfrequenz und dem größeren Ausmaß der Finanzkrisen, als unangenehmer Dauergast gesellschaftlich eingenistet, der höchstens mal kurz verschwindet – zu kurz, als dass wir nicht inzwischen ständig mit ihm rechnen. Und da wir weiterhin in der Organisationsgesellschaft leben, haben wir in beiden Arten von Hilflosigkeit nunmehr zwei solcher Dauergäste, auf die man lieber verzichtete.

Soziologisch müsste die weitere Analyse der Hilflosigkeit von Kleinanlegern auf dem Finanzmarkt zum einen die je individuellen biographischen „Prozessstrukturen“ solcher Erfahrungen, zum anderen die kollektiven Dynamiken und Effekte des handelnden Zusammenwirkens hilfloser Kleinanleger im Wechselspiel untereinander sowie mit den anderen Akteuren auf dem Finanzmarkt weiter ergründen.

Ein aussichtsreicher Zugang zur Biographieanalyse könnte Schützes (1995) Konzept der „Verlaufskurven des Erleidens“ sein. Die biographische Dimension ist dabei nicht nur für sich genommen mit Blick auf die Lebenschancen und Lebensführung des je einzelnen Individuums von Interesse. Biographische Dynamiken von Kleinanlegern sind auch wirtschaftssoziologisch und gesellschaftstheoretisch wichtig, weil sich im Zeitverlauf des Erleidens der Hilflosigkeit die Deutungsmuster und damit auch das Handlungsrepertoire der Kleinanleger wandeln und das wiederum in den gängigen Modellierungsversuchen zum handelnden Zusammenwirken auf dem Finanzmarkt entweder ganz ausgeblendet oder nur sehr simplizistisch, vor allem als Eskalation von Panik, berücksichtigt wird. Doch es gibt eben – wie etwa von Brüsemeister (1998), an Schütze anschließend, anhand der Lebenswege Ostdeutscher in den Jahren nach der Wende gezeigt – auch ein „Lernen durch Leiden“, so dass die Individuen sich allmählich Bewältigungsstrategien aneignen, die zwar nicht aus eigener Kraft völlig aus der Hilflosigkeit herausführen können, wohl aber hier und da Milderungen der Hilflosigkeit oder sogar ein erträgliches Arrangement mit akzeptierter Hilflosigkeit erreichen können.

Die soziale Dimension des handelnden Zusammenwirkens und seiner Aggregationseffekte wird auch sonst bislang meist viel zu einfach als Massen-Konstellation und entsprechendes Herdenverhalten zu fassen versucht (Devenow und Welch 1996; Windolf 2008). Worauf es für eine realistischere Analyse ankäme, wäre die Betrachtung einer Drei-Ebenen-Akteurkonstellation mit den individuellen Anlegern – darunter den Kleinanlegern – als Mikro-, den auf dem Finanzmarkt tätigen oder ihn regulierenden Organisationen als Meso- und den Nationalstaaten mit ihren Regulierungsbemühungen und Katastrophenhilfen auf der internationalen Bühne als Makro-Akteuren.Footnote 19 Zwischen dem, was die drei Arten von Akteuren auf ihrer jeweiligen Ebene tun, bestehen sowohl direkte Interaktionen – wenn etwa Banken die Kleinanleger mit immer höheren Renditeversprechen locken – als auch indirekte Wirkungsbezüge, wenn beispielsweise die massive Verschuldung der Nationalstaaten zur Rettung ihrer Banken zu einem noch stärkeren Abbau sozialstaatlicher Leistungen, etwa bei der Gestaltung der Rentenversicherung, sorgt, was die Kleinanleger als weitere Intensivierung des Drucks, auf dem Finanzmarkt erfolgreich sein zu müssen, wahrnehmen und in entsprechendes Handeln umsetzen. Solche Mehrebenen-Konstellationen handelnden Zusammenwirkens stellen generell große analytische Herausforderungen dar, denen die Sozialwissenschaften noch lange nicht gewachsen sind, die aber, wenn man gesellschaftliche Gestaltungsambitionen nicht gänzlich aufgeben will, dringend angegangen werden müssen (Mayntz 2002).