„Not kennt kein Gebot“. Das alte Sprichwort enthält im Kern schon die Lehre vom Ausnahmezustand, die nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 Urständ feiert. Der internationale Terrorismus setzt die Welt in Angst und Schrecken; der Westen hat nach den Anschlägen Sicherheit und Sicherheitspolitik zur obersten Priorität erhoben. Westliche Staaten wähnen sich im „Fadenkreuz des Terrorismus“ (Schäuble) und angesichts der Bedrohung meinen manche, es dürfe bei der Bekämpfung dieser Gefahr keine Tabus und Denkverbote geben. Wenn die Selbsterhaltung bedroht ist, sei es für den Staat notwendig und legitim, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu behaupten. „Not kennt kein Gebot“ und keine Tabus, auch die Wahrung der Menschenwürde gilt nicht mehr als unantastbar. Internierung, nicht der geregelte Strafvollzug sei die einzig angemessene Form, feindliche Kämpfer und „Gefährder“ in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, meinen beispielsweise die Befürworter eines Feindstrafrechts wie der Strafrechtler Günther Jakobs und der Staatsrechtler Otto Depenheuer. Für Depenheuer gibt es gar eine „moralische Verpflichtung, das ‚Undenkbare zu denken‘ und das Notwendige mit Deutlichkeit zu sagen“ (Depenheuer 2008, S. 9). Die Not verlange den mutigen Tabubruch, schließlich befinde sich die Welt seit dem 11. September 2001 in einem „weltweiten Bürgerkrieg“ (Depenheuer 2008, S. 11). Das Völkerrecht müsse an die neue, durch asymmetrische Konflikte hervorgerufene Bedrohungslage angepasst werden. Für Depenheuer liegt „die wahre Bedrohung durch den modernen Terrorismus“ in der „Infragestellung souveräner Selbstbestimmung des Volkes.“ „[D]er Terror [ist] die totale Infragestellung der eigenen politischen Existenzform, der Terrorist daher staatstheoretisch Feind: die terroristische Bedrohung bildet den Ernstfall“ (Depenheuer 2008, S. 48). Danach wäre das Feindstrafrecht die logische Konsequenz des Demokratieprinzips.

Im Krieg gegen den internationalen Terrorismus muss das Recht, folgt man den Befürwortern des Ausnahmerechts, notfalls auch außer Kraft gesetzt bzw. auf seinen vermeintlichen Kern, die Selbsterhaltung, zurückgeführt werden. Denn: Not kenne nur das Gebot dieser Notwendigkeit. Gehe es um das nackte Überleben, dann müsse das positive Recht dem natürlichen Recht der Selbstbehauptung weichen.

Erfordern außergewöhnliche Ereignisse außergewöhnliche Maßnahmen? Sind Ausnahmetaten mit dem herkömmlichen, regelhaften Recht wirklich nicht zu fassen? Bereits Carl Schmitt betont in seiner Politischen Theologie, dass das Recht auf Ordnung und Normalität angewiesen sei. Es könne seine Kraft nur auf den Normalfall anwenden: „Die Norm braucht ein homogenes Medium. […] Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre“ (Schmitt 1993, S. 19). Und Depenheuer paraphrasiert: „Normalität ist die Bedingung jeder Rechtsgeltung; die Ausnahme als – partielle – Durchbrechung der Normalität entzieht der Rechtsgeltung ihre ‚normale‘ Grundlage“ (Depenheuer 2008, S. 9).

Der Ausnahmefall ist für Schmitt nicht das Chaos und nicht der Hobbessche Naturzustand, denn im Ausnahmezustand gibt es Autorität und Souveränität, kurz, es gibt noch den Staat: „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt. […] [I]m Ausnahmefall [wird] die Norm vernichtet. […] Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm.“ (Schmitt 1993, S. 18 f.) Die souveräne Entscheidung vernichtet die Norm: Das ist offen und entlarvend, denn einerseits soll der Ausnahmezustand das Recht nur außer Kraft setzen, zeitlich befristet suspendieren und gerade durch die Suspendierung bewahren. In Wirklichkeit wird aber im Ausnahmezustand die Autorität der Norm vernichtet und zerstört, so dass sie nicht wieder eingesetzt werden kann (vgl. Frankenberg 2010, S. 148).

Nicht nur in den USA,Footnote 1 sondern auch in den bundesdeutschen Debatten und Reaktionen auf die terroristischen Anschläge von New York, Madrid und London haben Auffassungen über den Staat, das Politische und die Sicherheit an Boden gewonnen. In der deutschen StaatsrechtstheorieFootnote 2 schließt dies an eine bestimmte Tradition an, die davon ausgeht, dass Staat und Recht nicht identisch seien. Der Wille des Souveräns gilt ihr als Quelle des Rechts und geht als solcher immer schon dem Recht voraus, d. h. er ist verfassungsrechtlich nicht eingebunden.

Eine Verfassung beruht nicht auf einer Norm, deren Richtigkeit der Grund ihrer Geltung wäre. Sie beruht auf einer, aus politischem Sein hervorgegangenen politischen Entscheidung über die Art und Form des eigenen Seins. Das Wort ‚Wille‘ bezeichnet – im Gegensatz zu jeder Abhängigkeit von einer normativen oder abstrakten Richtigkeit – das wesentlich Existentielle dieses Geltungsgrundes (Schmitt 1989, S. 76).

Bereits in dieser Bestimmung macht sich der Vorrang der Politik vor dem Recht bemerkbar. Der Wille als existenzielle Seinsbestimmung des Volkes kann deshalb nicht durch das Recht gebunden werden, weil er ihm immer schon voraus geht. Aber nicht nur die zeitliche Logik, sondern auch das Wesen der Macht konterkariert die Idee der rechtlichen Bindung des politischen Willens. Denn die Macht, Gesetze zu erlassen, beinhaltet die Macht, Gesetze wieder aufzuheben. Souveränität bedeutet dann die durch Macht erlangte Freiheit, „[sich] nach Gutdünken […] von der Unterwerfung durch Aufhebung ihm unangenehmer Gesetze und durch Erlaß neuer befreien“ zu können (Hobbes 1651, S. 204). Ebenso verhält es sich im Falle der Verpflichtung. Versprechen, die man sich selbst gibt, haben keine verpflichtende Wirkung. Der freiheitsliebende Rousseau stimmt in diesem Punkt eigentümlich mit Hobbes überein. Beide hielten die Idee der Selbstbindung des souveränen Willens durch Verfassung für widersinnig und töricht (vgl. Hobbes 1651, S. 204; Rousseau 1762, S. 76).

Diese Dualität von Staat und Recht begründet die Unterscheidung von Norm- und Maßnahmenstaat. Wenn Schmitt in der Sprache der Lebensphilosophie schreibt, dass „in der Ausnahme […] die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik [durchbricht]“ (Schmitt 1993, S. 21), offenbart sich der Naturalismus als Fundament des Ausnahmedenkens, der das Leben mit Kampf und existentieller Vernichtung identifiziert. Für die alten und neuen Denker der Ausnahme sind die Begriffe Feind und Opfer folgerichtig „Grundkategorien des Politischen“ (Depenheuer 2007).

In dieser naturalistischen Prämisse stimmen Terrorismus und Ausnahmedenken überein. Durch sie bedrohen beide den demokratischen Rechtsstaat. Die immense Gefahr, die von beiden ausgeht, besteht in der Zerstörung des öffentlichen Raums, beide sind in ihrer Dynamik – und darin weisen sie totalitäre Züge auf – grenzenlos. Das wird von Depenheuer auch gar nicht geleugnet: „Dem ‚Recht der Ausnahme‘ ist eine normative Entgrenzung eigentümlich: wer die Ausnahme definiert, entzieht sich – ganz oder teilweise – den Bindungen des Rechts“ (Depenheuer 2008, S. 41). Das Ausnahmedenken beruft sich also auf das Recht der Natur. Mit einer Formulierung Hannah Arendts könnte man sagen, dass die Ausnahme ein „unnatürliche[s] Anwachsen des Natürlichen“ (Arendt 1987, S. 48) bedingt.

Ich möchte im Folgenden die These vertreten, dass der „Krieg gegen den Terror“ mit den Mitteln des souveränen Ausnahmerechts nicht gewonnen werden kann. Die Strategie der „souveränen Selbstbehauptung“ zerstört vielmehr die rechtsstaatliche Demokratie, wenn sie sich immer stärker den terroristischen Herausforderern anpasst. Eine solche Politik der Selbsterhaltung bedroht das Recht und die Freiheit, die nur dort existieren können, wo das Prinzip der Begrenzung anerkannt wird. Deshalb kann und darf der Kern des Rechts nicht das naturalistisch begründete Recht des Staates auf Leben sein.

1 Vorrang der Selbsterhaltung des Staates oder der Verfassung

Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung bildet das Fundament des Staates bereits bei seiner Entstehung im 17. Jahrhundert.Footnote 3 Der Staat legitimiert seine Macht und Gewalt mit dem Versprechen des Schutzes. Dabei bezieht sich das Versprechen sicherlich vorrangig auf die Sicherheit der Bürger. Aber Bedingung der Möglichkeit dieser Sicherheit ist der Bestand des Staates, des großen MenschenFootnote 4 und „sterblichen Gottes“ (Hobbes), so dass man wohl zu Recht von der Selbsterhaltung des Staates als oberstes und wichtigstes Ziel sprechen kann. Das vorpositive Verteidigungsrecht des Staates wird besonders vehement in einer Linie der deutschen Staatsrechtstheorie vertreten, die Hauke Brunkhorst treffend als „Staatswillenspositivismus“ (Brunkhorst 2003) bezeichnet hat. Diese Theorie beruht auf der Prämisse, dass der Staat in Analogie zum Individuum ein vorpositives Recht auf Selbsterhaltung hat. Dieses Recht wird zum Kern seiner Souveränität, die ihm nicht genommen werden kann, ohne seine Staatlichkeit zu zerstören. Das Recht auf Selbsterhaltung kann verfassungsmäßig nicht eingebunden werden. Es kann lediglich das Verfahren in der Verfassung festgelegt werden, das bestimmt, wer im Ausnahmezustand das Recht zur Entscheidung besitzt. Die Entscheidung über den Ausnahmezustand, die die Verfassung aussetzt, ist für Schmitt bekanntlich die reinste Erscheinung der Souveränität. Souveränität meint in diesem Zusammenhang soviel wie eine Politik der ungebundenen Hände: Damit der Souverän das Recht und die Bürger schützen kann, darf das Recht seine Hände nicht binden. Er muss sie in der Not frei und uneingeschränkt bewegen können, um seine ganze Kraft gegen den Feind aufbieten zu können. Die Vertreter einer solchen Auffassung betrachten die Gewalt des Staates analog zum Notwehr- und Nothilferecht des Individuums. Diese Analogie illustriert das Argument und soll die Plausibilität des Ausnahmedenkens stützen. Die Metapher hat freilich ihre Grenzen: Ist es plausibel anzunehmen, dass ein Staat ebenso sterblich sei wie ein Individuum?

Der anthropomorphisierte Staat sollte, wie jede freie Person selbständig über seine inneren Angelegenheiten befinden […] Der Punkt ist, dass dieser Staat […] als ‚Besitzer‘ der Rechtsordnung sich jederzeit, wenn es Not tut, von seinem Besitz auch wieder trennen und auf seine überpositiv legitimierte Herrschaftsmacht zurückziehen oder, wie Forsthoff es noch zu Beginn der 70-er Jahre formulierte, das Recht wie einen Mantel abstreifen kann. Hinter dem Recht steht der Staat […]. (Brunkhorst 2003, S. 365 f.)

2 Sicherheit versus Freiheit – Ist die Sicherheit ein „nicht-explizites“ Grundrecht?

Eine zweite Prämisse des Denkens der Ausnahme besteht im Vorrang der Sicherheit vor der Freiheit. Sicherheit ist die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und als solche ein Grundrecht, das die Freiheit in einer gewissen Weise beschränkt. Aus dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung leiten die Vertreter dieser Staatsauffassung den vorrangigen Schutz staatlicher Ordnung ab und sie legitimieren die staatliche Ordnung mit dem Sicherheitsbedürfnis der Bürger. Sicherheit ist damit eine notwendige Bedingung der Freiheit. Josef Isensee behauptete bereits 1983, dass die Sicherheit als ein Grundrecht zu gelten habe, das zwar im Grundgesetz nicht explizit genannt, aber implizit enthalten sei. „Die Ausübung der Grundrechte steht unter Vorbehalt der Friedlichkeit. Dieser ist so selbstverständlich geworden, daß er keiner ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verankerung bedarf“ (Isensee 1983, S. 18). Mit dieser Sichtweise sind weitreichende Folgen verbunden. Neben dem diffusen Sicherheitsbegriff und der fehlenden Einklagbarkeit von Sicherheitsgarantien, ist es vor allem die Änderung der Bezugsgröße des Rechts, die grundlegende Probleme aufwirft. Nicht mehr das Individuum ist Träger subjektiver Rechte, die es wahrnehmen kann. Da öffentliche Sicherheit auf einen gesellschaftlichen Zustand bezogen ist, ist das Grundrecht auf Sicherheit nicht als individuelles Recht, sondern als öffentliches Gut zu betrachten. Sicherheit als Grundrecht unterminiert den Sinn der bürgerlichen Grundrechte als Abwehrrechte des Individuums gegen die Eingriffe des Staates. Günter Frankenberg weist auf den dynamischen und ausgreifenden Charakter dieses vermeintlichen Grundrechts hin. Das Bedürfnis nach Sicherheit kenne wie alle Bedürfnisse kaum eine Grenze der Befriedigung. Anders als die Freiheit, die ihre Grenze an der Freiheit des Gegenübers findet, sei Sicherheit intern eher maßlos (vgl. Frankenberg 2006, S. 59).

Ein Grundrecht auf Sicherheit führte also quasi zur Selbstapotheose des Staates. All sein Tun wäre a priori eine Beförderung des Grundrechts auf Sicherheit. Wenn der Sicherheit ein Grundrechtsstatus zuerkannt wird, dann stellt die als Grundrecht geschützte Freiheit jedoch in letzter Konsequenz eine zu bekämpfende Bedrohung dar. Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit würde immens verschärft, wenn Sicherheit in den Rang eines verfassungsmäßigen Grundrechts erhoben würde. Isensee löst den Konflikt, den er mit der Erfindung des Grundrechts auf Sicherheit gestiftet hat, zugunsten der Sicherheit auf. Sicherheit gebühre insofern ein Vorrang, weil die anderen Grundrechte nur genossen werden könnten, wenn die Sicherheit gewährleistet sei. „Die grundrechtliche Freiheit wird entwertet, wenn sie nicht ein Fundament in der Sicherheit findet“ (Isensee 1983, S. 19). Die Rangfolge ist klar: „Ohne Sicherheit keine Staatlichkeit und ohne Staatlichkeit keine freiheitlich-demokratische Rechtsstaatlichkeit“ (Depenheuer 2008, S. 7). Sicherheit avanciert zur transzendentalen Bedingung und als solche wird sie kritikresistent. Im Gestus des unbeirrbaren Realismus, der sich stark genug fühlt, die Gefahr ohne Scheuklappen wahrzunehmen und ihr entgegenzutreten, wird jeder, der Zweifel an der Diagnose anmeldet und weiterhin an den Prinzipien des Rechtsstaats festhalten möchte, als Träumer, Spinner oder gar Autist abqualifiziert. So liest man bei Jakobs im Stil abgeklärter, sachlicher Wissenschaftlichkeit:

Bei diesem Unternehmen treibt mich kein rechtspolitischer Furor – ich halte hier keinen rechtspolitischen, sondern einen analytisch orientierten rechtsphilosophischen und strafrechtswissenschaftlichen Vortrag über die Bedingungen von Rechtlichkeit. Meine Bemerkungen sind, wie ich wiederhole, deskriptiv gemeint, nicht präskriptiv. Es wäre mir nicht einmal unlieb, wenn sich die häßliche Gestalt des Feindstrafrechts auflösen ließe; zu einer bedingungslosen Auflösung sehe ich freilich nicht die geringste Chance, und deshalb versuche ich, zur Kenntnis zu nehmen und zu bringen, was der Fall ist, und sei es auch häßlich. Ich werde zu zeigen versuchen, daß der Körper des Kaisers, also des Staates, an manchen Stellen nicht mit ordentlicher rechtsstaatlicher Kleidung bedeckt, sondern nackt ist, mehr noch, daß er unter den gegenwärtigen Bedingungen nackt sein muß, wenn er nicht insgesamt wegen rechtstaatlicher Überhitzung Schaden nehmen soll. Der Standardeinwand gegen diesen Versuch, die Aufklärung fortzuführen, lautet, die Rede von der Nacktheit, also vom Feindstrafrecht sei obszön, ins politische gewendet: faschistisch. Aber es kommt allein darauf an, ob die Rede ihren Gegenstand trifft. Ich wage einen Versuch. (Jakobs 2006, S. 290)

Weniger abgeklärt bescheinigt Depenheuer dem Bundesverfassungsgericht aufgrund des Urteils zum Luftsicherheitsgesetz einen Verfassungsautismus, „der es ermöglicht, sich den Blick auf die unschönen und unangenehmen Seiten des Lebens ebenso zu ersparen wie sich den Herausforderungen staatlicher Selbstbehauptung zu entziehen“ (Depenheuer 2008, S. 28) Diese Haltung sei eine mit Zynismus vollzogene Flucht aus der Verantwortung, die Terroristen geradezu einlade, „ihre Terrortaten künftig in Deutschland mittels unschuldiger Geiseln zu planen und umzusetzen“ (Depenheuer 2008, S. 25 f.). Das Bundesverfassungsgericht werde durch seine Weigerung, das Grundgesetz pragmatisch den neuen Bedrohungslagen anzupassen und die absolute Hürde des Art. 1 GG zu relativieren, zu einem unverantwortlichen Sicherheitsrisiko. Das Urteil habe die Asymmetrie des Krieges weiter verschärft, wo es doch darum gegangen wäre, die Symmetrie durch die Angleichung an den Feind herzustellen. Will der Staat sich im Krieg gegen den Terror behaupten, muss er Depenheuer zufolge Waffengleichheit erlangen. Er muss sich der gleichen Mittel bedienen dürfen wie sein Gegner. Das Bundesverfassungsgericht hingegen habe vor der Gefahr kapituliert: „Der ‚Staat der Menschenwürde‘ gibt sich auf in der Konfrontation mit seiner gewaltsamen Negation – und das noch im Namen der Menschenwürde“ (Depenheuer 2008, S. 26). Demgegenüber ist der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer der Ansicht, dass sich in den letzten Jahrzehnten das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit bereits klar zugunsten der Sicherheit verschoben habe. „Die Politik der inneren Sicherheit konnte fast alles machen, was sie wollte: Es ist ihr viel Recht gegeben worden“ (Schäuble und Hassemer 2009).

Der Hinweis auf die Not dient der Legitimierung der Ausnahmeregelungen, dabei ist es unerheblich, ob die Bedrohung real oder bloß fiktiv ist. Denn wer würde schon bestreiten wollen, dass es morgen prinzipiell zu einem Anschlag kommen könnte. Die Wahrscheinlichkeit ist kaum zu berechnen. Hassemer verweist zu Recht auf folgendes Problem:

Sicherheitsbedürfnisse sind strukturell unstillbar. Es ist gegen das Argument „Morgen kann vielleicht etwas passieren“ kein Kraut gewachsen. Aber es muss ein Kraut dagegen gewachsen sein, wir können uns nicht immer weiter treiben lassen durch ein mögliches Bedrohungsszenario […]. (Schäuble und Hassemer 2009)

Sicherheit besitzt wie die Bedrohung keinen objektiven Maßstab. Sie sind keine Tatbestände, sondern eher Gefühls- und Bedürfnislagen, die eine hohe subjektive Varianzbreite besitzen und äußerst empfänglich sind für Manipulationen und Suggestionen. Die fortwährende warnende Beschwörung einer möglichen Katastrophe, die Spekulation über Bedrohungsszenarien und das damit einhergehende Anheizen von Angst haben für die exekutive Handlungslogik durchaus ihren Sinn. Dies erklärt beispielsweise die parteiübergreifenden gemeinsamen Anschauungen von Amtsträgern, die mit Fragen der inneren und äußeren Sicherheit befasst sind, wie beispielsweise Innenminister.

Politische Amtsträger in exekutiver Funktion müssen den ihre Reputation als kompetente Amtsinhaber und damit ihre Wiederwahl gefährdenden Vorwurf fürchten, sie nähmen von außen oder innen auf die Gesellschaft zukommende Bedrohungen nicht angemessen wahr oder seien ihnen nicht gewachsen. Um sich gegen Kritik an ihrer Amtsführung zu wappnen, stellen sie sich weniger auf die Normallage der Legalität als vielmehr auf außergewöhnliche Gefahrenlagen ein. Eine Art Amtserhaltungs- und Legitimationsreflex lässt sie Ausnahmesituationen beschwören, wenn sie angesichts vermeintlich oder tatsächlich neuartiger Bedrohungen Sondervollmachten reklamieren, mit denen außerordentliche Gegenmaßnahmen ergriffen werden sollen. Ihre déformation professionelle beschert den Amtsträgern, soweit es ihnen gelingt, Befürchtungen in politische Programmatik und Gesetze zu übersetzen, stets beachtliche Kompetenzgewinne, denen entsprechende Freiheitsverluste auf Seiten der Bürger korrespondieren. (Frankenberg 2010, S. 128 f.)

Die Politik der Angst dient der Machterhaltung und -erweiterung der Exekutive. Diese muss sich bei aller Katastrophenfixierung als handlungsmächtig und souverän inszenieren, um die vorhandenen Schutzbedürfnisse der Bürger zu befriedigen. Dies kann sie nur, wenn sie sich einer drohenden Gefahr gegenüber als „stark“ ausweisen kann. Das Ausnahmedenken wird durch die Dialektik von apokalyptischer Angst und Allmacht angetrieben. Die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand soll die Angst bannen, in dem sie die Kontingenz abschafft. Gleichzeitig bedarf die Souveränität der „apokalyptischen Weltangst“ (Frankenberg 2010, S. 134), um sich zu beweisen und zu legitimieren. Ohne Apokalypse keine Souveränität. Das erklärt das beliebte Denken in Worst-Case-Szenarien. Die Souveränität muss die Apokalypse beschwören und den Ausnahmezustand zur Regel machen, um sich als souverän, als entscheidungs- und handlungsfähig zu erweisen.

3 Wird der Ausnahmezustand zur Regel?

Relevant ist einzig und allein die souveräne Entscheidung, wie Carl Schmitt betont. In ihr „sucht er nach einem festen, beruhigenden Halt, um die Zerstückelung des sterblichen Gottes durch Pluralismus und Verhältniswahl aufzuheben“ (Frankenberg 2010, S. 141). Der Souverän ist die letzte Instanz, die mit Berufung auf den Ausnahmezustand die Verfassung suspendieren kann. Der klassische Anwendungsfall dieser Entscheidung ist in der Bundesrepublik die Feststellung des Verteidigungsfalles nach Art. 115a GG. Depenheuer zufolge geht das Grundgesetz hier von dem Angriff einer feindlichen Armee aus.Footnote 5 Diese Konstruktion sei antiquiert und der neuen Bedrohungslage unangemessen. Erstens sei ein terroristischer Angriff nicht mehr nur ausschließlich von außen zu erwarten und zweitens ziele er nicht unmittelbar auf das Territorium und hege auch keine Besatzungsabsichten. Terroristische Angriffe seien keine Frontalangriffe, sondern brächen eher unerwartet und scheinbar aus dem Nichts herein. Gegen solche Bedrohungen helfe die eine große Entscheidung nicht.

Die Entscheidung über den Ausnahmezustand fällt nicht mehr generell, sondern im Einzelfall. Die exekutiven Staatsorgane [Herv. J. F.] entscheiden im jeweiligen terroristischen Gefahrenfall nach Gefahrenabwehrkriterien über die Art der Bedrohung und die Form der Gefahrenabwehr: Störung in der Normallage oder Angriff auf die Normallage (Depenheuer 2008, S. 53 f.)

Mit dieser unscheinbar und unschuldig daherkommenden Einsicht wechselt das Entscheidungsrecht von der legislativen Gewalt zur Exekutive. Nicht mehr der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats, wie es Art. 115a GG bestimmt, sondern eine unbestimmte Anzahl von ausführenden Organen besitzt nun das Entscheidungsrecht, und zwar ohne nähere Verfahrensvorgaben. In einer Fußnote erläutert Depenheuer kurz: „Die Kriterien der Entscheidungsfindung und -kontrolle bedürfen in diesem Rahmen keiner näheren Darlegungen, hat doch das allgemeine Polizeirecht mit den Rechtsfiguren der Anscheins- und PutativgefahrFootnote 6 handlungsleitende Kriterien entwickelt.“ (Depenheuer 2008, S. 114 Anm. 65) Die zynischen Implikationen werden hörbar, wenn man sich die konkrete Bedeutung des Hinweises vergegenwärtigt. Die handlungsleitenden Kriterien des allgemeinen Polizeirechts, die auf die menschliche Möglichkeit des Irrtums Bezug nehmen, haben ihren Sinn, wenn sie auf normgeleitetem Handeln in einem rechtlichen Rahmen beruhen, in dem die Würde des irrtümlich Beschuldigten anerkannt wurde. Werden aber Handlungen von Exekutivorganen auf bloßem Verdacht und unter Missachtung rechtsstaatlicher Normen oder gar unter Missachtung der Menschenwürde vollzogen, dann scheinen diese institutionellen Entschädigungsverfahren keinen annähernden Ausgleich des Schadens zu ermöglichen. Depenheuer erkennt zwar mit diesem Hinweis die grundlegende Möglichkeit des Irrtums in der Gefahrenprognose an, aber er fragt sich nicht, ob und wie man einen zu Unrecht gefolterten Menschen angemessen entschädigen kann. Das ist für ihn ein hinzunehmender Kollateralschaden, den man mit einer Entschuldigung und einer finanziellen Zuwendung angemessen aus der Welt schaffen kann. Hawel betont zu Recht, dass sich mit dieser Verschiebung der Entscheidungskompetenz eine stille Revolution der staatlichen Herrschaftsordnung vollzieht:

„Damit erhielte nach Depenheuer die Polizei entscheidende Exekutivbefugnisse, könnte selbstständig Grundrechte außer Kraft setzen, verhaften und internieren […]“ (Hawel 2009, S. 67). Da die Möglichkeit der Bedrohung sich prinzipiell nicht ausschließen lässt, müsste man mit Giorgio Agamben im Anschluss an Walter Benjamin (vgl. Agamben 2004) davon ausgehen, dass der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist, zu einer ganz normalen Regierungs- bzw. Polizeipraxis: „Normalität und Bedrohung verschmelzen“ (Depenheuer 2008, S. 51). Der Anfangsverdacht, der in einem Rechtsstaat polizeiliche Ermittlungen anstößt, ist mit einer hohen Begründungspflicht versehen und steht generell unter Richtervorbehalt und -kontrolle. Das durch weiterreichende Kompetenzerweiterung etablierte „hyperpräventive[.] Sonderpolizeirecht“ jedoch ermächtigt Frankenberg zufolge die Polizei, „nach ihren Erfahrungen, Lagebildern und Annahmen zu handeln […] (Frankenberg 2005, S. 377–379).

Sie kann „mithin ihre Wissensbasis ungestört von gesetzlichen Kriterien selbst produzieren und ihre Maßnahmen selbst legitimieren. […] An die Stelle verhältnismäßig strikter Rechtsbindung tritt damit am Ende das Vertrauen in die Lauterkeit der behördlichen Motive und in die empirische Solidität der behördlichen Erfahrung.“ (Frankenberg 2005 ebd.)Footnote 7

Frankenberg verweist damit auf die aktuelle Transformation des Rechtsstaats hin zu einem Präventionsstaat (vgl. Huster und Rudolph 2008). Mit diesem Übergang tritt erneut das alte Souveränitätsdenken hervor und verbindet sich mit den Vorstellungen der Gouvernementalität, wie die amerikanische Philosophin Judith Butler gezeigt hat (vgl. Butler 2005, S. 113 ff.), die nachdrücklich den „war on terror“ der Bush-Administration als eine Synthese aus Gouvernementalität und einer wiederbelebten Souveränität kritisiert hat, in der das Recht instrumentalisiert wird. PräventionFootnote 8 bestimmt die vorrangige Handlungslogik in der Risikogesellschaft. Der Präventionsstaat, der seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch Entwicklungen im Umwelt- und Technikbereich entstanden ist, sieht seine Aufgabe in der vorsorgenden Verhinderung von Katastrophen, die in den riskanten Großtechnologien enthalten sind. Diese riskanten Bereiche erzeugen eine erhöhtes Gefühl der Unsicherheit und Gefährdung über alle Grenzen hinweg, und steigern das Bedürfnis nach Sicherheit. „Die neue terroristische Bedrohung verstärkt diesen Trend, weil sie eine Struktur besitzt, die eher an technische Großrisiken als an bekannte Formen der Kriminalität erinnert“ (Huster und Rudolph 2008, S. 14). Im Präventionsstaat ist das Vorsorgeprinzip der Risikogesellschaft in den Bereich der inneren Sicherheit übertragen worden, mit der Folge, dass der Kern rechtstaatlicher Prinzipien immer stärker relativiert wird. „Dieser Grundzug, kombiniert mit den technischen Möglichkeiten der digitalen Revolution, die dem Staat neue Überwachungsmethoden anbietet, führt zu einer weiteren, tiefer liegenden Problematik. Nicht nur die Struktur der neuen terroristischen Bedrohungen unterläuft die herkömmlichen rechtsstaatlichen Sicherungen, sondern auch die technologische Struktur möglicher staatlicher Abwehrmaßnahmen“ (Huster und Rudolph 2008, S. 16). Und ganz im Sinne Agambens fügen Huster und Rudolph hinzu: „Die Versuchung besteht dann darin, dass der Ausnahmezustand als Normalfall betrachtet und das Recht an seine Erfordernisse ausgerichtet wird“ (Huster und Rudolph 2008, S. 12; vgl. Denninger 2008).

Der Vorschlag des ehemaligen Bundesinnenministers Schäuble, die im Grundgesetz festgeschriebene Trennung von Polizei und Militär, innerer und äußerer Sicherheit aufzuheben, Polizei, Militär und Geheimdienste besser untereinander zu vernetzen und sie der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen, machen die Bestrebungen der Exekutive deutlich, sich unter Berufung auf die Terrorgefahr immer größere Handlungsspielräume zu schaffen, in denen sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit unkontrolliert schalten und walten kann. Schäuble war in seiner Funktion als Innenminister der Auffassung, dass „[p]arlamentarische Transparenz […] manchmal der falsche Weg [ist].“ (Süddeutsche Zeitung v. 30.05.2008). Da der Terrorismus im Verborgenen gedeihe und agiere, müsse der Staat ebenfalls im Verborgenen walten dürfen. Weiterhin bekannte Schäuble, dass er „zunehmende Schwierigkeiten [damit] habe […], dass ein Terrorist den gleichen Schutz des Grundgesetzes genießen solle wie jeder Bürger.“ (Süddeutsche Zeitung v. 30.05.2008) Mit diesem Bekenntnis knüpfte er an die Grundprämisse der Unterscheidung von Bürger- und Feindstrafrecht an.

4 Die prekäre Erfindung der Differenz von Bürger- und Feindstrafrecht

Jakobs und Depenheuer sind der Ansicht, dass es nicht angemessen sei, wenn die Taten von Terroristen unter den strafrechtlichen Begriff des Verbrechens subsumiert werden. So wie sich Norm und Ausnahme unterscheiden, so unterschieden sich auch Verbrecher und Feind. Das Verbrechen im Sinne des Strafrechts bezeichne ein Vergehen innerhalb einer Rechtsordnung. Derjenige, der ein Verbrechen begangen hat, stehe immer noch innerhalb der Rechtsordnung. Der Verbrecher werde als vernünftige Person anerkannt und zur Rechenschaft gezogen. Sein Bürgerstatus werde von der Tat und der auf sie folgenden Strafe nur für eine bestimmte Zeit eingeschränkt, nicht generell aberkannt (vgl. § 45 StGB). Der Verbrecher sei im Sinne des Strafrechts kein Feind, „den es zu vernichten gilt“, sondern, so Jakobs, „ein Bürger, eine Person, die durch ihr Verhalten die Normgeltung ramponiert hat und deshalb zwangsweise, aber als Bürger […] herangezogen wird, um den Normgeltungsschaden wieder auszugleichen“ (Jakobs 2004, S. 91). Insofern werde dem Verbrecher weiterhin ein gewisses Maß an Rechten zugebilligt. Im Unterschied hierzu falle der Terrorist aufgrund seiner fundamentalen Opposition aus jeglicher rechtlichen Ordnung heraus. Ihm komme nichts Personhaftes zu, an das man mit der Strafe appellieren könne und wodurch sich die Möglichkeit der Resozialisierung ergebe. Einen Terroristen könne man nicht in den bürgerlichen Zustand zwingen und deshalb könne man ihm den Schutz, als Rechtsperson anerkannt zu werden, nicht gewähren. Der Terrorist ist nichts als ein „gefährliches Individuum“, wie Jakobs betont, das „die Legitimität der Rechtsordnung prinzipiell leugnet und deshalb darauf aus ist, diese Ordnung zu zerstören.“ (Jakobs 2004, S. 92) Einem solchen Individuum, das dem wilden Tier John Lockes gleicht, schulde der Staat keine rechtliche Bindung und Verpflichtung. Jakobs fragt ganz im Sinne des vormaligen Innenministers Schäuble:

[…] ob nicht durch die strikte Fixierung allein auf die Kategorie des Verbrechens dem Staat eine Bindung auferlegt wird – eben die Notwendigkeit, den Täter als Person zu respektieren – die gegenüber einem Terroristen, der die Erwartung generell personalen Verhaltens gerade nicht rechtfertigt, schlechthin unangemessen ist. [W]er dem Bürgerstrafrecht seine rechtsstaatlichen Eigenschaften – Bändigung der Affekte; Reaktion nur auf externalisierte Taten, nicht auf bloße Vorbereitungen; Achtung der Personalität des Verbrechers im Strafverfahren u. a. m. –, […] nicht nehmen will, sollte das, was man gegen Terroristen tun muß, wenn man nicht untergehen will, anders nennen, eben Feindstrafrecht, gebändigten Krieg. (Jakobs 2004, S. 92)

Ein rechtstaatliches Verfahren sei im Falle des Terroristen völlig unangemessen und lebensgefährlich.

Die Einführung des Feindstrafrechts zerstört notwendig mit der Idee der Gleichheit vor dem Gesetz den Grundgehalt des Rechtsstaats. Sie negiert nicht nur den universalen menschenrechtlichen Anspruch eines jeden, als Rechtssubjekt anerkannt zu werden, sondern sie zerstört durch den Ausschluss des „Feindes“ aus der Menschheit den Anspruch auf menschenwürdige Behandlung. Dem Feind wird die menschliche Fähigkeit der Einstellungsänderung und der Lernfähigkeit kategorisch abgesprochen, so dass man ihn in den Augen der Feindstrafrechtler nur wegschließen kann, auch ohne ordentliches Verfahren.Footnote 9 Sie müssen „kaltgestellt werden“, weil sie „nicht die kognitive Mindestgarantie bieten, die nötig ist, um sie praktisch aktuell als Person behandeln zu können“ (Jakobs zit. in Frankenberg 2010, S. 159). Im Kampf gegen den Feind dürfe beispielsweise die Unschuldsvermutung nicht gelten, und schon der geringste Verdacht muss zu entschlossenem Eingreifen führen. Dies schließt durchaus die Folter ein. Wenn der Staat das gefährliche Individuum gefangen nimmt, muss er vor allem daran interessiert sein, möglichst viele Informationen über dessen Umfeld zu erlangen. Da der Staat keine rechtliche Bindung und Verpflichtung gegenüber dem Feind hat, steht es auch in seinem Ermessen, den Feind zum Zweck der Informationsgewinnung zu foltern. Im Feindstrafrecht steht der § 136a der Strafprozessordnung (StPO) in Frage. Selbst wenn Jakobs das Wort Folter nicht in den Mund nimmt, spricht er diese Konsequenz in einem Interview klar aus:

Praktisch wird das dazu führen, dass Terroristen, die als solche überführt sind, auch jenseits der durch § 136a StPO gezogenen Grenzen zur Offenbarung weiterer Gefahren gezwungen werden. Sie müssen gezwungen werden, weil der Staat wegen seiner Schutzpflicht auf kein Mittel verzichten darf. (Jakobs zit. in Meier 2006, S. 18).

Heutzutage spricht man in diesem Zusammenhang euphemistisch von „Rettungsfolter“. Im Feindstrafrecht wird die Gesinnung zu einem strafbaren Tatbestand. In Anlehnung an Hobbes kann man sagen, dass das Feindstrafrecht sich nicht nur auf die Confessio, auf das äußere Verhalten der Menschen bezieht, sondern auch und vor allem die Fides, die inneren Einstellungen und Überzeugungen, der Observation unterzieht. Um die Gesinnung zu ermitteln, sind weitgehende Überwachungsrechte für Polizei und Geheimdienste notwendig. Durch die Unterscheidung von Bürger- und Feindstrafrecht wird das Recht zu einem Instrument politischer Selbstbehauptung. Das Recht wird so seines formalen Charakters beraubt, ideologisch imprägniert und in ein „Bekämpfungsrecht“ transformiert (vgl. Frankenberg 2005).

Die Vertreter des Ausnahmerechts argumentieren, dass alles legitim sei, was sich als ein effizientes Mittel im Kampf gegen den Terror erweise. Das Leben der Bürgerfreunde muss geschützt werden, das ist die erste Forderung der Solidarität, die man den Freunden schuldet. Allerdings irritiert die säuberliche Unterscheidung von Bürger und Feind, suggeriert sie doch die klare Trennung von Wir und Sie, Innen und Außen. Aus der Perspektive der Vertreter des Ausnahmerechts sind die Feinde immer die Anderen, die Fremden, die etwas zu verbergen haben. Der Feind ist in ihrer Vorstellung leicht zu erkennen und durch Abschottung und bürokratische Erfassung zu lokalisieren. Doch verkennt ihre Perspektive die Asymmetrie der konflikthaften Situation, auf die sie reagieren will. Depenheuer ist in dieser Hinsicht zumindest realistischer. An seiner Diagnose wird jedoch erneut die Grenzen- und Maßlosigkeit des Denkens der Ausnahme deutlich:

Er (d. h. der moderne islamistische Terrorismus, J. F.) unterläuft die Innen/Außen-Orientierung der Gefahrenquelle, weil er weder örtlich noch zeitlich zu identifizieren ist: er ist latent überall und immer da. […] Obwohl staatstheoretisch Feind, kann der Terrorist nicht nur von außen angreifen, sondern auch von innen: er lebt unerkannt als ‚Schläfer‘, über Jahre hinweg die Regeln der Rechtsordnung peinlich genau befolgend als freundlicher ‚Nachbar von nebenan‘ und kann im nächsten Augenblick als Terrorist zuschlagen. Diese Asymmetrie der Bedrohungslage ist ebenso verfassungsrechtliche wie sicherheitspolitische Herausforderung, an deren erfolgreicher Bewältigung sich das Schicksal freiheitlich-demokratisch verfasster Staatlichkeit entscheiden kann. (Depenheuer 2008, S. 46, 49)

Das Problem verschärft sich noch, wenn man sich bewusst macht, dass die sogenannten Terroristen keineswegs national codiert sind. Es ist nicht auszuschließen, dass auch deutsche Staatsbürger beispielsweise mit den Islamisten sympathisieren, sie aktiv unterstützen und sogenannte Schläfer sein könnten. Daran wird deutlich, dass der demokratische Rechtsstaat an dieser sicherheitspolitischen Herausforderung scheitern muss, denn in der Logik des Ausnahmedenkens müssten letztlich alle Bürger als potenzielle Feinde erscheinen. Wollte man sich vor dieser Gefahr schützen, müsste man alle möglichst lückenlos überwachen und ausspähen. Wolfgang Schäuble beschrieb dies so: „Das Problem ist, dass sich solche Gruppen mittlerweile spontan bilden. […] Insofern stimmt es: Wir kennen bei weitem nicht alle potentiellen Attentäter.“ (Schäuble 2007). Habermas weist ebenfalls auf dieses zentrale Problem hin, das für die Entgrenzung und Rechtlosigkeit der Gewalt verantwortlich ist:

In dieser Hinsicht scheint mir vor allem ein Umstand relevant zu sein: man [sic] weiß nicht wirklich, wer der Gegner ist. Die Person von Osama bin Laden erfüllt eher eine Stellvertreterfunktion. […] Der Terrorismus, den wir einstweilen mit dem Namen Al Qaida verbinden, macht eine Identifizierung des Gegners und eine realistische Einschätzung des Risikos unmöglich. Diese Ungreifbarkeit verleiht ihm eine neue Qualität. (Habermas 2004, S. 15)

Schäuble tat jedoch so, als ob die Wissenslücke prinzipiell zu schließen sei, wenn man nur alle geforderten Maßnahmen der Vernetzung von Polizei, Geheimdiensten und Militär umsetzen würde. Nach dieser Logik wäre es nur eine Frage der Zeit, bis man alle potenziellen Attentäter kennte und bekämpfen könnte. Der dahinter steckende Wunschglaube wird durch die Problembeschreibung Depenheuers als Illusion erkennbar: Sie besitzt nunmehr die symbolische Dimension, Handlungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz zu suggerieren, um in einem weiteren Schritt Handlungskompetenzen zu reklamieren. Tatsächlich aber scheint mir das erkenntnistheoretische Problem der Feinderkennung prinzipiell unlösbar. Die Grenze der Souveränität, die Hobbes mit der Unterscheidung von Fides und Confessio aufgezeigt und die Schmitt als tödliches Einfallstor des Liberalismus verunglimpft hat, lässt sich ohne die Zerstörung des Rechtsstaats nicht überschreiten.

Doch wie geht man mit diesem Nichtwissen um? Die Verteidiger des Ausnahmezustands folgern ebenso wie der damalige US-Präsident George W. Bush mit Hobbesscher Naturzustandslogik konsequent: Wenn man prinzipiell nicht wissen kann, ob jemand etwas Bedrohliches im Schilde führt, ist es nur rational im Sinne der Selbsterhaltung, ihn vorab als Feind zu betrachten und zu behandeln. Der Fremde ist demnach aufgrund seiner Uneindeutigkeit eine potenzielle Bedrohung und muss als Feind gelten. Solche zeitgenössischen Vogelfreien sind die Gefangenen von Guantánamo,Footnote 10 die in „unbegrenzte Haft“ (Butler) genommen wurden. Apologetisch wird das von Depenheuer an Jakobs anknüpfend einbekannt:

Phänomenologische Chiffre für die Rechtlosigkeit des Feindes und Maßgeblichkeit reiner Staatsraison steht ‚Guantanamo‘ als ein Ort, an dem Recht solange suspendiert ist, wie die Gefahr andauert. Die Gefangenen haben hier nicht den Status von Rechtssubjekten, sie haben nur noch ihr ‚nacktes Leben‘. ‚Guantanamo‘ verweist auf den von Staats wegen nicht vorhandenen subjektiven Rechtsstatus feindlicher Terroristen und fungiert als Chiffre für die Sicherheitsverwahrung von Menschen, die als Gefahr erkannt werden. Das ist eine verfassungstheoretisch mögliche Antwort im Kampf der rechtsstaatlichen Zivilisation gegen die Barbarei des Terrorismus. Die Entdifferenzierung, Entzivilisierung und Entkultivierung durch die terroristische Gewaltanwendung fände ihre Fortsetzung in der Art staatlicher Gefahrenbekämpfung, die sich nicht den zivilisatorischen Maßstäben der rechtstaatlichen Normallage richtete (Depenheuer 2008, S. 63 f.).

Dass der Staat in Fortsetzung der terroristischen Logik die Entzivilisierung weitertreibt, also die zivilisatorischen Standards und kulturellen Werte seinerseits aufgibt, scheint für Depenheuer kein Grund zur Besorgnis zu sein. Der öffentlichen Kontrolle entzogen, ohne Anklage, ohne rechtlichen Beistand und faires Gerichtsverfahren sind die Gefangenen der willkürlichen, souveränen Gewalt auf unbestimmte Zeit ausgeliefert. Die in Guantánamo angewandte Folter ist ein Angriff auf ihren Status als Mensch. Die souveräne Entscheidung ist somit auch eine Entscheidung über die Zugehörigkeit der Gefangenen zur Menschheit. Die Gefangenen sind nicht schuldig, weil sie etwas Strafbares begangen haben und rechtmäßig verurteilt worden sind, sondern weil man sie verdächtigt. Da die oftmals dürftige Beweislage vermutlich vor keinem Gericht bestehen könnte, kann man gegen sie auch keine Anklage erheben, sondern nur wegschließen. Die Lager sind mit einem Wort Hannah Arendts „ortlose Orte des Terrors“. Sie sind rechts- und weltlose Orte der souveränen Willkür, in denen der Mensch als ein Rechts- und Moralsubjekt zerstört und politisch zu einem „lebenden Leichnam“ wird.Footnote 11 Den Gefangenen wird ihr „Recht auf Rechte“ (Arendt) durch souveräne Entscheidung abgesprochen. Diese Entscheidung ist absolutes Unrecht, wie Jean-François Lyotard anmahnt: „Denn Unrecht ist ein Übel, von dem das Opfer kein Zeugnis ablegen kann, weil es sich kein Gehör zu verschaffen vermag. Genau das geschieht allen, denen das Recht, sich an andere zu wenden, genommen wird.“ (Lyotard 1996, S. 179) Und er fragt: „Wie kann man im Wege des Gesprächs vermitteln, welchen Terror es bedeutet, sich an nichts und niemanden mehr wenden zu können?“ (ebd.) Gegen solche Reflexionen muss sich das Denken der Ausnahme immunisieren.

Aber die Logik des Ausnahmezustands führt nicht nur zu diesen extremen, für alle sichtbaren rechtslosen Sphären. Sie betrifft nicht nur die Anderen, die Fremden, die vermeintlichen Feinde. Diese Logik verändert und zerstört unweigerlich das Verhältnis der Freunde zueinander. Die von Habermas betonte Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit des Terrors führt unweigerlich zu einer Kompetenzerweiterung der Geheimdienste und polizeilicher Ermittlungsbefugnisse, die den Schutz der Privatsphäre unterminieren. Das Private, das in einem liberalen Staat vor dem Eingriff und der Überwachung durch den Staat rechtsstaatlich geschützt ist, wird zum Ort möglicher Konspiration. Günther Jakobs macht ungewollt den paradoxen Charakter des Sicherheitsdenkens deutlich:

Freilich sind Situationen möglich, vielleicht sogar zur Zeit […] gegeben, in denen Normen, die für einen freiheitlichen Staat unverzichtbar sind, ihre Geltungskraft verlieren, wenn man mit der Repression wartet, bis der Täter aus seiner Privatsphäre heraustritt. (Jakobs zit. in. Frankenberg 2005, S. 382).

Als Sicherung vor dem Mord durch die Hände der Terroristen empfiehlt Jakobs bildlich gesprochen den Selbstmord. Wenn unverzichtbare Rechtsgrundsätze ihre Geltungskraft für den liberalen Staat verlieren, dann hört der Staat unweigerlich auf, liberal zu sein. Für Agamben kennzeichnet dieses Paradox generell die Logik des Ausnahmezustands. Es gehe dabei immer um die Opferung dessen, was man schützen und erhalten möchte: Selbsterhaltung durch Selbsttötung. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die frühe Studie Constitutional Dictatorship von Rossiter, die mit den folgenden Worten endet: „No sacrifice is too great for our democracy, least of all the temporary sacrifice of democracy itself.“ (Rossiter 2002, S. 314) Agamben zieht aus diesem Paradox den radikalen Schluss, „daß eine ‚geschützte Demokratie‘ keine Demokratie ist und daß das Paradigma der Verfassungsdiktatur eher als Phase eines Übergangs funktioniert, der in fataler Weise zur Einsetzung eines totalitären Regimes führt“ (Agamben 2004, S. 23). Heißt das, der demokratische Rechtsstaat darf sich nicht verteidigen? Dies scheint töricht und unangemessen. Es widerspricht offensichtlich dem gesunden Menschenverstand. Und doch gilt ebenso: Wenn die „Normen, die für einen freiheitlichen Staat unverzichtbar sind, ihre Geltungskraft verlieren“, wie Jakobs im obigen Zitat bemerkt, dann ist es um die Freiheit und den Rechtsstaat nicht mehr gut bestellt.

Die weitreichende Strategie der Prävention entgrenzt die Gewalt räumlich und zeitlich, da von jedem Ort der Erde eine mögliche Bedrohung ausgehen kann und die potenzielle Feindschaft erst dann erfolgreich bekämpft ist, wenn es keine fremden, unkontrollierten Menschen mehr gibt. Der War on Terror, der nicht nur die reale, sondern auch die potenzielle Bedrohung stoppen möchte, ist damit prinzipiell unbeendbar, da man niemals alle Menschen kontrollieren kann. Benjamin Barber zitiert eine Bemerkung von George W. Bush aus dem Jahre 2002: „Es kann sein, dass wir irgendwann als Einzige übrig bleiben. Ich habe nichts dagegen. Wir sind Amerika.“ (Barber 2003, S. 39) Aber welch ein „Amerika“ wäre das? Gewiss nicht mehr ein Ort der Freiheit, ein Land der offenen Grenzen und der Zufluchtsort für Verfolgte. Sicherlich ließe sich dieser universale Verdacht nicht auf Angehörige fremder Nationen beschränken, sondern würde seine zersetzende Dynamik auch im Inneren der amerikanischen Gesellschaft entfalten und religiöse und rassistische Grenzziehungsprozesse im Innern dieser Einwanderungsgesellschaft verkünden.

5 Das Versprechen existenzieller Sicherheit und die Grenzen des Rechtsstaats

Der liberale Rechtsstaat kann dem Bürger laut Frankenberg lediglich eine „gesicherte Unsicherheit“ (Frankenberg 2005, S. 373) bieten, wenn er seine Liberalität nicht zerstören möchte. „Der kognitiven Sicherheit – oder auch: gesicherten Unsicherheit – korrespondieren vor allem jene rechtsstaatlichen Prinzipien, die dem bürgerlichen Erwartungshorizont Kontur geben sollen: Bestimmtheit, Normklarheit und effektiver (Grund-)Rechtsschutz. Insofern fungiert kognitive Sicherheit als notwendige Bedingung von Freiheit […]“ (Frankenberg 2005, ebd.; vgl. Huster und Rudolph 2008, S. 17 ff.). Sicherheitspolitik, die über normativ festgesetzte Maße hinauszugehen versucht und alle möglichen Risiken und Unsicherheitsfaktoren ausschließen möchte, muss nahezu zwangsläufig jede Spontaneität und Freiheit des Handelns bekämpfen. Das Versprechen der Exekutive, „existenzielle Sicherheit“ gewähren zu können, ist selbst die äußerste Bedrohung der Freiheit. Die Erfüllung dieses Versprechen stehe, so Butler, nicht zur freien Disposition souveräner Macht. Die Attentate des neuen Terrorismus zeigen: Der Mensch ist und bleibt prinzipiell verletzbar. Eine existenzielle Sicherheit ist, trotz aller politischen Versprechen, nicht zu gewährleisten. Judith Butler geht in diesem Punkt noch weiter und argumentiert, dass wir die Überwindung dieser grundlegenden Verletzbarkeit des Menschen nicht wollen können, selbst wenn sie möglich wäre, denn ihre Überwindung würde eine wesentliche Dimension des Menschseins zerstören. Gerade dieser Einsicht verweigert sich die Strategie souveräner Sicherheitspolitik. Butler entdeckt in den Strategien „nationaler Souveränität Versuche […], eine Manipulierbarkeit und Verwundbarkeit zu überwinden, die unabänderliche Dimensionen der menschlichen Abhängigkeit und Sozialität sind“ (Butler 2005, S. 10). Die Bush-Regierung glaubte, dass man der eigenen Angst Herr werden kann, indem man die Welt in Angst und Schrecken versetzt. „Die wiedereingeführte Souveränität […] ist […] eine gesetzlose und prärogative Macht, eine ‚Schurkenmacht‘ par excellence“ (Butler 2005, S. 75). Die souveräne Gewalt im Ausnahmezustand und die terroristische Gewalt nähern sich schließlich bis zur Ununterscheidbarkeit an. Die souveräne Kontrollgewalt und die terroristische Verunsicherungsgewalt vollziehen die gleiche, Freiheit, Öffentlichkeit und Menschenwürde zerstörende Logik. Sie sind Zwillinge, die in ihrem bedingungslosen Kampf die Freiheit zwischen sich zu zerreiben drohen. Not kennt kein Gebot, deshalb darf ein liberal-demokratischer Rechtsstaat seine Politik nicht auf der Not begründen. Jan Philipp Reemtsma hat uns daran erinnert: „Auch wer die Folter ausübt, geht an ihr zugrunde. Das gilt für den Rechtsstaat selbst.“ Denn und das sollten wir strengstens beachten: „Wir sind, was wir tun. Und wir sind, was wir versprechen, niemals zu tun.“ (Reemtsma 2005, S. 129)