Handlungen, die wiederholt und exzessiv stattfinden, nicht kontrolliert werden können und mit negativen Auswirkungen für die Betroffenen und deren Umfeld einhergehen, können eine Verhaltenssucht darstellen. Als Verhaltenssüchte werden nach aktueller Definition der International Statistical Classification of Diseases (ICD-11) solche Verhaltensweisen verstanden, die zu einer Vernachlässigung anderer Aktivitäten führen, nur unzureichend in ihrer Häufigkeit und Intensität kontrolliert werden können und trotz negativer Konsequenzen fortgesetzt werden (Tab. 1). Bisher wurden Verhaltensabhängigkeiten in der ICD-10 im Kapitel der Impulskontrollstörungen klassifiziert (siehe unten). In der ICD-11 werden aktuell die „Glücksspielsucht“ und „Computerspielsucht“ als spezifische Diagnosen im Kapitel „Störungen durch Verhaltenssüchte“ aufgeführt. Inwiefern andere Verhaltensweisen wie die „Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung“, die „Smartphone-Nutzungsstörung“ und die „Internetbezogene Störung“ eigenständige Verhaltenssüchte darstellen, ist Gegenstand aktueller Forschungsbemühungen. Erfüllen solche Verhaltensweisen die Kriterien einer Verhaltenssucht, können sie in der Kategorie der „Sonstigen spezifischen bzw. unspezifischen Störungen auf Grund von Verhaltenssüchten“ der ICD-11 klassifiziert werden. Obwohl „Pathologisches Kaufen“ beziehungsweise die „Kauf-Shopping-Störung“ und die „Pornografie-Nutzungsstörung“ phänomenologische und neurobiologische Ähnlichkeiten mit Verhaltenssüchten aufweisen, werden diese in der ICD-11 im Kapitel der „Störungen der Impulskontrolle“ klassifiziert. Die Klassifikation dieser Krankheitsbilder als Verhaltenssucht oder Impulskontrollstörung ist weiterhin Gegenstand intensiver Forschung.

Tab. 1 Diagnostische Kriterien für Verhaltenssüchte nach ICD-11

Verhaltenssüchte bezeichnen exzessive Verhaltensweisen, die nicht kontrolliert werden können.

Studien weisen auf Ähnlichkeiten von Verhaltenssüchten und stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen hin, wie ein starkes Verlangen (Craving), einen Kontrollverlust sowie Rückfälle nach Phasen der Abstinenz [1]. In Bildgebungsstudien zeigten sich zudem Veränderungen in neuronalen Netzwerken, die jenen bei substanzgebundenen Suchterkrankungen ähneln und mit Veränderungen in spezifischen neurokognitiven Funktionsbereichen einhergehen [2, 3, 4]. Das Modell Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) ist ein etabliertes theoretisches Modell zur Erklärung der Mechanismen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltenssüchten beitragen [5]. Das Modell beschreibt die Entwicklung einer Verhaltenssucht als dynamisches Zusammenspiel individueller Merkmale, emotionaler Zustände, kognitiver Prozesse und spezifischer Verhaltensweisen (Abb. 1). Initial führt eine Gratifikation bestimmter Verhaltensweisen (z.B. Gewinn beim Glücksspiel) dazu, dass diese Verhaltensweisen mit bestimmten Gedanken und Emotionen sowie Belohnungserwartungen verknüpft werden, welche ein erneutes Auftreten des Verhaltens begünstigen. Im Verlauf ändert sich dies, denn das Verhalten führt nun immer häufiger zu negativen Konsequenzen (z.B. Schulden). Dass das Verhalten trotzdem nicht eingestellt wird, erklärt das Modell über eine reduzierte Verhaltenskontrolle sowie damit, dass das Verhalten zur Kompensation dient, indem etwa aversive emotionale Zustände kurzfristig reduziert werden, und auch hierdurch das Verhalten indirekt aufrechterhalten wird [6].

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I-PACE-Modell der Verhaltenssüchte. Die initiale Verhaltenskontrolle wird bei Entstehung einer Verhaltenssucht zunehmend beeinträchtigt. Das Verhalten dient dann nicht mehr primär einer Gratifikation, sondern einer Kompensation (mod. nach [5]).

Verhaltenssüchte sind häufig und ihre Prävalenz hat in den letzten Jahren zugenommen. Studien berichten Punkt-Prävalenzen von 1-5% für die Glücksspielsucht [7], 3% für die Computerspielsucht [8], bis zu 5% für die Kauf-Shopping-Störung [8] und 2-3% für Störungen mit zwanghaftem Sexualverhalten [9]. Männer sind öfter von einer Computerspielsucht, Glücksspielsucht und Störungen mit zwanghaftem Sexualverhalten betroffen, wohingegen bei Frauen Kauf-Shopping-Störungen häufiger sind. Oft liegen bei den Betroffenen weitere komorbide psychische Erkrankungen vor. Besonders häufig werden affektive Störungen, Angststörungen, substanzgebundene Abhängigkeiten und ADHS bei circa 10-30% der Patienten beobachtet [10, 11]. Da komorbide Erkrankungen den Verlauf einer Verhaltenssucht entscheidend beeinflussen können, sollten diese in der Therapie der Patienten berücksichtigt werden.

Eine Reihe von Risikofaktoren für die Entwicklung einer Verhaltenssucht wurden identifiziert [12, 13, 14]. Zu den häufig berichteten Risikofaktoren gehören männliches Geschlecht (für die Computerspiel- und Glücksspielsucht), psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, traumatische Lebensereignisse, eine dysfunktionale familiäre oder soziale Umgebung (unter anderem häufige soziale Konflikte, kleines soziales Netz, Viktimisierung) sowie ein Mangel an Bewältigungsstrategien. Auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, wie Impulsivität, Perfektionismus und ein geringes Selbstwertgefühl, können das Risiko für die Entwicklung einer Verhaltenssucht erhöhen.

Bis zu 30% der von Verhaltenssüchten Betroffenen leiden auch an komorbiden psychischen Erkrankungen.

Die Diagnose von Verhaltenssüchten erfolgt in der Regel durch eine gründliche Anamnese und Prüfung der diagnostischen Kriterien der ICD-11 beziehungsweise in Deutschland aktuell (noch) nach ICD-10 (Tab. 1). Dabei sind die Kriterien in beiden Versionen im Kern deckungsgleich. In der ICD-10 werden Verhaltenssüchte allerdings noch im Kapitel der Impulskontrollstörungen klassifiziert (F63.x) und als Störung definiert, die durch häufige und wiederholte Verhaltensweisen gekennzeichnet ist, die die Lebensführung der betroffenen Person beherrschen und zum Verfall der sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen führt. Dabei kann die Glückspielstörung als spezifische Diagnose („Pathologisches Spielen“, ICD-10: F63.0) klassifiziert werden und andere Verhaltenssüchte unter der Diagnose F63.9 („Nicht näher bezeichnete abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle“). Bei der Diagnosestellung ist es wichtig, andere psychische Störungen, wie eine Manie oder substanzinduzierte Störungen auszuschließen, die ähnliche Symptome hervorrufen können. Für Betroffene steht eine Reihe von Beratungs- und Hilfsangeboten zur Verfügung (Tab. 2). Meist bieten Suchtberatungsstellen spezielle Sprechstunden für Personen mit Glücksspielsucht und anderen Verhaltenssüchten an sowie eine Schuldenberatung. Die Anbindung der Betroffenen an solche Hilfsstrukturen ist sinnvoll, um sie dabei zu unterstützen, ihre finanziellen und psychosozialen Probleme zu bewältigen.

Tab. 2 Übersicht zu Beratungs- und Hilfsangeboten für Betroffene mit Verhaltenssüchten

In den letzten Jahren ist ein Anstieg der Prävalenz von Verhaltenssüchten zu beobachten.

Obwohl bei Verhaltenssüchten, im Vergleich zu stoffgebundenen Verhaltenssüchten, Schädigungen durch toxische Substanzeffekte keine Rolle spielen, werden auch bei Verhaltenssüchten einige gravierende psychische, physische und psychosoziale Folgeerscheinungen beobachtet [16, 17]. Dazu gehören finanzielle Probleme, Beziehungsprobleme und soziale Isolation. Darüber hinaus können psychische Folgen wie Depressionen und Angstzustände auftreten oder verstärkt werden. Körperliche Gesundheitsprobleme wie Schlafstörungen, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und andere stressbedingte Erkrankungen sind ebenfalls häufige Komplikationen von Verhaltenssüchten (Abb. 2).

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Folgen von Verhaltenssüchten.

Therapie

Ziel der Therapie einer Verhaltenssucht ist eine Abstinenz von den spezifischen Verhaltensweisen oder alternativ, im Falle nicht vermeidbarer Aktivitäten wie Einkaufen, ein angemessenes Ausmaß des Verhaltens. Dabei stellt die Definition dessen, was als „angemessen“ angesehen werden kann, zum Teil eine Herausforderung dar. Eine Festlegung kann manchmal nur im Verlauf, unter Berücksichtigung der Konsequenzen des Verhaltens und des resultierenden Leidensdrucks auf Seiten der Betroffenen und des Umfeldes erfolgen. Die Behandlung von Verhaltenssüchten sollte immer multimodal erfolgen. Dabei ist eine Anbindung von Betroffenen an entsprechende Beratungsstellen mit spezifischen Angeboten (Tab. 2) sinnvoll, da psychosoziale Probleme wie Schulden häufig zu einer starken Belastung der Betroffenen und des psychosozialen Umfeldes führen. Zur Behandlung von Verhaltenssüchten werden vor allem psychotherapeutische Verfahren eingesetzt. Psychopharmaka sind bisher nicht zur Behandlung von Verhaltenssüchten zugelassen, können aber, insbesondere bei Komorbiditäten (z. B. Depression), eine sinnvolle Ergänzung sein. Bisher gibt es noch keine nationalen Leitlinien zur Behandlung von Verhaltenssüchten. Aktuell befindet sich aber eine AWMF-S1-Leitlinie zur Behandlung von internetbezogenen Verhaltensstörungen in der Entwicklung und wird voraussichtlich noch im Jahr 2024 veröffentlicht.

Die beste Evidenz besteht für psychotherapeutische Interventionen.

Therapie der Glücksspielsucht

Ziel der Therapie ist es, eine Abstinenz vom pathologischen Spielen zu erreichen. Dies kann durch Beantragung einer Sperrung in Casinos oder auf Onlineplattformen sowie das Sperren von Zahlungsmitteln unterstützt werden. Für die spezifische Behandlung der Glücksspielsucht werden vor allem psychotherapeutische Verfahren und Elemente des Motivational Interviewing (MI) eingesetzt. Die beste Evidenz liegt momentan für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) vor [18]. Eine aktuelle Entwurfsfassung der NICE-Guidelines empfiehlt den Einsatz von KVT als Gruppentherapie, die mindestens acht bis zehn Sitzungen umfassen sollte und Strategien zur Rückfallvermeidung beinhalten sollte [19]. Hinzu kommen Wirksamkeitsbefunde für Expositionstherapie, personalisierte Feedback-Intervention und MI. Im Hinblick auf den Stellenwert einer Off-Label-Pharmakotherapie kommt ein aktuelles Cochrane-Review zu dem Schluss, dass es eingeschränkte Evidenz gibt, dass Opioidantagonisten (Naltrexon, Nalmefen) und Antipsychotika der zweiten Generation (Olanzapin) den Schweregrad der Glücksspielsymptome kurzfristig reduzieren können [20]. Die verfügbare Evidenz ließ allerdings keine Aussage zu den Effekten auf die Ausprägung der Glücksspielsucht (z. B. Häufigkeit des Spielens) und auf das psychosoziale Funktionsniveau zu. Für den Einsatz von Antidepressiva und Stimmungsstabilisatoren gab es keine ausreichende Evidenz. Eine aktuelle Entwurfsfassung der NICE-Guidelines empfiehlt den Einsatz von Naltrexon bei Patienten, die trotz psychotherapeutischer Therapie häufige Glücksspielrückfälle haben oder keine ausreichende Stabilisierung erzielt werden konnte [19]. Die medikamentöse Behandlung der Glücksspielsucht sollte in Abhängigkeit von der psychischen Komorbidität erfolgen und mit Psychotherapie kombiniert werden.

Behandlung der Computerspielstörung

Die KVT ist auch für die Computerspielstörung die Therapie der Wahl [21]. Bei gleichzeitigem Auftreten weiterer exzessiver Verhaltensweisen in Bezug auf die Internetnutzung, im Sinne einer „Internetsucht“ (z.B. Gambling und Social Media und Videoplattformen), sollten die Interventionen nicht nur die Computerspielstörung, sondern auch die exzessive Nutzung anderer Applikationen adressieren. Hinsichtlich pharmakologischer Ansätze gibt es wenig Evidenz. Eine einzelne Studie berichtete über positive Effekte für das Antidepressivum Bupropion auf die Computerspielsymptomatik [22]. Basierend auf der bisher verfügbaren Evidenz kann eine alleinige Pharmakotherapie nicht empfohlen werden beziehungsweise sollte sich auf Fälle mit entsprechenden psychischen Komorbiditäten beschränken und sich in diesen Fällen nach den Leitlinien der entsprechenden Störungen richten.

Therapie anderer Verhaltenssüchte

Wie bei der Computerspiel- und Glücksspielsucht ist die Abstinenz von den entsprechenden Verhaltensweisen das primäre Therapieziel. Für die Kauf-Shopping-Störung und die Internetnutzungsstörung hingegen ist es meist das Ziel, das Verhalten nicht komplett zu unterlassen (da dies kaum möglich erscheint, weil die Verhaltensweisen integrale Bestandteile des Alltags sind), sondern dieses angemessen zu steuern. Trotzdem kann aber auch hier eine komplette Abstinenz den Therapieerfolg fördern. Auch zur Behandlung dieser Verhaltenssüchte werden vor allem psychotherapeutische Verfahren eingesetzt, wobei die beste Evidenz für die KVT vorliegt. Auch der Einsatz von MI zeigte in einigen Studien signifikante Effekte bei anderen Verhaltenssüchten wie der Kauf-Shopping-Störung [23]. Wie bei der Computerspiel- und Glücksspielsucht ist die Pharmakotherapie auch bei anderen Verhaltenssüchten eine Option, in Kombination mit Psychotherapie und insbesondere in Fällen, in denen relevante Komorbiditäten (z.B. Depression, Angsterkrankung) vorliegen, die eine Aufrechterhaltung der Verhaltenssucht begünstigen. Für eine alleinige pharmakologische Therapie liegt bisher keine ausreichende Evidenz vor, auch wenn es einzelne Studien gibt, die signifikante Effekte von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) und Topiramat bei der Kauf-Shopping-Störung sowie SSRI und Opioidantagonisten wie Naltrexon bei der Pornografie-Nutzungsstörung und anderem zwanghaften Sexualverhalten zeigen [24, 25].

Bei psychischen Komorbiditäten kann die Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie den Behandlungserfolg verbessern

Fazit für die Praxis

  • Verhaltenssüchte bezeichnen Verhaltensweisen, die exzessiv ausgeübt werden, nur eingeschränkt kontrolliert werden können und zunehmend gegenüber anderen Aktivitäten priorisiert werden.

  • Die Glücksspielsucht und die Computerspielsucht finden sich als spezifische Diagnosen in der ICD-11 und können anhand standardisierter Kriterien diagnostiziert werden. Weitere Verhaltensweisen, die die Kriterien einer Verhaltenssucht erfüllen (z. B. Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung), können derzeit als sonstige spezifische oder unspezifische Störungen auf Basis von Verhaltenssüchten in der ICD-11 klassifiziert werden. Andere, den Verhaltenssüchten ähnliche Störungen, wie die Kauf-Shopping-Störung und die Störungen mit zwanghaftem Sexualverhalten („Sexsucht“), finden sich weiterhin im Kapitel der Impulskontrollstörungen und können dort klassifiziert werden.

  • Verhaltenssüchte sollten primär psychotherapeutisch behandelt werden. Wirksamkeitsnachweise liegen dabei vor allem für die kognitive Verhaltenstherapie vor.

  • Bei komorbiden psychischen Erkrankungen, zum Beispiel affektiven Störungen oder Angst, sollte eine Psychopharmakotherapie gemäß den entsprechenden Leitlinien erwogen werden.

  • Eine Psychopharmakotherapie von Verhaltenssüchten mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern oder Anticravingsubstanzen (z. B. Naltrexon) erfolgt aktuell off label und sollte - wenn überhaupt - nur in Kombination mit einer Psychotherapie erwogen werden.

Herausgeber der Rubrik CME Zertifizierte Fortbildung: Prof. Dr. med. J. Bogner, München, Prof. Dr. med. H.J. Heppner, Bayreuth, Prof. Dr. med. K. Parhofer, München