Die Leitlinie zur Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose besteht seit dem Jahr 2003 und wurde bisher in den von der AWMF vorgegebenen Intervallen aktualisiert - zuletzt im Jahr 2017. Die jüngste Überarbeitung zog sich nun deutlich länger hin als geplant. Woran das lag und eine Übersicht der grundlegendsten Änderungen in der neuen Version lesen Sie hier.

Nach langem Warten war es im Juni letzten Jahres schließlich soweit: Dr. Friederike Thomasius stellte auf dem Osteologie-Kongress in Salzburg die im Auftrag des Dachverbands Osteologie (DVO) und seiner 20 Mitgliedsgesellschaften sowie der Patientenvertretung „Bundesselbsthilfeverband für Osteoporose e.V.“ überarbeitete Leitlinie zur Osteoporose vor [1]. Schnell wurde der Hintergrund der Verzögerung klar: Während vorangegangene Updates überwiegend Aktualisierungen der Vorgängerversion waren, konnte die Kommission nun eine gänzlich neue Leitlinie präsentieren.

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In der neuen Leitlinie zur Osteoporose wurde unter anderem das gesamte Kapitel der Risikofaktoren überarbeitet.

Mittlerweile wurde die Leitlinie von den DVO-Mitgliedsgesellschaften konsentiert und gilt somit als beschlossen. Zu lesen ist sie im AWMF-Leitlinienportal und auf der Homepage des DVO (www.dv-osteologie.org).

Case-Finding

Insbesondere das „Case-Finding“ und die Berechnung des Frakturrisikos wurden nicht nur ergänzt, sondern beruhen auf aktualisierten Modellvorstellungen zur Frakturwahrscheinlichkeit unter Einschluss neuer Risikofaktoren. Als Ausgangsszenario dient hierbei ein Grundrisiko osteoporotischer Frakturen, abhängig von Geschlecht und Lebensalter. Dazu kommen weitere Risikofaktoren: vorangegangene Frakturen, Begleiterkrankungen, bestimmte Medikamente (z. B. Kortikosteroide) und eine erniedrigte Knochendichte. Für nahezu jeden dieser Faktoren lässt sich aus der vorliegenden Literatur ein Risikogradient quantifizieren, mit dem das Grundrisiko potenziert wird. Mithilfe eines Rechners lässt sich dann das absolute Frakturrisiko ermitteln. Eine Auflistung der Risikofaktoren ist in Tab. 2.1. der Kitteltaschenversion der Leitlinie dargestellt.

Darüber hinaus wurden die Risikofaktoren differenzierter betrachtet als in den Vorgängerversionen, in denen sie allenfalls in „stark“ und „weniger stark“ eingeteilt wurden. Jetzt wird zusätzlich ein zeitlicher Aspekt berücksichtigt: Im ersten Jahr nach einer Wirbelkörper- oder Hüftfraktur ist das Risiko eines neuerlichen Knochenbruchs besonders hoch. So gilt für den Fall einer Hüftfraktur im ersten Jahr danach ein 4,2-fach gesteigertes Risiko, später ist es nur noch 2,5-fach erhöht. Eine solche zeitliche Dynamik findet sich auch beim Einsatz von Kortikosteroiden: Im ersten Jahr nach der Einnahme von über 5 mg Prednisonäquivalent täglich besteht ein um den Faktor 4,9 erhöhtes Risiko für „Major osteoporotic fractures“.

Vorhersagezeitraum

Ein zweiter zeitlicher Aspekt wurde modifiziert: Die Wahrscheinlichkeit osteoporotischer Frakturen wird nun für die nachfolgenden drei Jahre bestimmt, nicht wie bis zuletzt, im „alten DVO-Modell“ - oder wie im Konkurrenzmodell FRAX - für zehn. Aus ärztlicher und Patientensicht ist das ein überschaubarer Zeitraum, der auch durch die randomisiert-prospektiven Studien zu nahezu allen zugelassenen medikamentösen Therapien abgebildet wird. Die zu erwartende prozentuale Veränderung der Frakturrisikowerte wurde entsprechend angepasst.

Risikofaktoren

Das gesamte Kapitel der Risikofaktoren wurde überarbeitet. Sie bildeten auch die Grundlage für die Entwicklung eines Rechners für das vertebrale und Schenkelhalsfrakturrisiko. Innerhalb der 33 priorisierten Risikofaktoren wurden neu aufgenommen:

  • Humerusfrakturen,

  • Beckenfrakturen,

  • chronische Hyponatriämie,

  • Herzinsuffizienz,

  • Niereninsuffizienz,

  • Multiple Sklerose und

  • Timed-up-and-Go-Test > 12 Sekunden.

Neu aufgenommene, aber nicht in der Risikokalkulation des Rechners berücksichtigte Risikofaktoren sind:

  • systemischer Lupus erythematodes,

  • Immobilität,

  • Frailty,

  • HIV sowie

  • bariatrische Operation.

Darüber hinaus wurden die Risikofaktoren gruppiert. Aus den Gruppen „Sturzrisikoassoziierte Risikofaktoren“ und „Glukokortikoide und rheumatoide Arthritis“ soll jeweils nur maximal ein Risikofaktor in der Bestimmung der Frakturrisikokonstellation Berücksichtigung finden.

Generelle Empfehlungen zur Prophylaxe

In die generellen Empfehlungen zur Osteoporose- und Frakturprophylaxe wurde nunmehr eine jährliche Sturzanamnese ab dem 70. Lebensjahr und nach sturzbedingten Fragilitätsfrakturen eingefügt. Zur Abklärung dienen hierbei der Chair-Rising-Test (Soll: < 10 Sekunden) sowie der Timed-Up-and-Go-Test (Soll: < 12 Sekunden). Die Anwendung dieser beiden Tools ist in der Langfassung der neuen Leitlinie ausführlich beschrieben.

Ernährung und Lebensstil

Neu ist die Empfehlung einer ausreichenden Eiweißzufuhr von 1,0 g/kg Körpergewicht ab dem 65. Lebensjahr. Außerdem wird bei der einzunehmenden Vitamin-D-Mindestmenge von 800 I.E. täglich auch eine Höchstzufuhr von 2.000-4.000 I.E. pro Tag angegeben. Die maximale Einzeldosis soll auf 20.000 I.E. pro Bolus begrenzt werden. Außerdem wird nun empfohlen, einen Vitamin-K-Mangel auszugleichen, sofern keine entsprechenden Antagonisten eingenommen werden.

Basisdiagnostik

Die Empfehlungen zur Basisdiagnostik unterscheiden sich - bis auf die Sturzanamnese - nicht grundlegend von den vorangegangenen Leitlinien. Bezüglich der DXA-Untersuchung wird jetzt eine Messung an der Lendenwirbelsäule (mindestens zwei auswertbare Wirbelkörper) und am proximalen Femur beidseits empfohlen. Bei der Auswertung mittels Risikotabellen und -rechner kommt dann in der Regel nur der Wert „Gesamtfemur“ zum Einsatz. Bei unzureichender Entscheidungsgrundlage durch die DXA-Messung können alternative Verfahren erwogen werden.

Spezifische medikamentöse Therapie

Die Empfehlungen zur generellen Indikation für eine spezifische medikamentöse Therapie (auch ohne DXA-Messung) bleiben unverändert. Dazu zählen weiterhin:

  • niedrigtraumatische singuläre Wirbelkörperfrakturen Grad 2 und 3,

  • multiple Wirbelkörperfrakturen Grad 1-3,

  • eine stattgehabte niedrigtraumatische Femurfraktur und

  • eine Therapie mit Glukokortikoiden über 7,5 mg/Tag Prednisonäquivalent für mehr als drei Monate (hier sollte der T-Score unterhalb von -1,5 liegen).

Graduierung der Therapie nach individuellem Frakturrisiko

Neu - und bisher in dieser Konsequenz einmalig - ist die Empfehlung einer graduierten Therapie in Abhängigkeit des Frakturrisikos über drei Jahre (Tab. 1). In Tab. 2 (Tab. 3.2. der Kurzfassung der Leitlinie) sind die Indikationsschwellen für eine medikamentöse Osteoporosetherapie nach Alter, Geschlecht, T-Score der Gesamthüfte in der Knochendichtemessung und Risikofaktor differenziert. Wird dabei der bunt markierte Bereich durch die Kombination von Alter und DXA-Messwert an der Gesamthüfte erreicht, dann ist die Behandlung indiziert. Ist das Zielfeld gelb gefärbt, besteht ein Risiko von 3-5% für eine osteoporotische Fraktur in den kommenden drei Jahren; ist es orange, beträgt das Risiko 5-10% und bei roter Färbung über 10%.

Tab. 1 Graduierung der Therapie in Abhängigkeit des Frakturrisikos [1]
Tab. 2
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Therapieindikation und Schwellenwerte zum Erreichen eines Frakturrisikos von 3% bis < 5% in den nachfolgenden drei Jahren [1]

Ergibt sich ein nicht markiertes Feld, so findet sich dort eine Zahl: Sie benennt, welchen zusätzlichen Faktors es bedarf, um die Therapieschwelle eines Frakturrisikos von 3-5% für die kommenden drei Jahre zu erreichen. Reicht ein einzelner bestehender Risikofaktor dafür nicht aus, so wird - sofern vorhanden - ein zweiter herangezogen. Die beiden Risikofaktoren werden miteinander multipliziert und das Ergebnis wird mit dem angegebenen Faktor abgeglichen. Insgesamt werden nur zwei Risikofaktoren berücksichtigt; folglich sollten sie die stärksten, also diejenigen mit dem höchsten relativen Risiko sein.

Grundlagen der Risikobestimmung im Rechner beziehungsweise derzeit noch in den Risikotabellen sind somit Alter und Geschlecht, das Ergebnis der Knochendichtemessung und - soweit vorhanden - bis zu zwei klinische Risikofaktoren (inklusive möglicher Erhöhung durch Faktoren des imminenten Frakturrisikos). Werden mehrere Risikofaktoren eingegeben, berücksichtigt der Rechner automatisch die zwei stärksten. Alle weiteren vorliegenden klinischen Risikofaktoren sollen durch den Rechner aufgelistet werden, sodass sich ein Gesamtbild des Risikofaktorenprofils ergibt, das bei der Therapiewahl im Sinne von begründeten Einzelfallentscheidungen herangezogen werden kann.

Weiteres zur Therapie

Bei Einsatz von Bisphosphonaten, Denosumab oder Romosozumab soll eine zahnärztliche Vorstellung empfohlen werden. Angesichts der niedrigen Ereignisrate von antiresorptivaassoziierten Kiefernekrosen sollte der Beginn einer Osteoporosetherapie aber nicht durch eine zahnärztliche Behandlung hinausgezögert werden.

Ergibt sich aufgrund der Knochendichtemessung und der Risikofaktoren noch keine Indikation zu einer spezifischen medikamentösen Therapie, so sind Kontrolluntersuchungen der DXA-Knochendichte durchzuführen. Der Zeitraum bis zur Wiederholungsmessung richtet sich dabei nach dem Abstand zum T-Score, der eine medikamentöse Therapie bedingen würde. Somit sollte bei grenzwertiger Indikation zu einer spezifischen Therapie bereits nach kürzeren Intervallen eine Kontrollmessung vorgenommen werden.

Wird eine medikamentöse Therapie eingeleitet oder eine bestehende geändert, so sollte nach dem Mehrheitsvotum der Leitliniengruppe vor Ablauf von fünf Jahren eine Kontrollmessung erfolgen.

Sinkt das Risiko einer osteoporotischen Fraktur unter die Therapieschwelle, kann bei einer Behandlung mit Bisphosphonaten eine Einnahmepause empfohlen werden. Im ungünstigen Fall, wenn es trotz der Medikation zu zwei oder mehr neuen osteoporotischen Frakturen innerhalb von drei Jahren kommt, muss von einem Therapieversagen ausgegangen werden. Ähnliches gilt bei einer signifikanten Abnahme der Knochendichte um über 5% unter der Therapie. Dann sollten mögliche Gründe evaluiert (mangelnde Adhärenz, Resorptionsstörungen etc.) und gegebenenfalls ein Therapiewechsel vorgenommen werden.

Das neu zugelassene Präparat Romosozumab wurde mit der Wirksamkeitsempfehlung „A“ für Wirbelkörper-, periphere sowie proximale Femurfrakturen aufgenommen.

Limitationen

Aufgrund der Medizingeräteverordnung (MedGV) der Europäischen Union muss der neue Risikorechner zertifiziert werden. Dafür sind zum einen umfassende Finanzmittel nötig, zum anderen muss „aufgrund der Überlastung der für die Zertifizierung benannten Stellen“ ein Zeitraum von etwa einem Jahr eingeplant werden. Übergangsweise wird deshalb die Papierversion in Tabellenform benutzt [2]. „In Ausnahmefällen“ kann auch noch die alte DVO-Tabelle der Leitlinie aus dem Jahr 2017 verwendet werden, etwa wenn die Versorgungskontinuität sonst nicht gewährleistet sein sollte. Allerdings sollen die Papiertabellen entfallen, sobald der Risikorechner eingesetzt werden darf.

1. Dachverband Osteologie e. V. S3-Leitlinie Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei postmenopausalen Frauen und bei Männern ab dem 50. Lebensjahr. 2023. AWMF-Registernummer 183-001 2. Glüer CC, Engelke K, Thomasius F. Das Konzept des DVO-Frakturrisikorechners. Osteologie. 2023;32;123-32