Immer mehr deutschsprachige medizinische Einrichtungen, Praxen und Verbände stellen auf genderfaire Sprache um oder erwägen, dies zu tun. Das führt nicht selten zu Kritik. Wo diese Kritik empirisch prüfbare Zusammenhänge berührt, basiert sie häufig auf Fehlannahmen, wie eine Zusammenschau der aktuellen Forschungslage zeigt. Gleichzeitig bleiben noch etliche Fragen offen.

Neben einer Ablehnung genderfairer Sprache (GFL, "gender fair language"; Tab. 1) aus eher weltanschaulichen oder ästhetischen Gründen (für Beispiele siehe etwa [1, 2]) wird häufig auch sachbezogene Kritik an der GFL vorgebracht. Diese besteht in der Regel aus Variationen dreier Kernannahmen (vgl. [3]):

Tab. 1 Varianten genderfairer Sprache (GFL; Auswahl). Ziel der GFL ist, alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht zu repräsentieren bzw. anzusprechen. Zugrunde liegt die Annahme, dass Formen der deutschen Sprache aktuell nicht (ausreichend) genderfair sind.
  1. 1.

    GFL ist unnötig, da das Deutsche bereits eine geschlechtergerechte Sprache ist.

  2. 2.

    GFL ist wirkungslos - sie kann nichts dazu beitragen, etwaige Geschlechterungleichheiten abzumildern.

  3. 3.

    GFL gefährdet die Verständlichkeit von Sprache und Texten.

Bei allen drei Annahmen besteht derzeit ein Widerspruch zwischen Aussage und empirischem Befundbild.

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© Moritz Borchers

Über genderfaire Sprache wird zum Teil heftig gestritten. Empirisch betrachtet ist vieles weniger streitig als es der öffentliche Diskurs vermuten lässt.

Fehlannahme 1: Genderfaire Sprache ist unnötig

Diese Annahme speist sich vor allem aus linguistischen Überlegungen (vgl. [3]). Kern ist die theoretisch abgeleitete Annahme, dass die deutsche Sprache durch das generische Maskulinum (GM) Frauen und Männer gleichermaßen repräsentiert.

Das generische Maskulinum

Das GM lässt sich am besten an zwei Beispielen veranschaulichen (a = Singular; b = Plural).

  1. a.

    Ich fürchte, das ist ein Fall für den Psychiater.

  2. b.

    Die SARS-CoV-2-Pandemie hat gerade Krebspatienten vor große Herausforderungen gestellt.

Gemäß deutscher Grammatik beziehen sich Psychiater (a) und Krebspatienten (b) jeweils auf Frauen und Männer - das grammatische Geschlecht ist indes in beiden Fällen männlich: der Psychiater, der Krebspatient; deswegen nennt man dieses Maskulinum generisch, denn es soll ganz allgemein Personen bezeichnen, ohne dass etwas über das reale Geschlecht der so bezeichneten Personen ausgesagt wird. Sprachtheoretisch ist das GM also bereits genderfair. Aber funktioniert das auch in der Realität?

Wenn man untersucht, ob Frauen und Männer gleichermaßen mitgedacht werden, dürften sich gemäß Sprachtheorie die nachfolgenden genderfairen Versionen (c, d; vgl. Tab. 1) nicht von den vorherigen GM-Beispielsätzen (a, b) unterscheiden:

  1. c.

    Ich fürchte, das ist doch ein Fall für den/die Psychiater/-in.

  2. d.

    Die SARS-CoV-2-Pandemie hat gerade Krebspatienten und Krebspatientinnen vor große Herausforderungen gestellt.

Genau das lässt sich empirisch aber nicht belegen: Im Vergleich zu genderfairen Varianten führt das GM dazu, dass wir eher und schneller an Männer denken als an Frauen. Dieser Befund tritt relativ konsistent in Experimentalstudien mit unterschiedlicher Methodik, unterschiedlicher Qualität, unterschiedlichen Versuchskohorten und unterschiedlichen Sprachen auf (ein GM gibt es nicht nur im Deutschen) (siehe z. B. [4, 5, 6, 7]; für Reviews z. B. [8, 9, 10]; vgl. Infobox 1 "Das generische Maskulinum auf dem Prüfstand").

Linguistisch betrachtet sprechen diese Befunde dafür, dass sich das GM kognitiv nur schwer vom spezifischen Maskulinum unterscheiden lässt - also von der Form, die wir wählen, wenn wir gezielt auf eine männliche Person Bezug nehmen wollen [10].

Psychologisch gesprochen erhöhen und beschleunigen GM-Formen im Vergleich mit GFL die kognitive Verfügbarkeit von Männern - man spricht von einem "männlichen Bias" (mBias) [9].

Fehlannahme 2: Genderfaire Sprache ist wirkungslos

Etliche Studiendaten zeigen recht übereinstimmend, dass genderfaire Formulierungen für den Moment der Rezeption den mit dem GM assoziierten mBias reduzieren und die mentale Berücksichtigung von Frauen (und ggf. nichtbinären Personen) erhöhen können (z. B. [7, 11, 12, 13, 14]). Weniger klar ist zum jetzigen Zeitpunkt allerdings, inwieweit sich diese Effekte in länger andauernde bzw. realweltliche Effekte übersetzen. Grundsätzlich liegen aber auch hier erste Hinweise vor, nach denen GFL-Wirkungen über eine bloße kurzfristige Reduktion des mBias hinausgehen könnten:

Werden Stellenausschreibungen in GM beziehungsweise stereotyp maskulin formuliert, reduziert das die Motivation von Frauen, sich auf die betreffende Stelle zu bewerben [15, 16, 17]; ähnliches gilt möglicherweise auch für das Bewerbungsgespräch selbst [vgl. 18]. Und: Schon Kindergartenkinder halten traditionell männliche Berufe eher für erreichbar, wenn ihnen die Jobtitel genderfair präsentiert werden [19]. Zudem wurden Bewerberinnen bei gleich wahrgenommener Qualifikation als weniger geeignet eingestuft, wenn in der Stellenbeschreibung ein "Geschäftsführer" oder ein "Geschäftsführer (m/w)" gesucht wurde - im Vergleich mit der genderfairen Form "Geschäftsführerin/Geschäftsführer" [17].

In einer aktuellen israelischen Studie (n = 759) schnitten hebräischsprachige Frauen in einem universitären Mathematiktest besser ab, wenn sie mit femininen Anredeformen adressiert wurden als mit maskulinen. Männer erzielten dagegen unter femininer Ansprache weniger Punkte [20]. Auf Basis entsprechender Hinweise vermuten die Forschenden, dass Geschlechtsstereotype, aktiviert über die jeweiligen Anredeformen, die Effekte auf die Leistung erklären könnten (sog. "stereotype threat"). Dazu passt, dass Frauen und Männer der Aussage "Wissenschaft ist für Männer" eher zustimmten, wenn sie im GM angesprochen wurden - und auch, dass Frauen unter femininer Anrede ausdauernder an ihrem Test arbeiteten.

Dass GFL auch komplexere Einstellungen beeinflussen kann, zeigen die Ergebnisse einer schwedischen Studie (n = 3.393) [13]: Wurden Proband*innen experimentell dazu gebracht, das 2015 in die schwedische Sprache aufgenommene genderneutrale Pronomen "hen" zu benutzen, führte das im Vergleich zum maskulinen "han" ("er") zu einer stärkeren mentalen Repräsentanz von weiblichen und nichtbinären Personen und auch zu positiveren Einstellungen gegenüber LGTBQ (Lesbian/Gay/Transsexual/Bi/Queer)-Personen.

Auch wenn es absurd wäre zu erwarten, dass der Gebrauch von GFL Geschlechterungleichverhältnisse in allen Lebensbereichen im Alleingang heilen kann, spricht die derzeitige Evidenz eher dafür, dass sie realweltliche Veränderungen zumindest begünstigen könnte - ein Effekt, der möglicherweise erst langfristig zum Tragen kommt [vgl. 22] (Abb. 1).

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© Moritz Borchers

Modell zu hypothetischen Beziehungen zwischen genderfairer Sprache (GFL) und realen Geschlechterungleichverhältnissen (GUV; vgl. [9, 22, 29]). Dass das generische Maskulinum (GM; im Unterschied zum femininen oder neutralen Genus) alle Geschlechter repräsentieren soll, ist Ausdruck bzw. Folge realer GUV (also der Tatsache, dass Männer in Macht-, Entscheidungs- und vielen anderen Lebensbereichen dominieren, vgl. [22]); das GM wiederum erhöht die kognitive Verfügbarkeit (kV) von Männern, was auch Geschlechterstereotype aktivieren kann. GFL kann diese höhere kV von Männern reduzieren (roter Pfeil). Das könnte ultimativ auch reale GUV verringern (durch Schwächung der positiven Feedbackschleife; grauer Pfeil rechts), z. B., weil die nun gestärkte kV von Frauen und nichtbinären Personen deren beruflichen Aspirationen, Bewerbungen und Erfolgen zugutekommt. Die Stärke der Pfeile repräsentiert grobe Annahmen über die realen Effektgrößen: GFL-Effekten wird also eine deutlich geringere Stärke zugemessen als Änderungen in realen GUV, die sich gemäß Modell am stärksten auf die kV von Männern auswirken, wie der dicke schwarzer Pfeil links zeigt; durch zunehmende Geschlechterparität (in Beruf, Politik, Kultur etc.) sollte dieser indes weiter dünner werden.

Fehlannahme 3: Genderfaire Sprache kompromittiert das Textverständnis

Reduziert genderfaire Sprache die Verständlichkeit von Texten? Diese Fragestellung lässt sich unterschiedlich operationalisieren: Wissenschaftler*innen können unterschiedlichen, randomisierten Gruppen denselben Text in genderfairen und nicht genderfairen Varianten vorlegen und sie bitten, die Verständlichkeit der Texte auf einer Skala zu bewerten. So lassen sich Unterschiede im subjektiven Textverständnis erfassen. In vielen entsprechenden Untersuchungen fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen genderfair und nicht genderfair formulierten Texten [11, 23, 24]. In einigen Studien wurden (bestimmte) genderfaire Textformen jedoch subjektiv als weniger verständlich bzw. als weniger gut lesbar beurteilt ([25]; vgl. [23]).

Man kann aber auch versuchen, das Textverständnis objektiver zu erfassen und etwa nach der Textlektüre einen Wissens- bzw. Verständnistest vorlegen. Hier schneiden GFL-Texte nach aktueller Datenlage nicht schlechter ab als nicht genderfair formulierte Versionen ([23]; vgl. [26]). Zum Beispiel hat ein Team um Friederike Braun, Kiel, bei Versuchspersonen (n = 86) mittels Test erfasst, wie gut sie den Beipackzettel zu einem fiktiven Medikament verstanden haben [27]. Dafür lasen die Teilnehmer*innen zunächst den Beipackzettel im GM (Beispiel: "Diabetiker und Patienten mit Bluthochdruck sollten vor der Behandlung mit SANOXOL® ärztlichen Rat einholen"), den Beipackzettel mit Beidnennung + Neutralisierung ("Diabetikerinnen, Diabetiker und Personen [...]") oder den Beipackzettel mit Binnen-I + Neutralisierung ("DiabetikerInnen und Personen [...]").

Während es bei Frauen keinen signifikanten Effekt der Textbedingung auf das Textverständnis gab, zeigten Männer die schlechteste Leistung in der Bedingung "GM", gefolgt von den Bedingungen "Beidnennung" und "Binnen-I". Konträr dazu empfanden Männer in dieser Studie die Verständlichkeit als signifikant höher, wenn der Beipackzettel im GM formuliert war (im Vergleich zu beiden GFL-Bedingungen). Bei Frauen trat dieser Effekt nicht auf. Die Forschenden werten die Ergebnisse daher auch als Hinweis, dass es wichtig ist, (zusätzlich) objektivierbare Parameter heranzuziehen, wenn die Verständlichkeit von GFL angemessen beurteilt werden soll.

In der Gesamtschau liegen derzeit also auch keine Belege dafür vor, dass GFL das Textverständnis bedeutsam einschränkt.

Kritische bzw. offene Punkte

  • Die empirisch ermittelten Effekte von GM und GFL reflektieren letztlich Wahrscheinlichkeiten: Genauso wenig, wie das GM in puncto Gleichstellung immer "versagt", kann die GFL stets erfolgreich sein. Entsprechend treten nicht in allen Studien und unter allen Bedingungen und bei allen Personen immer alle Effekte auf (vgl. [8, 25]). Weitere Forschung ist nötig, um die Wirksamkeit und Verständlichkeit von GFL in unterschiedlichen Kontexten und Personengruppen weiter abzusichern. In dieser Hinsicht sollten auch folgende potenzielle Einflussfaktoren noch mehr als bisher berücksichtigt werden: kognitive Fähigkeiten, Alter, Bildungsniveau, Muttersprache (ja/nein).

  • GFL kann im Einzelfall dazu führen, dass der reale Anteil von Frauen in Bezugsgruppen überschätzt wird (vgl. [11]).

  • Bestimmte GFL-Formen, z. B. Schrägstrichvarianten [25], werden in vielen Studien ästhetisch als schlechter bewertet als die GM-Form. Dass sich das mit zunehmender Exposition ändern könnte, ist kognitionspsychologisch sehr plausibel (vgl. [9, 28]), aber nicht garantiert.

  • Eine der derzeit beliebtesten GFL- Varianten, das Gendersternchen, wurde in bisherigen Studien noch nicht berücksichtigt. Extrapoliert man die verfügbaren Daten, ist es unwahrscheinlich, dass diese GFL-Variante systematisch weniger wirksam ist als bereits untersuchte. So oder so sind aber Studien dazu nötig.

  • Mit Ausnahme von Paarform und Neutralisierung ist GFL eine Herausforderung für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen, weil Screenreader diese (noch) nicht adäquat vorlesen können.

  • Es liegen noch keine Befunde zur gesprochenen GFL vor (auch dort gibt es diverse Varianten).

Fazit für die Praxis

Unnötig, unwirksam, unverständlich - empirisch lassen sich diese Hauptkritikpunkte an der GFL gegenwärtig nicht belegen. Vielmehr kann GFL die kognitive Inklusion von Frauen und nichtbinären Personen erhöhen, die sonst durch das GM im Vergleich zu Männern weniger gut repräsentiert werden; auch kompromittiert GFL nicht grundsätzlich das Textverständnis.

Welche GFL-Form die bestmögliche ist (und, ob es eine einzige für alle Kontexte überhaupt geben kann), ist unter empirischen Gesichtspunkten derzeit unklar. Ein pragmatischer Umgang mit dieser "Datenlücke" könnte darin bestehen, unterschiedliche GFL-Formen zu mischen. Dafür spricht zudem, dass auch grammatisch geschlechterneutrale Begriffe mitunter einen mBias auslösen, weswegen die Neutralisierung als alleinige GFL-Strategie möglicherweise weniger effektiv sein könnte (vgl. [20]).

Dies ist eine gekürzte Version des Beitrags aus InFo Hämatol Onkol. 2021; 24: 63-7. Sie finden den Originaltext hier: https://doi.org/gk4k