Die Bombennächte hatten sich zweifellos ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelten sich in der DDR und in der BRD jedoch unterschiedliche Erinnerungskulturen um die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte während des Zweiten Weltkriegs (von Benda-Beckmann 2015, 23). Während der Westen die Leiden der Bombenopfer in der Öffentlichkeit zunächst weit hinter das Schicksal der Vertriebenen stellte, rückte der Osten seine Opfer schon bald in den Vordergrund kultureller Debatten um die Bombardements, die – ganz im Sinne der Nazipropaganda der letzten Kriegsjahre – mit „Terrorangriffen“ (Arnold 2011, 15) gleichgesetzt wurden. Auch wenn Westdeutschland den Bombenopfern erst verzögert Aufmerksamkeit zukommen ließ, veröffentlichte die BRD – ähnlich wie die DDR – regelmäßig ausführliche Erinnerungsschriften über die Bombenangriffe. In beiden Teilen Deutschlands beruhten viele dieser Berichte auf persönlichen Erlebnissen von Amateurhistorikern und Privatleuten, die den Diskurs bis in die Siebzigerjahre dominierten (von Benda-Beckmann 2015, 134). Danach begann allmählich eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Luftangriffe, die von Historikern wie Horst Boog im Westen und Olaf Groehler im Osten geprägt wurde. In der BRD stellten die historischen Aufarbeitungen einen Gegenpol zur frühen Auseinandersetzung mit der Schuldfrage dar, während sie im Osten zur Identitätsstiftung der DDR-Bürger beitrugen, die sich als doppelte Opfer faschistischer und imperialistischer Zerstörungskraft verstanden (von Benda-Beckmann 2015, 179). Auch nach der Wende erlahmte das Interesse an den Luftkriegen nicht, aber zusätzlich rückte eine gesamtdeutsche Auseinandersetzung mit dem Thema Schuld ins allgemeine Interesse.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfolgte durch eine Reihe literarischer Werke ein Paradigmenwechsel, der den Fokus nun verstärkt auf Opfergeschichten der deutschen Zivilbevölkerung lenkte. Mit der populären Neuauflage von Marta Hillers’ Autobiografie Eine Frau in Berlin (2003) wurde das Thema der Massenvergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal aufgegriffen; damit wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Frauen als Vergewaltigungsopfern der Roten Armee deutlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt als in den Jahren zuvor.Footnote 1 Wenig später begannen außerdem Debatten über sexuelle Gewalt, die nicht nur von Rotarmisten, sondern auch von Soldaten der westlichen Besatzungsmächte ausgegangen waren.Footnote 2 Neben den Opfern der Massenvergewaltigungen bekamen auch die Vertriebenen eine neue Plattform, was sich nicht zuletzt auf den Erfolg von Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (2002) zurückführen lässt. In Bezug auf den Luftkrieg sorgte W. G. Sebalds 1999 publizierter Essay Luftkrieg und LiteraturFootnote 3 unter anderem für viel Aufsehen, sodass der Autor und Literaturkritiker irrtümlicherweise gar als Vorreiter der Luftkriegsdebatte gefeiert und sein Essay zum Standardwerk über das Thema Bombenhagel auf deutsche Städte erklärt wurde. Betrachtet man die Entwicklung des Luftkriegs-Diskurses nach 1945 wird allerdings klar, dass Sebald den Diskurs keineswegs einleitet, sondern lediglich auf populäre Weise weiterführt (Arnold 2011, 15).Footnote 4

Im Zentrum der Sebaldschen Kritik stehen deutsche Nachkriegsliteraten, welche seiner Ansicht nach Themen wie die Flächenbombardements und das Leiden der Zivilbevölkerung überwiegend verschwiegen.Footnote 5 Zudem seien die Darstellungen der Autoren in Hinblick auf die Luftangriffe qualitativ unzureichend (Sebald 2003, 82). Sebalds favorisierte literarische Darstellungsform verlangt nach einem „künstlichen“ (Sebald 2003, 35) Blick auf den Bombenhagel, der eine Mischung von autobiografischer Erfahrung und erzwungener Distanz zu sein scheint (Sebald 2003, 35). In seinen Ausführungen, die er mit einer sicher unzulänglichen Bibliografie von literarischen Texten zum Thema Luftkrieg abschließt, äußert er sich über Vergeltung nur am Rande. Seiner Meinung nach wirke der Roman „unbeholfen und überdreht“ (Sebald 2003, 110). Sebald steht mit seiner ablehnenden Haltung zu Ledigs Roman, der 1956 kurz nach Ledigs literarischem Durchbruch mit Stalinorgel erschien, nicht allein da. Neunundsechzig Minuten umfasst die erzählte Zeit dieses Werkes, in dem verzweifelte Zivilisten, Piloten, Rotarmisten, Ärzte, Pflegerinnen und Flakhelfer zu Objekten der Kriegsmaschinerie werden. Ledigs unkonventionelle Darstellung körperlicher Zerstörung, die den Menschen nur noch als Materie wahrnimmt, macht die individuellen Qualen seiner Protagonisten greifbar. Das grausame Sterben, das Ledig detailliert schildert, überforderte allerdings die Nachkriegsgesellschaft der fünfziger Jahre und passte nicht in den Wiederaufbaugeist: „Aber im Bemühen, das Grauen eines Terrorangriffes auf die wehrlose Zivilbevölkerung möglichst drastisch und vollständig zu zeigen, verläßt er den Rahmen des Glaubwürdigen und Zumutbaren“ (Hornung 1956, 2). Trotz aller negativen Reaktionen schafft es Vergeltung dennoch, einige Kritiker, wenn auch erst Jahrzehnte später, von seiner Qualität zu überzeugen. Allen voran steht Volker Hage,Footnote 6 der im Jahre 2005 mit seinem Werk Zeugen der Zerstörung eine Gegendarstellung zu Sebalds Kritik an der Luftkriegsliteratur veröffentlicht. Während Sebald in Luftkrieg und Literatur mit der Art und Weise der Darstellungsart der Bombenangriffe hadert, geht es Hage um die Vielfalt der Luftkriegsliteratur und um persönliche Erfahrungen von Augenzeugen. Hages Lob für Ledigs Roman, den er als den ausführlichsten und ehrlichsten Bericht über den Luftkrieg bezeichnet, verschafft dem Außenseiterwerk und seinem Autor einen verspäteten Erfolg, den Gert Ledig jedoch nicht mehr erlebte: „So klar, so hart, so unverblümt hatte vorher noch niemand vom Luftkrieg erzählt, ganz ohne Schnörkel, mit einem Pathos der Nüchternheit“ (Hage 2003, 44). Man kann annehmen, dass Ledig, der die Angriffe selbst miterlebt hatte, mit seiner Erzählweise an die Körpererfahrungen von Augenzeugen anknüpft. Bezeichnenderweise kommentiert Autor Dieter Forte Ledigs Werk in Hages Zeugen der Zerstörung mit den Worten: „Ich kann schwören, so war es“ (Hage 2003, 160). Auch Walter Wappneski bestätigt, dass der Körper während eines Bombenangriffs den Menschen unkontrollierbar beherrscht: „ich habe erlebt, wie alterprobten Frontsoldaten die Zähne klapperten – nein, nicht als Metapher, sondern als physischer Reflex auf die grausame Situation einer Bedrohung, der man blind und gelähmt ausgeliefert war, keinen Gegner erfassend, ohnmächtig zu einer Geste der Gegenwehr“ (Wapnewski 2003, 118).

Im Diskurs über den Luftkrieg sind Frauen als Hauptleidtragende des Bombenhagels nur selten zu einem Thema geworden; besonders die Sebald-Debatte aus dem Jahre 1999 klammert sie als Opfergruppe nahezu aus. Dieter Forte zeigt sich darüber im Gespräch mit Volker Hage schockiert und überrascht: „Darüber spricht seltsamer Weise keiner. Wieso ist das kein Thema? Warum darf man darüber nicht reden?“ (Hage 2003, 163). Mary Nolan äußert sich diesbezüglich in ihrem Artikel „Germans as Victims during the Second World War“, dass Frauen zum einen keine starke Lobby hatten, um ihre Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu bringen, und dass Männer zum anderen nicht mit ihren Schuldgefühlen konfrontiert werden wollten, wodurch weibliches Leiden systematisch als Thema unterdrückt wurde: „Women were less well positioned to publicize their experiences or demand an official acknowledgment of their suffering. Men may have been reluctant to dwell on traumatic events which they had not experienced but had helped to bring about and from whose consequences they were unable to protect those at home“ (Nolan 2005, 20).

In dieser Arbeit möchte ich eine Lesart von Ledigs Vergeltung vorstellen, die das weibliche Leiden in den Vordergrund rückt. Hier wende ich mich der zwölfteiligen Geschichte einer jungen Frau namens Maria Weinert zu, die in einem verschütteten Keller während der Luftangriffe von einem Mann vergewaltigt wird. Weinerts Geschichte ist zwar nur eins von vielen in den Roman eingebetteten Einzelschicksalen, die das Leiden der Zivilbevölkerung, der Flak-Soldaten und Bomberpiloten veranschaulichen, aber dennoch ist Weinerts Geschichte einzigartig: Durch ihre Geschichte gelingt es Gert Ledig als wahrscheinlich einzigem Schriftsteller der Nachkriegszeit, den Bombenkrieg und die sexuelle Gewalt in einem Text miteinander zu verweben und somit den doppelten Opferstatus der Frauen anzuerkennen. Bisher gilt die oben genannte Autobiografie Eine Frau in Berlin als eine der wichtigsten Dokumente über die Massenvergewaltigungen nach 1945. Zwar gab es vor der Neuauflage eine Reihe von Werken aus dem Genre der Vertriebenenliteratur, die die sexuelle Gewalt nach 1945 ansprachen, aber es blieb in diesen Texten meist bei verhaltenen Andeutungen. Eine differenzierte Auseinandersetzung, die Marta Hillers liefert, rückt das Leiden durch Hillers’ einzigartige literarische Komposition und durch ihre ausführlichen Schilderungen eines einzelnen Frauenschicksals in den Vordergrund und dringt so dem Leser ins Bewusstsein. Meines Erachtens ragt Ledigs Vergeltung ebenfalls in der Schilderung weiblicher Erfahrung hervor, da er die Leidensgeschichte der jungen Maria Weinert als systematische Zerstörung ihres Körpers – sowohl durch die Kriegsmaschinerie als auch durch die sexuelle Gewalt – beschreibt. In diesem Sinne widerspreche ich der Aussage Gregor Streims, der den Roman als „ein Reigen von Angst, Schmerzen und Hinfälligkeit, der keinen Unterschied zwischen Angreifern und Angegriffenen, Soldaten und Zivilisten, Männern und Frauen […] kennt“ (Streim 2005, 307, meine Hervorhebungen). Die junge Frau ist meiner Ansicht nach bei Ledig sowohl Materie (oder entmenschlichte Masse, die es durch Kriegstechnik zu zerstören gilt) als auch männliches Sexualobjekt, wodurch sich Weinerts Leidensweg von dem der anderen Figuren (vor allem der männlichen) unterscheidet. Zwar stellt Ledig in Vergeltung eine Vergewaltigung dar, die am Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit für viele Frauen zur bitteren Realität wurde, aber er macht die sexuelle Gewalt nicht zum stereotypen Gewaltverbrechen der (sowjetischen) Besatzungssoldaten: Hier vergewaltigt ein Deutscher die junge Maria Weinert, für die die sexuelle Gewalt zum Bestandteil der Kriegsrealität wird.

Ledig bedient sich einer unkonventionellen Erzählweise, mit der er uns die letzten Stunden seiner Protagonistin vor Augen führt. Obwohl der Autor die junge Frau zur Zielscheibe sexueller und anderweitiger körperlicher Attacken macht, berichtet der Erzähler über ihr Schicksal – ganz im Stil des gesamten Romans – ohne jedes Mitleid. Der Erzähler wirkt stattdessen distanziert und lenkt seinen intimen Blick schockierend direkt auf ihren Körper, wobei seine aufdringliche Perspektive die Privatsphäre bei weitem überschreitet. Geradezu voyeuristisch legt er ihre Leiden offen und führt ihre körperlichen Kontrollverluste wie anhaltendes Schreien, lautes Herzklopfen, Stolpern und unwillkürliches Urinieren vor. Ledig verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, was mit dem (weiblichen) Körper während der Angriffe geschieht: Er wird zur reinen Materie degradiert, die es zu zerstören gilt. An dieser Stelle möchte ich auf Laura Tanners (1994) erschienenes Werk Intimate Violence verweisen. Tanner beschäftigt sich bei der Analyse verschiedener Texte aus dem 20. Jahrhundert, in denen es um Vergewaltigung und Folter geht, vor allem mit der Rolle des Lesers. Tanner will den Leser dazu motivieren, die textinhärenten, gewaltverherrlichenden Imaginationen des Erzählers zu entlarven und ihnen zu widerstehen, um nicht selbst als Teil dieser künstlich geschaffenen Realität zu enden: „Unless we assert our right to read representations of violation critically, skeptically, oppositionally, we become the victims of a narrative force that our own participation as readers helps to create“ (Tanner 1994, 114). Tanner verurteilt somit Autoren, die patriarchale Machtansprüche in ihren Texten auf geschickte Weise zu normalisieren versuchen. Die Autorin plädiert allerdings nicht nur wie viele vor ihrFootnote 7 für ein feministisches, oppositionelles Leseverhalten. Tanner ermutigt den Leser ebenfalls, sich auf den Text bewusst einzulassen, um somit im Detail erfassen zu können, mit welchen Mitteln der Erzähler die Perspektive des Lesers in Richtung auf das Geschehen lenkt. Dieses Einlassen auf den Text spielt bei der Analyse von Ledigs Vergeltung eine große Rolle, um die verschiedenen Stufen der Brutalität während der Luftangriffe nachvollziehen zu können. Anders als Tanner in ihrer Analyse angloamerikanischer Texte aus dem 20. Jahrhundert sehe ich für Ledigs Vergeltung keine Notwendigkeit, den Text als Teil einer patriarchalen Gewaltverherrlichung und Normalisierung derselben abzutun. Ledig macht in Vergeltung die nüchterne Zerstörungskraft des Bombenhagels zum eigentlichen Erzähler. Der Leser wird weder von einem Erzähler geführt, noch kann er sich in Opposition zu ihm positionieren (Tanner 1994, 103). Ich möchte hier die Fragestellung wagen, ob Ledig uns gerade durch den Bruch mit traditionellen Erzähl-und Identifikationsmustern die Realität einer Bombennacht näher bringt – näher, als es emotionalere und subjektivere Erzählungen aus der Nachkriegszeit konnten. Mit anderen Worten: Ist unsere Rolle des mitleidslosen Beobachters, in die wir von Ledig gezwungen werden, eine gelungene, vielleicht sogar nahezu authentische, Zeitreise zurück in den Bombenhagel? Ist die Normalisierung von Gewalt in diesem Sinne dann eine notwendige, wenn auch grausame, Wiedergabe der Wirklichkeit? Vielleicht bietet uns Vergeltung die Chance, gerade durch unser Einlassen auf eine ernüchternde Realität, die Bombennächte in all ihren grausamen (und auch sexuellen) Facetten zu begreifen, um das Leid, dem vor allem Frauen ausgesetzt waren, durch die Protagonistin Maria Weinert endlich voll zu erfassen.

Um den Leidensweg Maria Weinerts anschaulich zu analysieren, habe ich mich für einen dreiteiligen Interpretationsaufbau entschieden, der die einzelnen Etappen des psychischen, physischen und sexuellen Missbrauchs des Mädchens in den Vordergrund rückt. In „Der Abstieg des Mädchens: Körperlichkeit als zentrales Merkmal der Erzählung“ gehe ich spezifisch darauf ein, mit welchen Mitteln der Erzähler Distanz zu seinen Figuren erzeugt. Nicht nur der reservierte Erzählstil als auch die Handlung selbst, die Maria zur (ungewollten) Komplizin bei dem tödlichen Unfall einer alten Dame macht, rufen bei dem Leser eine eher verhaltene, fast misstrauische Attitüde gegenüber dem Opfer hervor. In „Der Keller: Körperliche und seelische Verletzungen“ beschäftige ich mich mit dem körperlichen Kontrollverlust des weiblichen Opfers, das unter der ansteigenden Aggression der Kellerinsassen besonders zu leiden hat. Die Verrohung der Deutschen und ihre Gewaltbereitschaft untereinander sind, wie ich in diesem Teil meiner Analyse verdeutlichen will, eng mit dem Diskurs über den Luftkrieg verbunden. Gefühle der Angst finden bei Maria vornehmlich körperlichen Ausdruck durch Stolpern, hysterisches Schreien und unwillkürliches Urinieren, und stehen somit einer verbalen Artikulationsmöglichkeit, durch die Maria Widerstand gegen die Aggressivität leisten könnte, im Weg. Als letzter Analyseteil folgt „Die Höhle: Der weibliche Körper als Objekt sexueller Gewalt“. In dieser letzten Etappe im Leben der Protagonistin ist ihr Körper, der hier zwischen dem Geröll eingeklemmt und bewegungsunfähig ist, nun völlig dem Willen des Mannes ausgeliefert. Fast schleppend und auf das kleinste Detail bedacht, berichtet der Erzähler in „slow motion“Footnote 8 (Lawson 2002, 36) von der physischen und psychischen Tortur der Protagonistin. Ledig verweist in diesem letzten Teil auf den moralischen Verfall der Figuren, der mit der kompletten Zerstörung der Zivilisation einhergeht.

Der Abstieg des Mädchens: Körperlichkeit als zentrales Merkmal der Erzählung

Den zwölf Episoden, die zu der Vergewaltigung und dem Tod des Mädchens führen, ist – typisch für die Konzeption des Gesamtromans – eine Kurzbiografie des Opfers vorangestellt. Die junge Frau heißt Maria Erika Weinert, die mit ihrem knappen Lebenslauf, geschrieben aus der Ich-Perspektive, dem Leser einen Einblick in ihr kurzes Leben gibt. Aufgrund ihres Geburtsdatums kann der Leser annehmen, dass Maria zur Zeit der Flächenbombardements ungefähr zwanzig Jahre alt ist. Der Unterton der Kurzbiografie klingt sehnsüchtig und naiv. Gerne hätte sie tanzen gelernt, ihr größtes Erlebnis war eine Reise ans Meer, und unvergessene Bewunderung erntete Maria in einer Schulaufführung als Schneewittchen, das symbolhaft für mädchenhafte Unschuld und Naivität steht. Marias Ausführungen unterstreichen ebenfalls ihre sexuelle Unerfahrenheit. Sie schrieb einem Soldaten, den sie nie persönlich getroffen hatte, ein Jahr lang Briefe. Nichts deutet darauf hin, dass sie sexuelle Kontakte zu ihm oder anderen Männern hatte. Ledig lässt es durch diesen posthumen persönlichen Einblick in Marias Leben zu, dass der Leser sich mit dem Opfer identifizieren, beziehungsweise mit ihm sympathisieren kann. Sobald der Erzähler allerdings die Kontrolle über Marias Schicksal übernimmt, wechselt die Erzählperspektive in die dritte Person und der Leser wird zum Beobachter. Das schafft eine unmittelbare Distanz zu der jungen Frau, die von nun an nur noch unpersönlich „das Mädchen“Footnote 9 genannt wird. Die Namensgebung unterstreicht darüber hinaus Marias Kindlichkeit und degradiert sie in eine untergeordnete Rolle den anderen (älteren) Protagonisten gegenüber, die ebenfalls nüchtern mit „die Witwe“, „die Kranke“ oder „der Mann“ betitelt werden. Sexuelle Andeutungen und Aggressionen, denen das Mädchen von nun ausgeliefert wird, bestimmen die Erzählung und stehen im Gegensatz zu Marias persönlichen, naiven Worten und ihrer sexuellen Unversehrtheit. Auch ihre Unschuld bekommt (nicht nur auf sexueller Ebene) einen Riss, denn Maria wird zur Komplizin bei dem Tod einer alten Dame, wodurch auch auf inhaltlicher Ebene eine anfängliche emotionale Annäherung des Lesers an Maria abrupt beendet wird. Es gibt darüber hinaus auch keinen Erzähler im klassischen Sinne, der dem Leser Identifikationspotenzial bieten könnte und der die grauenvollen Ereignisse teleologisch erklärt. Die Zerstörung ist, laut Colette Lawson, das Subjekt der Erzählung, wodurch Menschen zu reinen Objekten degradiert werden (Lawson 2002, 35). Diese Art der „Offhand manner“-Erzählung (Tanner 1994, 100), wie sie auch in anderen Gewalttexten des 20. Jahrhunderts zu finden ist, machen es laut Tanner schwer für den Leser, in Beziehung zu einem Text zu treten. Der Erzähler, der normalerweise eine ordnende Funktion der Ereignisse übernimmt, bleibt anonym und außen vor. Er ist nicht greifbar und degradiert den Leser in die Rolle des Beobachters, der die Ereignisse nicht mehr kritisch hinterfragt und der letztendlich die Gewalt normalisiert.Footnote 10

Bereits in der ersten Szene befindet sich das Mädchen in einer Stresssituation. Gemeinsam mit einer Witwe trägt das Mädchen eine an Wassersucht leidende alte Dame eine Treppe hinunter, um sie vor dem Bombenangriff im Keller des Hauses in Sicherheit zu bringen. Der Erzähler lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die körperlichen Ausdünstungen des Mädchens, welches unter der Anstrengung leidet: „Das Mädchen fasste sich an die Stirn. Der Schweiß rann über ihren Rücken” (17). Der Status einer selbstbestimmten Protagonistin wird dem Mädchen durch den Fokus auf ihren Körper von Beginn an genommen. Wir erfahren nicht, was in dem Mädchen vor sich geht, denn wie bei allen Protagonisten in Vergeltung lernt der Leser die Figuren nur oberflächlich kennen.Footnote 11 Bei den Beschreibungen des Mädchens ist der Erzähler stets darauf bedacht, selbst kleinste Details, wie eine scheinbar belanglose Entblößung bei einer Bewegung der Protagonistin, dem Leser ausführlich darzulegen: „Das Mädchen lehnte sich nach vorn. Der Träger des Kleides rutschte über ihre Schulter. Er fiel auf die Knochen am Hals“ (17). Dieses Detail sorgt für eine sexuell aufgeladene Atmosphäre; Bilder der nackten Haut zeichnen sich vor dem inneren Auge des Lesers ab und führen dazu, die junge Frau als reizvolles Wesen wahrzunehmen. Verstärkt wird diese Sexualisierung des Mädchens durch den körperlichen Verfall der alten Dame, die „kaum Kraft zum Atmen“ hat (16) und verzweifelt mit ihrem „aufgedunsenen Arm“ (17) um die Aufmerksamkeit des Mädchens und der Witwe kämpft. An dieser Stelle möchte ich kurz auf Elaine Scarrys Theorien in ihrem Werk The Body in Pain verweisen. Sie beschäftigt sich mit der schwindenden Macht eines Menschen, wenn er nur noch als Körper wahrgenommen wird. In Vergeltung sehen wir genau diese Problematik. Der Erzähler reduziert das Mädchen und die Kranke auf ihre Körper. Die Witwe, über deren Körper wir allerdings keinerlei Informationen bekommen und die sozusagen nahezu körperlos im Gegensatz zum Mädchen erscheint, bestimmt die Situation: „for power is in its fraudulent as in its legitimate forms always based on distance from the body“ (Scarry 1985, 46).

Die Witwe ist folglich ein Gegenpol zu dem Mädchen; sie ist älter und erfahrener als die Zwanzigjährige und macht ihre dominierende Präsenz in erster Linie während eines Disputs um die alte Dame deutlich. Sie will die Kranke auf der Treppe zurücklassen, um sich im Luftschutzkeller in Sicherheit zu bringen: „Lassen wir sie sitzen“ (17). Das Mädchen willigt in das Vorhaben der Witwe zuerst ein, überlegt es sich aber dann anders und fordert die Frau auf, den Stuhl wieder anzuheben. Wir sehen, dass dem Mädchen der Mut fehlt, sich von vorne herein einer Erwachsenen konsequent entgegenzustellen. Sein Sträuben gegen das Vorhaben der Frau ist schwach, nicht bestimmt. Darüber hinaus appelliert das Mädchen mit den folgenden Worten an die moralische Verantwortung, die sie gegenüber der alten Dame tragen: „,Aber es wäre doch grausam!”’(18). Der im Konjunktiv formulierte Appell an die Witwe wirkt wie eine Bitte und nicht wie ein klares Argument gegen das Zurücklassen der alten Frau. Hier, wie in den später folgenden Episoden, zieht das Mädchen konversationstechnisch den Kürzeren. Niemals schafft es die weibliche Hauptfigur, sich gegen die Amoralität der anderen Protagonisten erfolgreich durchzusetzen, und ihre Meinung erfolgreich und lautstark zu vertreten. Wer im Endeffekt an dem Tod der alten Dame, die von ihrem Stuhl in die Tiefe stürzt, Schuld ist, bleibt unklar: „Das Mädchen und die Frau bückten sich gleichzeitig. Sie hoben den Stuhl auf; er wankte. Ein Stöhnen kam aus der Brust der Kranken, dann stürzte sie vorwärts“ (18). Der Erzähler hält sich mit Absicht bedeckt und kommentiert nur den wankenden Stuhl. Da ich dem Mädchen durch seine Reduzierung auf den Körper eine schwache und keine berechnende Rolle beimesse, kommt eine klare Schuld des Mädchens für mich nicht in Frage. In der Sekundärliteratur hingegen wird das Mädchen unter anderem von Mary Nolan und Colette Lawson der Mittäterschaft an einem Verbrechen bezichtigt (Nolan 2005, 33; Lawson 2002, 38). Meines Erachtens wird diese Lesart der komplex konstruierten Leidensgeschichte des Mädchens nicht gerecht. Fakt ist allerdings, dass der Tod der alten Dame einen Schatten auf die vorher unbescholtene Protagonistin wirft, da sie bei diesem Unfall zugegen war und sowohl ihre Schuld als auch ihre Unschuld im Ermessen des Lesers liegen. Ledig setzt den Tod der alten Frau an den Anfang der Erzählung, um die komplizierten Machtgefüge und Umstände, die auf das Mädchen im Laufe ihres letzten Leidensweges einwirken und denen es nicht gewachsen ist, zu betonen. Die alte Frau, die inmitten des Bombengetöses in dem Treppenhaus umkommt, wirkt wie eine Vorbotin des Schicksals. Sie ist aufgrund ihrer Krankheit in ihrem Körper gefangen, wie auch das Mädchen zur Gefangenen ihres Leibes in den Kellerepisoden wird. Aufgrund ihrer Krankheit kann sich die alte Dame nicht artikulieren und ihr Leben wird somit fremdbestimmt. Der Tod der alten Dame ist grausam und grotesk zugleich: „Die Treppe hinunter, Absatz um Absatz, mit dem Kopf voran. Ihr Körper schlug gegen die Stufen. Erst am nächsten Fenster blieb sie, die Beine gespreizt, liegen“ (18). Ihre gespreizten Beine in der Todespose muten anzüglich an, wodurch der Erzähler den sexuellen Unterton, mit dem in erster Linie das Mädchen bedacht wird, noch einmal unterstreicht. Sexualität und Tod sind hier auf groteske Weise miteinander verbunden und werden auch in den letzten Lebensminuten des Mädchens eine Rolle spielen.

Der Keller: Körperliche und seelische Verletzungen

In Ledigs Vergeltung wird die Verrohung der Bombardierten, die sich in steigender Gewaltbereitschaft und in einer regelrechten Abstumpfung gegenüber dem Leid Anderer äußert, besonders dramatisch in den Vordergrund gerückt. Nimmt man den Diskurs der Luftkriegsliteratur genauer unter die Lupe, fällt auf, dass neben Vergeltung auch andere fiktionale Texte und historische Abhandlungen auf die zunehmende Verrohung der Zivilbevölkerung eingehen. In Alexander Kluges Erzählung Der Luftangriff auf Halberstadt ist die Kinobesitzerin Frau Schrader ein gelungenes Beispiel für einen nüchternen, fast gleichgültigen Umgang mit den entstellten Leichen nach einem Angriff: „Frau Schrader wollte wenigstens hier Ordnung schaffen, legte die gekochten und […] unzusammenhängenden Körperteile in die Waschkessel der Waschküche“ (Kluge 2008, 10). Weitere Protagonisten in Kluges Erzählung ergötzen sich bereits an der reinen Vorstellung eines bevorstehenden Luftangriffs, da dieser niedere Instinkte der Sensationslust befriedigt: „Es mußte für Karl Wilhelm von Schroers immer möglichst viel los sein. Er war ein Beutejäger, was starke sinnliche Schrecknisse betrifft“ (Kluge 2008, 65). Der Historiker Nicolas Stargardt betont, dass viele Menschen in den letzten Kriegsjahren Missgunst gegenüber denen empfanden, die die Angriffe (noch) nicht erleben mussten: „[…] die Arbeiter im Ruhrgebiet wünschten sich, dass die Flugzeuge Berlin heimsuchten […]“ (Stargardt 2003, 65). Mary Nolan bringt die Vielfalt an spontanen Reaktionen und erbitterten Emotionen, die die Luftangriffe in den Menschen auslösen, meines Erachtens am besten auf den Punkt: „Memoir literature vividly decribes suffering, terror, resignation, and fatalism, but also gallows humor and the mad pursuit of hedonistic pleasure“ (Nolan 2005, 33). Ledig versteht es, die verschiedenen Facetten des seelischen Umgangs mit dem Bombenkrieg unter anderem in der Leidensgeschichte des Mädchens darzustellen. Die Episoden, die sich nach dem Treppensturz der alten Dame in dem Keller abspielen, kreieren eine feindselige Atmosphäre. Als schwächstes Glied unter den Hausbewohnern wird das Mädchen zum Spielball der Anderen, denen es hilflos ausgesetzt ist. Der körperliche Kontrollverlust der Hauptfigur, der sich durch ihr Stolpern, ihren heftigen Herzschlag, ihr Schreien und ihr stressbedingtes Urinieren im Laufe der Kellerepisoden bemerkbar macht, degradiert sie zur Sklavin ihres eigenen Leibes.

Bereits beim Öffnen der Kellertür wird die geschwächte körperliche Konstitution des Mädchens deutlich. Die Protagonistin stolpert in den Raum und tritt dabei versehentlich auf den Fuβ eines Mannes. Mit den Worten „,Das war mein Fuß‘“ (33) maβregelt dieser das Mädchen umgehend für den ungeschickten Auftritt. Es wird deutlich, dass sich das Mädchen in dieser Welt unterordnen muss. Es beginnt ein unbeabsichtigtes Kräftemessen zwischen Maria und dem machthungrigen Mann, nachdem sie aus Versehen für das Erlöschen der Kerze sorgt. Wir können den Widerstand des Mädchens gegen die Helligkeit an ihren Körperbewegungen ablesen. Immer wieder hindert es den Mann durch versehentliche Berührungen am Entzünden der Streichhölzer (34). Dass der Kerzenschein Gefahr für das Mädchen bedeutet, unterstreicht der Erzähler durch das Dröhnen, Tosen und Detonieren der Bomben. Diese Geräusche steigern sich in dem Moment, als das Mädchen den Kampf um das Licht letztendlich verliert: „Der Mann hielt das Zündholz an eine Kerze, und das Dröhnen von draußen kam näher“ (35). Der Kerzenschein, so bemerken wir später, lenkt die Aufmerksamkeit auf die junge Protagonistin und deckt mitleidslos ihre intimen körperlichen Reaktionen auf die Stresssituationen auf.

Während der gesamten Kellerepisoden hat Maria Gewissensbisse wegen des Todes der alten Dame. Als eine als „lauernd“ (34) beschriebene Stimme in Erfahrung zu bringen versucht, ob das Mädchen die Kranke heruntergetragen habe, reagiert sein Körper heftig auf die Schuldgefühle: „Sie gab keine Antwort. Ihr Herz schlug zu laut. Sie fasste sich an die Brust“ (34). Fühlt sich das Mädchen in die Ecke gedrängt, hat es nicht die Kraft, seine heftigen körperlichen Reaktionen zu unterdrücken und sich sprachlich zu artikulieren. Sein Körper, der sich mit seinen Empfindungen in den Vordergrund drängt, nimmt dem Mädchen jegliche Möglichkeit, als selbstbestimmte Person wahrgenommen zu werden. Nur ein einziges Mal in der Geschichte kann das Mädchen ansatzweise sein schlechtes Gewissen in Worte fassen. Das Mädchen wird durch die freundliche Stimme des Greisen Fredi zum Sprechen motiviert, die als Gegenstimme zu der lauernden gesehen werden kann. Fredi beteuert mitleidsvoll, dass niemand einen so schweren Menschen hätte heruntertragen können (35). Dieser einzige Funke Menschlichkeit hilft dem Mädchen in seiner gesamten Leidensgeschichte, nicht mehr nur stumm zu verharren, nicht mehr nur Körper zu sein, sondern sich aktiv mitteilen zu können und dem schlechten Gewissen Ausdruck zu verleihen: „Das habe ich nicht gwollt“ (35). Doch Fredi wird bei der nächsten Detonation von einem Balken erschlagen. Seine Todespose, in der er noch seine Pfeife in der Hand hält, wirkt wie ein makabrer Scherz. Es scheint eine grausame Ironie des Schicksals zu sein, mit der dem Mädchen die Hoffnung auf Verständnis, aber vor allem auch auf Selbstbestimmtheit genommen wird, um aus der Gefangenschaft des eigenen Körpers, die bei ihm der psychische Druck verursacht, auszubrechen und sich jemandem anzuvertrauen. Tanner macht eine ähnliche Beobachtung bei der Analyse von Bret Easton Ellis’ American Psycho. Der Ich-Erzähler Bateman räumt dem auf brutalste Weise gefolterten Mädchen die Möglichkeit ein, um Hilfe zu schreien. Die junge Frau bringt aufgrund ihrer Schmerzen allerdings nur schwache, geflüsterte Worte hervor: „The narrative of Ellis’s novel seems to allow the victim to speak her subjectivity through the articulation of pain“ (Tanner 1994, 106). Das Opfer wird lediglich zum Sprachrohr des Erzählers, denn aufgrund seiner Schmerzen, was eine Mitteilung des Opfers unmöglich macht, drückt es den Willen des Täters aus. Darüber hinaus suggeriert der Erzähler, dass er die völlige Kontrolle über das unabwendbare Schicksal des Mädchens hat: „His goal is not only to torture and murder her but to make her see that torture and murder as inevitable, necessary, conslusion“ (Tanner 1994, 111). In Vergeltung haben wir es bis zu dem Tod Fredis nicht mit körperlicher, sondern mit psychischer Folter zu tun, die andere Protagonisten sowie der schwer zu greifende Erzähler auf das Mädchen ausüben. Die Ironie des Todes von Fredi zeigt dem Leser, dass das Mädchen keine Hilfe mehr zu erwarten hat. Darüber hinaus macht sich die Witwe über Fredis Tod und über seine trauernde Witwe lustig. Es gibt keinen Zusammenhalt zwischen den Kellerinsassen; jeder ist sich selbst der Nächste. Die Erzählung spielt, ähnlich wie Bateman, mit seinem Opfer, dem er eine Chance auf Hilfe vorspielt, um im Endeffekt noch dominanter und brutaler als Alleinherrscher über die Situation in den Vordergrund zu treten. Als Konsequenz hinterfragen wir als Leser auch nicht mehr die Grausamkeiten, denen das Mädchen ausgesetzt ist, da ihr Opferstatus für uns Teil der textimmanenten Realität geworden ist.

Die sprachliche Kommunikation wird nach Fredis groteskem Tod noch weiter in den Hintergrund gedrängt und jegliche körperliche Kontrolle scheint dem Mädchen zu entgleisen. Das Gesicht Marias wird vom Kerzenschein erleuchtet, als der voyeuristische Erzähler mitleidslos preisgibt, dass sie vor Panik ihren Urin nicht mehr halten kann: „Nässe lief über ihre Schenkel, rann über die Waden auf die Ziegel. Sie stand in einer Pfütze“ (40). Um diese entwürdigende körperliche Reaktion gezielt in Szene zu setzen, spielt das Licht, dem das Mädchen vorher unbewusst aus dem Weg gehen wollte, eine entscheidende Rolle. Dieses Ausleuchten der Szene, die in die Privatsphäre des Mädchens schamlos eindringt und den Leser (nicht die anderen Protagonisten) zum Mitwisser macht, ist ebenfalls ein erzählerisches Mittel, um das Opfer aufgrund seiner Schwäche noch weiter zu erniedrigen. Maria ist hier nur noch ein Körper und keine „gewöhnliche“ Protagonistin in der Geschichte. Als der Mann schließlich die anderen Hausbewohner mit dem Befehl „Ruhe!“ zum Schweigen bringen will, reagiert das Mädchen auf diese Anordnung mit einer vornehmlich körperlichen Trotzreaktion: „Schaum trat auf ihre Lippen. Mit den Fäusten schlug sie plötzlich auf ihre Brust. ‚Ich will nicht sterben,’ schrie sie“ (40). Der Mann reagiert auf die Hysterie des Mädchens mit brutalen Schlägen, die es für kurze Zeit bewusstlos machen. Da Marias Körper ihr eigentliches Kommunikationsmittel ist, kann durch die brutale Ruhigstellung desselben kein körperlicher Dialog mehr stattfinden. Als absolute Steigerung der erzählerischen Dominanz klammert der Erzähler das Mädchen sogar vorübergehend aus der Erzählung aus und konzentriert sich auf die Gespräche der anderen Hausbewohner, die den Zustand des Mädchens, das nun mit ausgebreiteten Armen wie gekreuzigt auf dem Boden liegt (54), als Druckmittel benutzen, um den dominanten und gewaltbereiten Mann zu erpressen. Die Art und Weise, wie dieser nun des Mordes beschuldigt wird, kommt einer kalten Genugtuung am Schicksal des Mädchens und den daraus resultierenden Folgen für den Mörder gleich: „Eine Stimme von der Bank versicherte lüstern: ,Wenn sie tot ist, war es Mord‘“ (78). Das Lüsterne, der sexuelle Unterton, ist ebenfalls, wie während der Geschehnisse im Treppenhaus, ein gängiges Mittel der Erzählung, Brutalität und Sexualität miteinander zu verknüpfen, wenn es um Marias Leidensgeschichte geht. Im Gegensatz zu den vorherigen Episoden wird die Privatsphäre des Mädchens im Keller nicht nur durch die intimen Blicke des Erzählers verletzt, sondern Maria wird zudem Opfer einer ersten brutalen körperlichen Attacke. Sie tritt als Person immer weiter in den Hintergrund. Ihr Körper dient lediglich der physischen und psychischen Manipulation der Kellerinsassen.

Die Höhle: Der weibliche Körper als Objekt sexueller Gewalt

Während das Mädchen in den Kellerepisoden noch aus eigener Kraft, wenn auch stolpernd, die Unterwelt betritt, wird es in seiner letzten Lebensetappe passiv in die Höhle aus Geröll manövriert. Die Zerstörungskraft der einstürzenden Wände führt dazu, dass das Mädchen unsanft mit dem Mann kollidiert. Beide sind nun eingeengt und gefangen, wodurch die Voraussetzung für den letzten Folterraum der Protagonistin geschaffen wird: „Als sich die Steine beruhigten, lag er auf einem Menschen. Es war das Mädchen. Von den anderen hörten sie nichts mehr. Sie waren allein in einer Höhle“ (78). Die Stellung ihrer Körper impliziert männliche Dominanz und sexuelle Konnotationen. Die Enge dieses kleinen Raumes, in dem Marias Körper bewegungsunfähig eingeklemmt ist und sie zur Passivität degradiert, begünstigt die bevorstehende Vergewaltigung und letztendlich den Tod des Mädchens. Der Mann übernimmt die völlige Macht über Marias Körper und bestimmt über jede ihrer Bewegungen, sogar über ihre Atemzüge. Die Personifizierung der Steine, die sich „beruhigten“ (78), nachdem Mann und Mädchen sich in dieser Position wiederfinden, implizieren eine Beteiligung, eine nahezu kalte Absicht der leblosen Materie, das Mädchen zu quälen. Die Wortwahl Höhle evoziert zudem Vorstellungen von vorzivilisatorischen Zeiten, in denen das Gesetz des Stärkeren gilt.Footnote 12 Auch andere Nachkriegsautoren wie Marta Hillers in Eine Frau in Berlin benutzt die Bezeichnung „Höhlenbewohner“ (Hillers 2003, 13) für die ausgebombte Berliner Bevölkerung, die sich ihrer Meinung nach aufgrund des Versagens der Technik und der Hungersnot „auf dem Rückmarsch in vergangene Jahrhunderte“ befindet (Hillers 2003, 13). In Ledigs Vergeltung bringt der Bombenkrieg, wie auch Colette Lawson feststellt, Instinkte bei Menschen hervor, die sie animalisch wirken lassen (Lawson 2002, 37).

Die erste Vorstufe zur Vergewaltigung beginnt mit der völligen Einnahme des Körpers der Protagonistin. Respektlos betastet der Mann ihr Gesicht und scheut auch nicht davor zurück, in Körperöffnungen brutal einzudringen: „Die fremde Hand strich über ihre Lippen. Ein Finger fuhr in ihren Mund“ (88). Die sexuellen Konnotationen, die bei dieser regelrechten Invasion ihres Gesichtes mitschwingen, steigern sich wenig später durch intimere Berührungen: „Unterhalb ihrer Brüste strich die Hand über den Leib. Ihr Kleid war zerrissen. Sie spürte seine Finger“ (89). Zum ersten Mal ist das Mädchen allerdings bewusst in der Lage, die Gefahr zu deuten, der sie nun ausgesetzt ist: „Angst drohte sie zu ersticken. Sie fühlte plötzlich, dass er sie begehrte“ (90). Diese Gewissheit einer bevorstehenden sexuellen Gewalttat verstärken Marias Qualen auf der einen Seite, aber motivieren sie auf der anderen Seite auch zum Handeln. An dieser Stelle entsteht, zumindest für eine kurze Zeit, ein Bruch in Ledigs distanzierter Erzähltechnik. Wir erleben das Mädchen zum ersten Mal, ironischerweise in dieser ausweglosesten aller bisherigen Situationen, als aktive Wortführerin. Maria versucht das Begehren des Mannes aktiv abzutöten, indem sie ihn in ein Gespräch verwickelt ihn und an seine moralischen Verpflichtungen als Familienvater und Ehemann erinnert. Die Konstruktion einer persönlichen Ebene ist insbesondere in gewaltverherrlichenden Texten selten. Tanner wirft fiktionalen Vergewaltigungstexten vor, die weiblichen Opfer nur als Körper zu konzipieren. Ihrer Meinung nach seien diese künstlichen Entwürfe der Frauen realitätsfern, was sie mit Erfahrungsberichten realer Vergewaltigungsopfer belegt: „Testimonies of rape and torture frequently describe their attempt to avoid violation by asserting their identities as ,human‘ beings as well as bodies. One victim of gang rape traces her desperate attempts to reclaim an autonomy wrested from her physically by manipulating her attackers verbally“ (Tanner 1994, 5). Ledig hingegen lässt seine Protagonistin hier, wenn auch nur kurz, als Kämpfernatur um ihre sexuelle Integrität auftreten, wodurch dem Leser ein „realitätsnaher“ Einblick in ihr Leiden gewährt wird. Dennoch, betrachtet man die Fokalisierung des Erzählstils, kann der Widerstand des Mädchens, ähnlich wie Fredis Tod, ebenfalls als Macht des Erzählers gewertet werden, der seinem Opfer scheinbar einen Ausweg aus seiner misslichen Lage bietet, was seine anschließenden Qualen allerdings nur noch grausamer erscheinen lässt. Mit den kalten Worten „,Meine Tochter ist älter‘“ (90) zerschlägt der Mann im Endeffekt jegliche Hoffnung auf ein moralisches Verhalten dem Mädchen gegenüber. Auch Scarry beschäftigt sich in The Body in Pain ausgiebig mit der Amoralität des Folternden, die er bewusst auslebt, um seine Macht gegenüber seinem Opfer auszukosten (Scarry 1985, 57). Diese Einstellung lässt den Mann das tun, was ethisch unverantwortbar ist.

Wie im Vorfeld schon durch die personifizierten Steine angedeutet, übernimmt die Zerstörungsgewalt des Luftangriffs eine wichtige Rolle in der Leidensgeschichte des Mädchens. Während die Detonationen bisher Gefahren andeuteten, denen das Mädchen ausgesetzt war, erinnern die regelmäßigen Bewegungen der Erde in der Höhle spezifisch an den bevorstehenden gewaltsamen sexuellen Akt: „In der Stille hörte sie dumpfes Murren, dann spürte sie auch Bewegung. Die Erde wurde gebombt“ (90). Den Beginn der gewalttätigen sexuellen Annäherung setzt der Erzähler bühnenartig in Szene. Auch hier bedient er sich einer voyeuristisch anmutenden Perspektive. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem dunklen Vorhang, der die beiden Protagonisten in Finsternis taucht. Nur der Erzähler (und mit ihm der Leser) gewinnt intime Einblicke auf das, was hinter diesem Vorhang passiertFootnote 13: „Die Dunkelheit glich einem Vorhang. Er hatte ihren Rock hochgeschoben und zog an ihrer Hose“ (110). Ihr Betteln wird schwächer und bald ist ihr Widerstand nur noch ein Flüstern: „Bitte, tun Sie es nicht“ (110). Die Einsicht des Mädchens, dass es einer Vergewaltigung nicht entgehen wird, zieht das Leiden der Protagonistin erzähltechnisch mit Absicht in die Länge. Diese Technik der „slow motion“ ist laut Lawson für einen allwissenden Erzähler eher eine ungewöhnliche Erzählstrategie (Lawson 2002, 36), wodurch meiner Meinung nach die Macht über das Mädchen – es so lange wie möglich leiden zu lassen – noch einmal demonstriert wird: „Seine feuchten Lippen pressten sich an ihren Hals. Sie saugten sich fest, und er grub die Zähne in die Haut. Mit dem linken Arm hielt er ihr die Hände hinter dem Kopf auf den Steinen fest. Sie waren eingehüllt in die Finsternis des Loches. Geröll, Schutt, der Rest von dem Gewölbe. Es umgab sie wie ein Panzer“ (110). Durch Verben wie „pressen“, „festsaugen“, „graben“ und „festhalten“ unterstreicht der Erzähler seine körperliche Überlegenheit und Brutalität. Die Trümmer, die einen Panzer formen, sind hier offensichtlich mitbeteiligt an der Vergewaltigung. Da sie das Mädchen fest einklemmen, machen sie den Missbrauch erst möglich und verhelfen somit dem Mann zu seiner Macht. Die psychischen Qualen, die das Mädchen durchleidet, steigert der Erzähler durch eine endlos lang erscheinende und detaillierte Beschreibung der gegeneinander kämpfenden Körper, wobei das Mädchen ihrem Peiniger unterlegen ist: „Sie fühlte seine Finger an ihrem Nabel. Die Hose zerriss. Mit Verbissenheit kämpfte sie gegen sein Knie. Aber er drückte ihre Beine langsam auseinander“ (110). Auch hier benutzt Ledig die von Lawson identifizierte slow-motion-Technik, die ihren Höhepunkt in der Brutalität des sexuellen Aktes findet: „Seine Zähne begannen sich zu lockern, dann durchfuhr der Ruck ihren Unterleib. Es brannte wie Feuer“ (110).

Eine weitere Komponente, die Marias Reduzierung auf den Leib unterstreicht, ist ihre Reaktion auf die Vergewaltigung. Während des Missbrauchs verlangt der Mann, dass sich Maria bewegt. Ihre Empfindungen stumpfen ab und ihr Körper gehorcht blind seinen Befehlen. Man kann sagen, dass sie an dieser Stelle nur noch Körper ist: „Sie dachte nichts mehr. […] Sie bewegte sich. Sie bewegte sich“ (111). Es gibt an dieser Stelle allerdings einen gravierenden Unterschied zu den Kellerepisoden, was Marias Selbstbestimmtheit angeht. Während der Körper des Mädchens vorher noch gegen die Befehle des Mannes mit Schaum vor dem Mund und Schreien rebellierte, verliert Maria während der Vergewaltigung ihre letzte Kraft zur Gegenwehr. Der Mann wird zum Befehlshaber über den Körper des Mädchens, der ihm roboterartig gehorcht. An dieser Stelle widerspreche ich vehement Vees-Gulani, die die Bewegungen des Mädchens als Liebesakt deutet, der lediglich mit einer Vergewaltigung beginnt (Vees-Gulani 2003, 89). Mit eiskalter Ironie personifiziert der Erzähler am Ende den Sand, der auf den Körper der Protagonistin fällt. Seine Berührungen, die an ein sexuelles Nachspiel erinnern, wirken fehl am Platz, da das Mädchen bei der Vergewaltigung, so deutet es der Text zumindest an, einen Liter Blut verliert (157): „Von oben rieselte Sand. Er fiel zwischen ihre Brüste. Rollt über die Haut. Eine zärtliche Berührung“ (129). Am Ende der Erzählung erkennt der Leser, dass dieses Nachspiel nur dem Zweck der Vertuschung einer Vergewaltigung dient: „[Er] versuchte zu verbergen, was mit ihr geschehen war“ (172).

Mit der Beschreibung des Ablebens der Protagonistin ändert sich der Tonfall des Erzählers. Er bricht mit seinen gefühllosen Darstellungen und führt den Leser wieder an den Anfang der Geschichte des Mädchens zurück. Hier erinnert er uns an die junge Liebe zwischen der Protagonistin und einem Soldaten, dem sie ein Jahr lang Briefe schrieb: „Vielleicht erinnerte sie sich, umgeben von Trümmern und unter den dumpfen Wirbelschlägen der Bomben, noch an etwas, das stärker war als das Grauen. An die drei zaghaften Worte unter dem letzten Brief, den sie geschrieben und den sie erhalten hatte“ (172). Im Gegensatz zu ihrem brutalen Vergewaltiger steht der gefühlvolle Soldat. Der Erzähler benutzt diese kurze Reise in Marias unbescholtene Vergangenheit, um dem Leser die Tragik ihrer kurzen Lebensgeschichte noch einmal vor Augen zu halten. Diese wohl platzierte und flüchtige Emotionalität wirkt an dieser Stelle allerdings eher wie ein halbherziger Versuch, Mitgefühl für das Mädchen zu erregen. Mit den zweideutigen Worten „Sie berührte nichts mehr“ (172) bestätigt der Erzähler den Tod des Mädchens. Sie ist nun sowohl vor physischen als auch vor psychischen Verletzungen sicher. Dennoch erscheint dieser letzte Satz vor allem wie ein Triumph der Zerstörung über den geschändeten, leblosen, weiblichen Körper.

Fazit: Ledigs Vergeltung und der weibliche Opferdiskurs

Elaine Scarry betont in ihrem vielzitierten Werk The Body in Pain, dass der Körper in der Militärstrategie das eigentliche Ziel der Zerstörung sei, da ein erfolgreicher Einsatz unter anderem an der Zahl der Toten im feindlichen Lager gemessen werde. Krieg sei demnach taktisch davon abhängig, Menschen auf ihren Leib zu reduzieren. Laut Scarry werde dieses Vorhaben in der Regel mit beschönigenden Metaphern ausgeschmückt und dadurch absichtlich verschwiegen: „while the central goal in war is to out-injure the opponent, the fact of injuring tends to be absent from strategic and political descriptions of war“ (Scarry 1985, 12). Was Scarry hier so klar und offen ausspricht, bringt Ledig in Vergeltung durch seine nüchterne Erzählweise zum Ausdruck. Indem wir uns als Leser auf den Text einlassen und die Toten als Kollateralschäden einer unaufhaltsamen Zerstörung sehen, kommen wir eventuell den Geschehnissen einer Bombennacht näher.

In der Literatur der Nachkriegsjahre ist Ledig der wahrscheinlich einzige männliche Autor, der die sexuelle Gewalt gegen Frauen in Zusammenhang mit den Luftangriffen darstellt. Zwar ist Maria Weinerts Geschichte eine von vielen Schicksalen in Vergeltung, aber inmitten der Beschreibungen von brennenden Körpern, grotesken Verletzungen und psychischen Nöten aller Protagonisten, sticht ihr sexualisierter Leidensweg deutlich hervor. Wie man an Marias Fall erkennt, ist die Angst vor den feindlichen Bomben genauso berechtigt wie die Angst vor männlicher Gewalt aus den eigenen Reihen. Der Fokus auf dem Körper des Mädchens, der dem anmaßenden Blick des Erzählers hilflos ausgesetzt ist, deutet schon zu Beginn der Geschichte auf eine unterschwellige sexuelle Aggressivität hin, die in jeder Episode immer konkretere Formen annimmt. Wir sollten Ledigs Vergeltung daher nicht, wie es wahrscheinlich Laura Tanner verlangen würde, nach ausgiebiger Analyse unserer Leserrolle letztendlich als gewaltverherrlichende Literatur zurückweisen. Ich denke, wenn wir uns bei der Analyse von Vergeltung diesen letzten Schritt der Abwertung (beziehungsweise der Relativierung) ersparen, können wir stattdessen Gewinn aus der ungewöhnlichen Leserrolle, in die uns Ledig drängt, ziehen: Ledig versucht uns durch seine Erzählweise in eine Welt zu entführen, die die Realität der Ereignisse einer Bombennacht mit all ihren parallelen Handlungssträngen und menschlichem Leid zu imitieren versucht. In Marias Fall folgt der Leser dem voyeuristischen Blick des Erzählers, der während der gesamten Erzählung fast ausschlieβlich Distanz zu Maria bewahrt und somit jegliche Empathie für die Protagonistin zu vermeiden sucht. Ledigs Vergeltung sollte meines Erachtens ein fester Bestandteil des weiblichen Opferdiskurses der Nachkriegsjahre werden, denn Ledigs Schilderung von Marias Geschichte gibt genug Anlass, die Rolle der Frauen während der Luftangriffe, wie es viele Literaten der Nachkriegszeit forderten, näher zu untersuchen. Ledigs einzigartige Perspektive auf die Luftangriffe wirft unter anderem eine Vielzahl von bisher ungeklärten Fragen auf, die wir uns heutzutage in Bezug auf den Bombenkrieg dringend stellen sollten: Gab es verstärkt sexuelle Aggressivität gegenüber Frauen während des Luftkriegs? Inwieweit begünstigt die Extremsituation der Bombennächte patriarchale Machtgefüge? Wie hoch war die Zahl der sexuellen Gewaltverbrechen nach Ausbruch des Krieges in der deutschen Gesellschaft?