Einleitung

Seit jeher haben Mediziner und Geisteswissenschaftler über die Beziehungen zwischen Körper und Geist nachgedacht. In der Medizin geht man heute von der Annahme aus, dass Körper – Physis – und Geist – Psyche – nicht grundsätzlich voneinander unabhängig sind, sondern sich gegenseitig beeinflussen. Dies gilt besonders für das Verstehen von Krankheit und chronischem Schmerz – und ist die Grundlage der psychosomatischen Medizin. „Psycho“ und „Somatik“ sind damit weder als ein binäres „Entweder-oder“ zu verstehen noch als zwei sich gegenüberliegende Pole mit einem dazwischenliegenden Kontinuum. Vielmehr stellen Physis und Psyche zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Die Existenz der einen Seite bedingt die Existenz der anderen – und vice versa: Eine Psyche ohne Körper ist genauso unreal wie ein Körper ohne Psyche. Es bedarf daher gerade in der Schmerztherapie eines „beidäugigen Sehens“, um Krankheit und Kranksein angemessen zu verstehen.

Psychosomatik als ärztliches Paradigma

Die enge Verbindung zwischen Körper und Psyche ist nicht neu und Nachweise lassen sich medizinhistorisch über nahezu alle Epochen der Menschheit nachweisen. Bereits bei Sokrates findet sich der Hinweis, „dass der Körper nicht ohne Berücksichtigung des Geistes geheilt werden“ könne [15]. Es ist anzunehmen, dass sich ähnliche Aussagen über nahezu alle Epochen nachweisen lassen. Dennoch hat es Jahrhunderte gebraucht, diese Perspektive in der Medizin zu verankern.

Anfang des 19. Jahrhunderts führte der deutsche Arzt Johann Christian August Heinroth erstmals den Begriff „Psychosomatik“ in die medizinische Fachliteratur ein und betonte damit die Idee, dass innere Spannungen und seelische Prozesse selbst auf unbewusster Ebene physiologische Prozesse steuern und damit zu körperlichen Beschwerden führen können [10]. Daraus entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland schließlich eine psychosomatische Bewegung, welche sich mit dem von dem Heidelberger Internisten Ludolf Krehl geprägten Leitsatz „Wir behandeln keine Krankheiten, sondern kranke Menschen“ zur Aufgabe machte, den kranken Menschen wieder mehr als ganze Persönlichkeit mit Körper und Seele zu therapieren [24].

Ein zentrales Paradigma, welches im Kontext einer sich rasant weiterentwickelnden Medizin und Naturwissenschaft immer wieder neu gefunden werden muss, um trotz des zunehmenden Ökonomisierungs- und Technisierungsdrucks noch den Wert einer „sprechenden Medizin“ erkennen zu können. Dies gilt ganz besonders für die Behandlung von Patienten mit chronischem Schmerz. Selbst die Neurowissenschaften, welche dem Interesse psychischer Prozesse in den letzten Jahren zu einer erneuten Renaissance verholfen haben, verleiten dazu, den Blick auf den kranken Menschen aus dem Auge zu verlieren, und sich stattdessen an neuronalen Schaltkreisen und BOLD-Signalen zu orientieren. Eine Entwicklung, die sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass sich die Forschung an der Schnittstelle von Körper und Geist eher für die Entwicklung artifizieller Neuronennetze, für Interface-Techniken zwischen Gehirn, Maschine und Körper oder für die externe Stimulation des Gehirns mittels ins Gehirn implantierter Elektroden zu interessieren scheint, als für die Komplexität subjektiv empfundener Krankheit. Dabei ist es gerade dieses Wissen, was uns dabei helfen kann, das komplexe Wechselspiel zwischen Körper und Psyche besser zu verstehen.

Die Dyade aus Körper und Geist steht dabei nicht losgelöst im Raum, sondern ist stets in einem gesellschaftlich-kulturellen Kontext eingebettet. Möchte man nicht nur Krankheiten behandeln, sondern kranke Menschen, so ist es hilfreich, sich neben der somatischen und psychischen Dimension einer Krankheit immer auch die „kulturelle“ Dimension einer Krankheit bewusst zu machen. Im Folgenden soll zunächst ein Einblick gegeben werden, wie kulturelle Einflüsse nicht nur das Krankheitserleben beeinflussen, sondern auch entscheidend dafür sind, wie mit einer Erkrankung individuell und gesellschaftlich umgegangen wird. Im Weiteren soll aufgezeigt werden, dass nicht nur das Kranksein, sondern auch der kranke Körper in somatischen, psychischen und kulturellen Dimensionen verstanden werden kann und dass zu unterscheiden ist zwischen dem Körper, so wie er physisch ist, und dem Körper, so wie er subjektiv wahrgenommen wird. Abschließend soll ein Eindruck von der Komplexität der somatisch-psychischen und psychisch-somatischen Interaktion im Kontext chronischer Schmerzen gegeben werden, um daraus ableitend darzustellen, wie seelische Belastungen zu körperlichem Schmerz führen und körperliche Schmerzen zu einer seelischen Belastung werden können.

Kultur und Krankheit

Der Begriff der Kultur ist hier breit gefasst zu verstehen als die Gesamtheit der für eine bestimmte Gesellschaft oder Population charakteristischen Verhaltensweisen, Überzeugungen, Einstellungen und Ideale [11]. Wir alle sehen uns selbst, die Welt und andere stets durch unsere eigene kulturell geprägte Brille, und wir sind uns nicht immer bewusst, wie sich dies auf uns und unsere Umwelt auswirkt. Metaphorisch lässt sich der Kulturbegriff daher auch verstehen als eine erworbene „Linse“, durch die der Einzelne mit sich und der Welt in Beziehung tritt, sie wahrnimmt und versteht und dadurch lernt, wie man in ihr lebt. Dementsprechend wird das Kranksein immer auch durch eine Vielzahl kultureller Beziehungsregeln bestimmt. Der Begriff des Krankseins darf in diesem Zusammenhang nicht auf das Erleben der Krankheit reduziert werden, sondern geht weit darüber hinaus. Er umfasst das Erleben von und die Kommunikation über die verschiedenen Krankheitssymptome, das Erleben des Körpers in der Krankheit, das Selbsterleben und das Erleben von anderen in Zusammenhang mit Erkrankung und die Vielzahl der daran anknüpfenden expliziten und impliziten Kommunikationsregeln in Hinblick auf die Erkrankung, um nur ein paar Aspekte zu erwähnen.

Ein eindrückliches Beispiel hierzu liefern die Erfahrungsberichte von Ärzten in der medizinischen Betreuung der Pitjantjatjara-Aborigines, einer sehr isoliert lebenden Gruppe australischer Ureinwohner in Zentralaustralien [14]. Als im Rahmen eines Hospitationsprogramms westlich „kultivierte“ Mediziner erstmals in der Behandlung der dortigen Ureinwohner eingesetzt wurden, zeigten sich diese sehr irritiert darüber, dass diese kaum über Schmerzen klagten [14, 22]. Weder Rückenschmerz noch Kopfschmerz führt die Pitjantjatjara ins Krankenhaus, obwohl dies im westlichen Kulturkreis einer der mit Abstand häufigsten Gründe dafür ist. Auch auf aktives Nachfragen hin wurde das Vorhandensein von chronischen Schmerzsyndromen verneint. Dies ist insofern verwunderlich, als chronische Schmerzen weltweit die Hauptursache für Beeinträchtigungen in der Lebensqualität darstellen [7]. Die anfängliche Vermutung, diese Menschen würden keine Schmerzen kennen, zeigte sich bald jedoch als trügerisch. Mit der Zeit wurde deutlich, dass die Pitjantjatjara durchaus an Schmerzen leiden, diese aber in der Regel nicht nach außen kommunizieren. Dies gilt insbesondere für Männer, die nicht als schwach erscheinen wollen, wenn sie ihre Schmerzen äußern. Hinzu kommen kulturelle Bedenken in Bezug auf „Schuld“ und „Rache“. Während im westlichen Kulturverständnis der Schmerz im Rücken häufig als Zeichen für „zu harte Arbeit“ interpretiert wird, ist dieser im kulturellen Verständnis der Pitjantjatjara Ausdruck dafür, dass man verhext ist oder von einem bösen Geist besessen wird. Kopf- und Nackenschmerzen stehen beispielsweise als Strafe dafür, dass man sich eines schweren moralischen Vergehens schuldig gemacht hat [14]. Hinzu kamen Ängste vor der westlichen Medizin, die neben dem mangelnden Verständnis für die diagnostischen und therapeutischen Handlungen insbesondere auch auf der Vorstellung beruhten, dass westliche Schmerzmittel den Sterbeprozess beschleunigen und die Weitergabe von traditionellem Wissen und Geheimnissen, die am Lebensende stattfindet, verhindern könnten [14, 22]. Diese Erfahrungsberichte veranschaulichen nicht nur, wie die „kulturelle Linse“ das Erleben von und die Kommunikation über Krankheit prägt, sondern lassen auch vermuten, dass interkulturelle Unterschiede Behandler und Behandelnde vor große Herausforderungen stellen können.

Ein fehlendes Bewusstsein für solche kulturellen Einflüsse kann gravierende Folgen für die Betroffenen haben. Die sich daraus entwickelnden Vorurteile können zu erheblichen Missständen in der Patientenversorgung führen. Seit vielen Jahren zeigt sich in Studien immer wieder, wie soziokulturelle Vorurteile und die fehlende Achtsamkeit für interkulturelle Unterschiede die Behandlung von Patienten beeinträchtigen.

Dies führt nicht zuletzt dazu, dass selbst noch im 21. Jahrhundert farbige Patienten im Vergleich zu Patienten mit weißer Hautfarbe systematisch weniger Schmerztherapie erhalten [4, 6]. Erklären lässt sich dieser Missstand dadurch, dass kulturelle Unterschiede nicht selten somatisch fehlgedeutet werden. Rassistische Voreingenommenheit mit falschen Überzeugungen über biologische Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen (z. B. „die Haut von Schwarzen ist dicker als die von Weißen“, [13]) führt dazu, dass Ärzte die Schmerzen von dunkelhäutigen (im Vergleich zu weißen) Patienten als geringer einschätzen und weniger genaue Behandlungsempfehlungen geben. Leider zeigen die aktuellen Daten auch, dass falsche Überzeugungen über biologische Unterschiede zwischen unterschiedlichen Ethnien bei Ärzten häufig sind und dadurch auch aktuell noch systematisch zu Fehlern in der diagnostischen Einschätzung und Behandlung führen [13].

Die Problematik fehlender kultureller Sensibilität zieht sich dabei bis in die akademischen Wissenschaftsbereiche hinein. In wissenschaftlichen Studien zu ethnisch-kulturellen Unterschieden im Schmerzempfinden beispielsweise lässt sich immer wieder die vorschnelle Aussage lesen, dass Asiaten, Afroamerikaner und Hispanics im Vergleich zu weißen, non-hispanischen Probanden schmerzempfindlicher seien [18]. Gemeinsam haben all diese Studien in der Regel jedoch, dass diese meist in westlichen Kulturkreisen durchgeführt werden und ihre ethnischen Vergleichskollektive aus zugewanderten Immigranten und Gaststudenten rekrutieren. Damit unterscheiden sich diese Gruppen nicht nur in ihrem ethnischen Hintergrund, sondern auch durch ihren gesamten soziokulturellen Kontext, welcher ebenfalls in einem engen Wechselspiel mit dem Schmerzerleben steht [17]. Statt Unterschiede im Schmerzerleben zwischen verschiedenen ethnisch-kulturellen Bevölkerungsgruppen zu untersuchen, untersuchen diese Studien daher primär das Schmerzerleben einer aus ihrem kulturellen Kontext herausgerissenen Minderheit im Vergleich zur sozial gut eingebundenen Mehrheit. Solche, in einen fremden Kulturkreis verpflanzte Individuen sind häufig einer Reihe weiterer Faktoren ausgesetzt (unsichere soziale Situation, fehlende Sicherheiten, unklare Perspektiven etc.), welche ebenfalls das individuelle Schmerzerleben beeinflussen können. Es verwundert daher nicht, dass die in solchen Studien gezeigten „pseudoethnischen“ Unterschiede weniger auf die ethnische Zugehörigkeit zurückzuführen sind als zu einem großen Anteil auch auf erhöhte Stresslevel, geringere kulturelle Anpassungen und allgemein höhere Angstniveaus, wie es in kulturell entwurzelten Minderheiten ganz unabhängig vom ethnischen Hintergrund oftmals zu beobachten ist [17, 23].

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Behandlung von Krankheit und Kranksein neben der somatischen und seelischen Dimension stets auch eine „kulturelle“ Perspektive erfordert, um Kranksein und Symptomerleben adäquat zu erfassen. Diese kulturelle Perspektive beinhaltet weit mehr als nur die Reflexion kultureller Beziehungsregeln und der daraus entstehenden Vorurteile und falschen Überzeugungen. Angelehnt an Kroebers Kulturbegriff [20] erstreckt sich solch eine kulturelle Perspektive von der Gesamtheit der im Laufe seiner Biografie erworbenen expliziten und impliziten Denk- und Verhaltensmuster eines Patienten über die sich daraus entwickelnde soziale und körperliche Identität bis zu den Ideen und damit verbundenen Werten des Patienten. Die Kultursysteme eines Patienten können sowohl als Produkte des Handelns als auch als konditionierende Elemente weiteren Handelns betrachtet werden. Dies unterstreicht, dass die kulturelle Dimension des Krankseins sowohl unter dem Einfluss menschlicher Handlungen steht als auch das menschliche Handeln gestaltet [21].

Kultur und Körper

Nicht nur das Kranksein, sondern auch der kranke Körper lässt sich in somatischen, psychischen und kulturellen Dimensionen begreifen. Körper und Körpererleben unterscheiden sich zum Teil erheblich. Es ist daher zu trennen zwischen dem Körper, so wie er objektiv ist, und dem Körper, so wie er subjektiv wahrgenommen wird. Phänomenologisch und begrifflich wird daher unterschieden zwischen dem physischen „Körper“ und dem subjektiv wahrgenommenen „Leib“. Der Begriff „Körper“ bezieht sich hier auf den Körper, wie er sich physisch und objektiv darstellt. Davon abzugrenzen ist der Leibesbegriff. Der Begriff „Leib“ bezieht sich auf den Körper, wie er subjektiv vom Besitzer erlebt und wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang spricht man auch vom subjektiv wahrgenommenen „Körperbild“. Als Körperbild wird hier das psychische Resultat des bewussten Körpererlebens bezeichnet.

Körper und Körperbild können zum Teil erheblich divergieren. Patienten mit Phantomschmerzen nach Amputation einer Körpergliedmaße erleben beispielswiese Schmerzen in Körperteilen, die objektiv nicht mehr vorhanden sind; Patienten mit einer sog. Neglect-Symptomatik nach Schlaganfall nehmen eine ganze Seite ihres Körpers nicht mehr wahr, obwohl diese objektiv und physisch vorhanden ist; bei dem seltenen Störungsbild der Apotemnophilia [28] bzw. der sog. „body integrity identity disorder“ geht das bedrückende Gefühl, dass eine Gliedmaße des eigenen Körpers nicht dem eigenen Selbst angehört, sogar so weit, dass sich die Betroffenen eine objektiv gesunde Gliedmaße amputieren lassen wollen, nur damit der physische Körper mit dem erlebten Selbst wieder in Einklang steht [12]. Ein Umstand, der im Übrigen eine weitreichende ethische und juristische Diskussion über Patientenautonomie, Entscheidungsfreiheit und die Ethik von ärztlichen Amputationen angestoßen hat [2].

Ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Körper, wie er ist, und dem Leib, wie wir ihn erfahren, ist unser Nervensystem. Denn der physische Körper ist stets auch zentralnervös repräsentiert in Form eines neuronal engrammierten „Körperschemas“. Das Körperschema beschreibt dabei das neuropsychologische Korrelat der Wahrnehmung des realen Körpers. So besitzt jedes – zumindest höher entwickelte – Lebewesen eine Repräsentation des eigenen Körpers auf neuronaler Ebene. Bereits von Geburt an existiert dadurch eine innere Repräsentation des Körpers. Dies lässt sich im Tierreich gut beobachten: Ein junges Kalb steht in der Suche nach der Mutterbrust bereits wenige Sekunden nach der Geburt wie selbstverständlich auf den eigenen Beinen, und einer Meeresschildkröte gelingt es bereits direkt nach dem Schlüpfen, mithilfe ihrer Beine in Richtung des Meeres zu krabbeln und durch die Fluten zu tauchen (nach [9]). Obwohl genetisch veranlagt, ist dieses neuronale Engramm des eigenen Körpers im zentralen Nervensystem nicht statisch festgelegt, sondern lässt sich eher als ein lebenslanger dynamischer Prozess verstehen. Unter dem permanenten Einstrom von somatosensorischen Informationen aus der Exterozeption, der Propriozeption und der Interozeption sowie den kontinuierlich einwirkenden psychosozialen und kulturellen Einflüssen entwickelt sich das neuronale Engramm fortwährend weiter [9]. Inzwischen weiß man, dass die neuronale Engrammierung unseres eigenen Körpers sogar über die physischen Körpergrenzen hinausgeht. Diese sog. „peripersonale Zone“ umfasst dabei einen definierten Raum um jeden einzelnen Menschen herum, den dieser als seine persönliche Zone wahrnimmt. Diese Zone erstreckt sich über ungefähr eine Armlänge. Dies entspricht genau der Distanz, in die man insbesondere Fremde nur äußerst ungern eindringen lässt. Er repräsentiert damit eine „Sicherheitsgrenze“, weshalb man auch vom sog. „defensive peripersonal space“ – dem persönlichen Abwehrraum – spricht. Der peripersonale Raum ist damit eine Erweiterung des individuellen Körperschemas und bildet eine Art „Sicherheitsmarge“, die für das Überleben von Vorteil ist und unsere persönliche Nähe-Distanz-Regulation mitgestaltet [8]. Das heißt, wenn sich ein bedrohlicher Stimulus einem solchen peripersonalen Raum nähert oder in ihn eindringt, dann erzeugt dies eine individuelle Stressantwort und veranlasst bei den Betroffenen körperliche, psychische wie auch soziale Reaktionen, die darauf abzielen, diesen Sicherheitsbereich wiederherzustellen.

Die individuelle Ausdehnung ist dabei von Person zu Personen sehr unterschiedlich und scheint ebenfalls substanziell durch psychologische und kulturelle Faktoren geprägt zu sein [27]. Körper, Körperschema und der peripersonale Raum stehen dabei in einer Wechselbeziehung zueinander sowie zu den seelischen Prozessen und dem kulturellen Kontext des jeweiligen Individuums: Die subjektiven Empfindungen und subjektiven Einstellungen, die wir unserem eigenen Körper gegenüber und unserer Umwelt gegenüber haben, werden dabei entscheidend von den Informationen beeinflusst, die uns durch unsere Körperschemata zur Verfügung gestellt werden [9]. Gleichzeitig sind die seelischen Faktoren und der kulturelle Kontext ein zentraler Einflussfaktor für die Gestaltung des individuellen Körperbilds wie auch unseres persönlichen Abwehrraums. Wie in einem Spiegel reflektieren sich in unserem Körperbild neben Körper und Seele stets auch die kulturellen Einflüsse.

Dies kann mitunter entscheidend dafür sein, ab wann eine „Krankheit“ zum „Kranksein“ führt. Der Begriff von Normalität und Ab-Normalität hängt ebenfalls stark vom kulturellen Kontext ab. Dies lässt sich eindrucksvoll am Beispiel der Magersucht erkennen, welche bereits früh als ein kulturgebundenes Syndrom bezeichnet wurde [35]. Dies wird nicht nur dadurch unterstrichen, dass die Häufigkeit der Anorexia nervosa in den letzten drei Jahrzehnten in der abendländischen Welt deutlich zugenommen hat, sondern auch dadurch, dass die Magersucht zunehmend ein Phänomen westlicher Industriegesellschaften zu sein scheint: Sie tritt nahezu ausschließlich in Wohlfahrtsstaaten auf [16, 31]. Zu beachten ist, dass die kulturellen Einflüsse hier nicht nur das Erleben des Körpers prägen und somit die Ausbildung eines verzerrten Körperbilds begünstigen können, sondern auch die medizinische Diagnostik entscheidend bestimmen können. Medizinhistorisch wird die Anorexia nervosa erst in jüngerer Zeit als ein manifestes medizinisches Leiden definiert. Das Phänomen der „Selbstaushungerung“ fand zuvor je nach kultureller Epoche auch eine Einordnung als religiöses Wunder oder sogar als ein Weltspektakel [35]. Das Fasten war über Jahrhunderte fester Bestandteil einer magisch-religiösen Praxis und wurde sowohl als verbindendes Moment mit dem Leiden Christi als auch als Ausdruck der Sühne für den „Fastenbruch“ von Adam und Eva verehrt, oder in anderen Teilen als Ausdruck von „Teufelswerk“ verfolgt. Später dann entwickelte sich die „Hungerkunst“ zum öffentlichen Spektakel, und spezielle Hungerkünstler wurden auf Jahrmärkten und öffentlichen Plätzen zu beliebten Attraktionen, für deren Anblick die Menschen sogar bereit waren, Eintritt zu zahlen [35]. Heute hingegen gilt die Magersucht als eine psychische Störung mit schweren somatischen Folgen und ist in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Classification of Diseases [ICD]) fest integriert [37].

Gerade das Erleben des Körpers durch den Erkrankten in der Krankheit, aber auch das Erleben des kranken Körpers durch das Umfeld des Erkrankten geht daher weit über die somatische Dimension der Krankheit hinaus. Dies hat mitunter weitreichende Folgen für das psychische Befinden der Betroffenen.

Körper und Psyche – Psyche und Körper

Wie bereits eingangs ausgeführt stehen Körper und Psyche in einer gegenseitigen Wechselbeziehung, deren Komplexität man in der Medizin erst langsam zu begreifen beginnt. Zwar gilt dieses Prinzip der Gegenseitigkeit von Körper und Psyche in allen Lebensphasen und vor allem auch im Zustand der Gesundheit, dennoch wird die Macht, die der Körper auf die Psyche und die Psyche auf den Körper ausüben kann, dann besonders deutlich, wenn sie zur Krankheit führt. Körperliche Erkrankungen können zu einer nachhaltigen Erschütterung des psychischen Befindens führen, wie auch psychische Erschütterungen substanziellen Einfluss auf die körperliche Gesundheit haben können. Um über die Krankheit hinaus den von der Krankheit getroffenen kranken Menschen zu behandeln, ist es erforderlich, beide Aspekte zu berücksichtigen.

Körperliche Krankheiten können bei den Betroffenen tief greifende psychische Wunden schlagen. Die Krankheit kann so zum Trauma für die seelische Gesundheit werden. Der Traumabegriff ist hier im psychotraumatologischen Sinne zu verstehen: „Trauma – ‚Wunde‘ – als eine seelische Verletzung, die auf ein traumatisierendes Ereignis (oder deren mehrere) zurückgeht, bei dem im Zustand von extremer Angst und Hilflosigkeit die Verarbeitungsmöglichkeiten des Individuums überfordert waren“ [29]. Nach Seidler wird ein Ereignis „dann zu einem traumatischen, wenn es – in seiner Wirkung auf die betroffene Person – einen Akt der Auslöschung ihrer Daseinsberechtigung darstellt“ [29]. Die schwere körperliche Erkrankung oder ein chronischer oder sehr intensiver Schmerz wird – ganz ähnlich einem Trauma – als ein Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren einerseits und den individuell zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten andererseits erlebt. Das dadurch ausgelöste Gefühl von Kontrollverlust, Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe kann dann – ganz ähnlich einer Traumafolgestörung – zu einer dauerhaften Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis führen.

Nicht selten bedeutet eine Krankheit nicht nur einen Angriff auf die physische Integrität, sondern auch auf das Selbstbild und die Identität des Erkrankten. In der Krankheit kommt es zum Verlust der körperlichen Unversehrtheit. Haarverlust oder operative Eingriffe an zentralen Merkmalen der weiblichen oder männlichen Identität, wie sie bei Krebserkrankungen nicht selten notwendig werden, können zu erheblichen Verunsicherungen im körperbezogenen Selbstwert führen. Dementsprechend ist das Suizidrisiko bei Menschen mit schweren körperlichen Erkrankungen oder chronischen Schmerzen nahezu verdoppelt [26].

Dennoch: Auch wenn Krankheit und Schmerz intrinsisch einen Angriff auf die psychische Integrität der Betroffenen darstellen, so ist dies nicht gleichzusetzen mit der A‑priori-Traumatisierung von kranken Menschen. Nicht jedes traumatische Ereignis bedeutet eine Traumatisierung. Nicht jeder kranke Mensch ist „traumatisiert“, genauso wenig wie jeder psychisch Kranke körperlich erkrankt. Angesichts der zunehmend inflationären Verwendung des Traumabegriffs und des damit einhergehenden wachsenden Risikos der iatrogenen Förderung dysfunktionaler Traumaidentitäten bei den Betroffenen ist dies explizit hervorzuheben.

Das psychische Trauma ist nicht in erster Linie spezifischen Ereignissen geschuldet, sondern entwickelt sich immer im Modus der Nachträglichkeit als Verarbeitung [25]. Erst die Diskrepanz zwischen den situativen Anforderungsfaktoren einerseits und den zur Verfügung stehenden persönlichen Bewältigungsfaktoren andererseits mit einer daraus resultierenden bleibenden Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses führt dazu, dass körperliche Krankheiten bei den Betroffenen zu solch tief greifenden psychischen Veränderungen führen, wie sie sich beispielsweise bei einer posttraumatischen Belastungsstörung finden lassen. Psychische Symptome können die Folge sein. Es kann zu spezifischen Beschwerden kommen, welche sich bemerkbar machen durch das unwillkürliche Erinnern und Wiedererleben des Traumas sowie eine gesteigerte Nervosität, Depressivität, Angst und Reizbarkeit der Betroffenen. Schätzungen zufolge zeigen beispielsweise 20 % der Patienten im ersten Jahr nach einem intensivmedizinischen Aufenthalt Anzeichen für ein solches Krankheitsbild [3].

Die physische Integrität steht damit in enger Beziehung zu der psychischen Gesundheit. Dies geht weit über das geläufige Sprichwort „Mens sana in corpore sano“ – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – hinaus. Jeder Angriff auf die physische Integrität stellt stets auch einen Angriff auf die psychische Gesundheit dar – und bedarf einer bewussten oder unbewussten mentalen Bewältigung. Gelingt dies nicht, so können körperliche Wunden nicht nur zu seelischen Wunden führen, sondern die gesamte Persönlichkeit verändern, wie es Leo Tolstoi dem Leser in seiner Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ eindrücklich vor Augen führt [34]. Die darin beschriebene Hauptfigur erleidet mit 45 Jahren eine bösartige Erkrankung, deren permanenter Schmerz seinen Charakter so verändert und martert, dass er nicht nur hilflos wird, sondern sich zu einem Monstrum für seine Umwelt entwickelt.

Schmerz, Krankheit und der Verlust der körperlichen Integrität bergen eine psychische Sprengkraft mit weitreichenden Konsequenzen für die seelische Gesundheit. Betroffene fühlen sich vom eigenen Körper verraten und erleben sich (von Bekannten, Freunden, Familienangehörigen oder dem medizinischen System) im Stich gelassen. Intensive Gefühle von Enttäuschung, Wut, Angst, Hilflosigkeit, Selbstzweifeln bis hin zu Selbsthass sind die Folge. Doch nicht nur das Wissen um den krankhaften Körper trifft die Seele, sondern auch die mit der Krankheit einhergehenden körperlichen Beschwerden. Besonders die erlebten Schmerzen gehen oftmals mit starkem seelischem Leid einher.

In diesem Sinne kann ein chronischer Schmerz auch als eine Art eigenständiges „Schmerztrauma“ betrachtet werden, bei dem der eigene Körper als traumatisiert und traumatisierend zugleich in Erscheinung tritt. Übersteigt ein Schmerz die persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten, so kann er zum traumatischen Erlebnis für die Psyche der Betroffenen werden – und das psychische Trauma wiederum findet häufig auch Ausdruck in körperlichen Schmerzen. Der Schmerz und das Trauma scheinen hier eine besondere Rolle zu spielen, da sie in besonders drastischer Weise die Dynamik zwischen Körper und Geist spürbar werden lassen.

Doch auch die psychischen Wunden können bei den Betroffenen erhebliche körperliche Folgen haben. Die „Gewalt“, die die Psyche auf den Körper ausüben kann, ist beeindruckend und erschreckend zugleich. Über seelische Prozesse lassen sich Heilungsprozesse anregen und die Genesung beschleunigen. Gleichzeitig können psychische Wunden die Allostase nachhaltig stören und den Körper lebenslang prägen. Als Allostase wird in diesem Zusammenhang der Prozess bezeichnet, durch den der Körper in Anforderungssituationen durch physiologische und psychologische Verhaltensänderungen eine – auch zukünftige Belastungen einbeziehende – Stabilität aufrechterhält [30]. Psychische Belastungen sind damit wesentliche Determinanten für Krankheit und Kranksein. Zurückliegende kritische Lebensereignisse können dabei lebenslang von unserem Körper erinnert werden.

Besonders der Einfluss frühkindlicher Stresserfahrungen und traumatisierender Lebensereignisse auf die körperliche Gesundheit ist inzwischen empirisch valide belegt [1, 32, 33].

Es kann als wissenschaftlich bewiesen angesehen werden, dass frühkindliche Stresserfahrungen und psychische Traumata die physische Gesundheit nachhaltig beeinflussen. Eine der ersten und bisher größten Studien hierzu ist die sog. Adverse-Childhood-Experiences(ACE)-Studie. Anhand der Krankenversicherungsdaten von über 17.000 Amerikanern konnten in dieser Studie erstmals die gravierenden Langzeitfolgen frühkindlicher Stresserfahrungen und traumatisierender Lebensereignisse für die körperliche Gesundheit im Erwachsenenalter empirisch belegt werden. Belastende Kindheitserfahrungen gingen dabei nicht nur mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für gesundheitsgefährdendes Verhalten wie Rauchen, Promiskuität oder Alkoholismus einher, sondern erhöhten auch das Risiko für das Auftreten von Adipositas, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen und einer vorzeitigen Mortalität [5]. In diesen Analysen konnte zum ersten Mal auch eine bedeutende Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen dem Auftreten von körperlichen Erkrankungen und früherer Traumatisierung aufgezeigt werden [5]. Je mehr Stressoren die Betroffenen exponiert waren, desto schwerer waren die Folgen für die körperliche Gesundheit.

Dabei werden nicht nur die psychischen Eindrücke zurückliegender Lebenserfahrungen erinnert, sondern auch die körperlichen Empfindungen finden Eingang in die Gedächtnisstrukturen unseres Nervensystems. In Untersuchungen zu möglichen Langzeitfolgen von invasiven Eingriffen bei Neugeborenen zeigte sich, dass schmerzhafte Prozeduren in den von den schmerzhaften Eingriffen betroffenen Körperregionen zu bleibenden Veränderungen in der Schmerzverarbeitung führen können [36]. Ähnlich zu visuellen Eindrücken können so auch zurückliegende somatosensorische Eindrücke in unserem Gedächtnis abgespeichert werden. Neurophysiologische Untersuchungen lassen vermuten, dass es ein spezifisches „Körpergedächtnis“ gibt, welches sogar so weit geht, dass auf neurophysiologischer Ebene jedes Körperareal seine eigene somatosensorische Biografie besitzt, welche die Informationsverarbeitung aus diesem Körperteil bestimmt und das Körpererleben für dieses Körperareal prägt. Zurückliegende Wunden und Entzündungen, aber auch angenehme Liebkosungen, Streicheln oder Juckreize können auf diese Weise das Körperempfinden an jeder Stelle des Körpers unterschiedlich prägen.

Die Macht unseres „Körpergedächtnisses“ auf die physiologischen Prozesse unseres Körpers scheint dabei noch viel weiter zu gehen, als lange Zeit angenommen worden ist. So besitzt nicht nur jeder Teil unseres Körpers seine eigene neuronale Gedächtnisspur, sondern diese neuronalen Gedächtnisspuren sind sogar in der Lage, den Körper wieder in den „erinnerten“ krankhaften Zustand zurückzuführen. Dies konnte unlängst eindrücklich in einer Studie an Mäusen aufgezeigt werden. Mithilfe spezieller neurobiologischer Techniken gelingt es Wissenschaftlern inzwischen, neuronale Netzwerke bei Mäusen gezielt so zu aktivieren, dass zurückliegende mentale Zustände abgerufen werden können. Dies erlaubt es bei ehemals kranken und inzwischen gesunden Tieren, die für die Erinnerungsspuren verantwortlichen neuronalen Netzwerke genau so zu aktivieren, wie es in einer initialen Krankheitssituation der Fall war. Werden bei Mäusen beispielsweise diejenigen Zellen im Gehirn reaktiviert, die zuvor während einer künstlich ausgelösten Dickdarmentzündung aktiv waren, so lässt sich hierdurch eine ähnliche Immunreaktion im Dickdarm hervorrufen, wie sie initial vorhanden war [19]. Allein durch die künstliche Aktivierung von Erinnerungsspuren im Gehirn kann auf diese Weise der Darm dazu gebracht werden, sich zu entzünden. Diese sowie die zahlreichen weiteren Studien hierzu machen die Komplexität des Wechselspiels zwischen Körper und Psyche deutlich, die wir erst beginnen zu verstehen.

Fazit für die Praxis

  • Körper und Psyche befinden sich in einer engen gegenseitigen Wechselbeziehung zueinander. Diese Dyade lässt sich dabei nicht isoliert betrachten, sondern ist stets in einem gesellschaftlich-kulturellen Kontext eingebettet.

  • Dieser Kontext befindet sich nicht nur in permanenter Interaktion mit Körper und Psyche, sondern liefert letztendlich auch den Werterahmen dafür, was als „noch gesund“ und was als „bereits krank“ zu bezeichnen ist.

  • Dies macht es erforderlich, die etablierte Trennung in geistes- und naturwissenschaftliche Bereiche zu relativieren und möglichst alle Fachgebiete, die sich mit dem Menschen befassen, zusammenzuführen.

  • Das Zusammenführen von Medizin, Humanbiologie und geisteswissenschaftlichen Ansätzen kann die Schmerztherapie dabei unterstützen, nicht nur den Schmerz zu behandeln, sondern auch den dahinterstehenden Menschen mit Schmerz.