Mehrere berühmte Maler der klassischen Moderne litten an rheumatischen Erkrankungen. Eine rheumatoide Arthritis hatten Auguste Renoir und Raoul Dufy. Paul Klee wurde von einer systemischen Sklerose befallen, an deren Organmanifestationen er verstorben ist. In verschiedenen Publikationen sind der Verlauf und die Behandlung der Erkrankung sowie die Einflüsse auf das Werk dieser Künstler beschrieben [9, 21, 26, 33, 50]. Auch eine mögliche Mitverursachung der Immunopathien durch die Exposition mit schwermetallhaltigen Ölfarben wird diskutiert [34].

Weithin unbekannt ist auch unter Rheumatologen, dass der expressionistische Maler Alexej von Jawlensky (1864–1941; Abb. 1) ebenfalls von einer schweren rheumatoiden Arthritis betroffen war. Jawlensky hat seinen Platz in der Geschichte der Kunst erst spät erobert, obwohl er als erster Maler im 20. Jahrhundert in einer außergewöhnlichen Wandlung vom Einzelbild zu umfangreichen Serien ein großes künstlerisches Gesamtwerk schuf [36]. Mittlerweile kennt die Kunstwelt das umfangreiche Werk Jawlenskys durch Ausstellungen (z. B. [4, 35, 37, 53]), Publikationen (z. B. [7, 12, 31, 38, 47, 49]) und die seit 1992 veröffentlichten Werkverzeichnis-Bände [22, 23, 24, 25].

Abb. 1
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Alexej von Jawlensky; a 1924 in Wiesbaden (© Jawlensky-Archiv), b Selbstbildnis 1912 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [37], S. 91)

Kandinsky und Klee, die beiden Freunde aus dem berühmten Kreis der Expressionisten des „Blauen Reiter“ haben weltweit durch Ausstellungen, Monographien, Werkverzeichnisse und kunsthistorische Betrachtungen zu einem deutlich früheren Zeitpunkt breite nationale und internationale Würdigung sowie Wertschätzung auf dem Kunstmarkt erfahren. Dies mag erklären, warum nur wenig bekannt ist, dass Jawlensky 20 Jahre lang (1921–1941) in Wiesbaden lebte und dort verstorben ist. Im Kunstmuseum Wiesbaden, gegenüber den Rhein-Main-Hallen, wo jährlich die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin abgehalten wird, befindet sich die größte Sammlung von Kunstwerken von Jawlensky in Europa. Die Stadt Wiesbaden verleiht seit 1990 den renommierten Jawlensky-Preis, mit dem sie das Andenken an ihren international bedeutendsten Künstler ehrt.

Im Kunstmuseum Wiesbaden befindet sich die größte Sammlung von Kunstwerken von Jawlensky in Europa

Das Leiden von Jawlensky und die Auswirkungen auf seine Malerei wurden in der medizinischen Fachliteratur bisher nur kurz erwähnt [32] und lediglich für Mitglieder der Rheumaliga durch einen kunstinteressierten Rheumatologen ausführlicher gewürdigt [5]. Nicht allgemein verfügbar ist ein Vortrag von Schmidt anlässlich des Jawlensky-Jahres 2004 im Landesmuseum Wiesbaden, in dem er einige Daten und Aspekte des Krankheitsfalls des Malers zusammenfasst [41]. Im Folgenden werden deshalb eingehend Gelenkbefall, extraartikuläre Manifestationen, Krankheitsverlauf, Therapie, psychosoziale Faktoren einschließlich der Krankheitsverarbeitung und Auswirkungen auf das künstlerische Werk dargestellt. Hierfür wurden die Kopien der Originalbriefe Jawlenkys an seine Kunstagentin Galka E. Scheyer, das Tagebuch von Lisa Kümmel, weitere Dokumente im Alexej von Jawlensky-Archiv S.A., Locarno, Schweiz, und Hinweise aus der kunsthistorischen Literatur ausgewertet.

Biographie und künstlerisches Werk

Das künstlerische Werk Jawlenskys erschließt sich aus seiner Herkunft, den Besonderheiten seines Lebensweges und dem Umkreis, in dem er gelebt hat. Besondere Bedeutung kommt dabei der engen Verbindung bzw. dem Zusammenleben mit eigenständigen, künstlerisch ausgebildeten und künstlerisch engagierten Frauen zu, die ihn in verschiedenen Lebensphasen gefördert, unterstützt und begleitet haben [29]. Jawlensky trug von Anfang an ein ganz bestimmtes archetypisches Leitbild in seiner Seele, das freizulegen sein Lebenswerk sein sollte [48]. Zu diesen Aussagen kommt Clemens Weiler, Freund der Familie Jawlensky und erster Nachkriegsdirektor des Museums Wiesbaden, der den Grundstein für die Jawlensky-Sammlung legte und in drei Jawlensky-Monographien die Biographie und das Gesamtwerk des Künstlers als erster erschlossen hat [36, 47, 48, 49]. Wichtige schriftliche Quellen sind die von Jawlensky selbst diktierten Lebenserinnerungen [49] und seine umfangreiche Briefkorrespondenz (Originale und Kopien im Jawlensky-Archiv).

Alexej von Jawlensky wird 1864 in Torschok (Russland) als Kind einer Familie aus russischem Erbadel geboren. Der Vater war Oberst, und entsprechend der Familientradition kommt Jawlensky 1881 an eine Kadettenschule in Moskau. Er besucht die Allrussische Industrie- und Kunstausstellung, in der er zum ersten Mal Gemälde sieht. Dadurch wird er für die Malerei begeistert und beginnt in seiner Freizeit zu zeichnen.

Der Tod des Vaters 1882 bringt die Familie in finanzielle Schwierigkeiten, und Jawlensky muss das geplante Studium an einer Kunstakademie zunächst aufgeben. Er tritt in die Moskauer Militärhochschule ein und wird russischer Gardeoffizier. Er lässt sich 1890 als Leutnant nach St. Petersburg versetzen mit dem Ziel, die Kunstakademie zu besuchen. Nach der bestandenen Aufnahmeprüfung erhält er die Erlaubnis, neben seiner Militärlaufbahn an der Akademie der Künste zu studieren. Hier besucht er erst die „Kopfklasse“, wo neben dem Theorieunterricht Zeichnungen nach Gipsabgüssen und Statuen angefertigt werden. Aufgrund seiner Erfolge wird Jawlensky in die „Figurenklasse“ versetzt, wo ebenfalls vor antiken Gipsfiguren gezeichnet wird. In der Akademie lernt er die Malerin Marianne von Werefkin kennen und begegnet auf dem Gut ihres Vaters dem ihr anvertrauten jungen Mädchen Helene Nesnakomoff. Helene wird eines seiner Modelle, seine Geliebte, Mutter seines Sohnes Andreas und spätere Frau.

Er beendet schließlich 1896 die militärische Laufbahn im Rang eines Stabskapitäns und übersiedelt mit beiden Frauen nach München, um sich ganz der Malerei zu widmen. Werefkin gibt das Malen auf, um sich nach eigenen Angaben der Förderung der Malerei Jawlenskys zu widmen. Jawlensky geht in die renommierte Mal- und Zeichenschule von Anton Azbé, an der er Wassily Kandinsky kennenlernt. Beide verbindet von da an eine enge Freundschaft. 1899 dokumentiert Jawlensky durch Austritt aus der Azbé-Schule seine künstlerische Eigenständigkeit und eröffnet mit zwei befreundeten russischen Künstlern eine Malschule. Er malt hauptsächlich Stillleben, laut eigener Aussage auf der Suche nach Harmonie in den Farben.

1909 initiiert Jawlensky gemeinsam mit Wassily Kandinsky, Adolf Erbslöh, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin und anderen die „Neue Künstlervereinigung München, deren zweiter Vorsitzender er wird und mit der zusammen er ausstellt. Durch verschiedene Ausstellungen kann Jawlensky bereits einen Kreis von Sammlern seiner Werke aufbauen. Kandinsky und Franz Marc treten im Dezember 1911 aus der Neuen Künstlervereinigung aus und gründen die Gruppe „Blauer Reiter“, der Jawlensky sehr nahesteht, ohne ihr offiziell anzugehören. Ferner schließt Jawlensky enge Freundschaften mit Paul Klee und mit Emil Nolde, deren Werke er sehr schätzt. Insgesamt war der sich mehrfach wandelnde Künstlerkreis in München, in dem Jawlensky vor dem ersten Weltkrieg lebte, ein echter Kreis, der sich durch mannigfaltige Verknüpfungen gebildet hatte. Die heterogensten Elemente, aus denen er ursprünglich entstanden war, bildeten zusammen genommen erst das Neue, das zu einem bedeutsamen Bestandteil des Expressionismus und der modernen Kunst wurde [48]. Jawlensky hat dabei eine sehr wesentliche, wenn auch weniger bekannte Rolle gespielt.

Im August 1914 bei Beginn des ersten Weltkriegs wird Jawlensky aufgefordert, innerhalb von 48 Stunden Deutschland zu verlassen, was für ihn eine schwere seelische Erschütterung bedeutet. Das Atelier und der gesamte Haushalt in München werden von den Freunden Adolf Erbslöh und Lily Klee gehütet. Er siedelt in die Schweiz nach St. Prex am Genfer See über und verliert den Kontakt zu den Münchner Künstlern. Nach einer Schaffenskrise beginnt Jawlensky, seine „Variationen über ein landschaftliches Thema“ zu malen. In Lausanne findet 1915 eine Ausstellung mit Werken russischer Exilanten statt, wo Jawlensky sein Gemälde „Der Buckel I“ zeigt. Emmy Scheyer (1889–1945), eine in Braunschweig geborene Malerin, sieht diese Ausstellung und sucht Jawlensky 1916 in St. Prex auf. Sie ist von seiner Kunst so beeindruckt, dass sie beschließt, ihre eigene Malerei aufzugeben und sich der Verbreitung seiner Werke zu widmen. Aufgrund eines Traums, in dem ihm Emmy als Dohle (auf Russisch „Galka“) erschien, die er in einer Papiertüte an seiner Brust wärmte, nennt Jawlensky sie fortan und in allen seinen Briefen in russischer Kosenamenmanier „Galka“ [29]. Sie übernimmt den Spitznamen bei ihrer späteren Aussiedlung in die USA und Einbürgerung in Los Angeles als Galka E. Scheyer.

Nach einer Zwischenstation in Zürich bezieht Jawlensky 1918 mit Werefkin, Helene und seinem Sohn ein großes Haus in Ascona. Er beginnt mit der Bilderserie „Abstrakte Köpfe“, die er erst 1935 aufgrund seiner Erkrankung beenden wird. 1919 schließt Jawlensky die Reihe „Mystische Köpfe“ ab. Nach langen Konflikten, u. a. weil Jawlensky und Helene heiraten wollen, trennt sich Jawlensky 1921 von Werefkin. Er zieht nach Wiesbaden, weil die dort von Scheyer organisierte Ausstellung ein großer Erfolg war und mehrere seiner Werke verkauft wurden. Helene folgt ihm 1922 mit Sohn Andreas nach Wiesbaden, und die lange bestehende Verbindung wird durch die Heirat legalisiert. Er arbeitet in der Folgezeit vorrangig an den „Abstrakten Köpfen“, auch „Konstruktive Köpfe“ genannt.

Die am Bauhaus tätigen befreundeten Künstler Lyonel Feininger, Wassilij Kandinsky und Paul Klee gründen 1924 in Weimar zusammen mit Alexej von Jawlensky auf Betreiben von Galka Scheyer, die die drei anderen Künstler durch Jawlensky kennengelernt hat, die Ausstellungsgemeinschaft „Die Blaue Vier“. Der Name erinnert bewusst an die Künstlergruppe „Blauer Reiter“, dem die Künstler früher angehört bzw. nahegestanden haben. In der beginnenden Rezession zielt dieser Zusammenschluss auf den finanzkräftigen Kunstmarkt und auf Sammler in Amerika ab. Außerdem tauschen die Künstler, da sie in Freundschaft verbunden sind, ihre Werke untereinander aus. Durch Galka Scheyer, die „Die Blaue Vier“ als Kunstagentin und Organisatorin vertritt, wird die Gruppe in einer Ausstellungstour in den Vereinigten Staaten bekannt gemacht. Durch engagierte Bemühungen gelingt es ihr, mit Ausstellungen und Vorträgen zunächst in New York, später aber vor allem an der amerikanischen Westküste in San Francisco und in Los Angeles, Sammler und Museen für die Werke der Blauen Vier zu interessieren. Scheyer pflegt regen Kontakt mit den Künstlern und beherbergt in einem eigens dafür erbauten Haus in Hollywood eine eigene Sammlung. Sie platziert die Arbeiten der Blauen Vier in heute legendären Sammlungen, darunter bei den Regisseuren Fritz Lang und Josef von Sternberg sowie den Schauspielerinnen Marlene Dietrich und Greta Garbo. Der Einsatz von Scheyer ist damit Wegbereiter des internationalen Ruhms, den Feininger, Jawlensky, Kandinsky und Klee nach dem zweiten Weltkrieg mit ihrer Kunst erreichen. Galka gibt sich größte Mühe, die Werke von Jawlensky zu verkaufen, da er allein mit ihr einen Vertrag hat und der finanziell Bedürftigste ist. Häufig setzt sie die Preise herab – speziell für die kleinformatigen Bilder ab 1934, um ihm Einkünfte zu verschaffen [3]. Ab 1938 unterstützt sie ihn mit Hilfe von Geldern ihrer Freunde mit 200 Mark monatlich [3].

Der Einsatz von Galka Scheyer ist Wegbereiter des internationalen Ruhms, den Feininger, Jawlensky, Kandinsky und Klee nach dem zweiten Weltkrieg erreichen

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 erhält Jawlensky Ausstellungsverbot in Deutschland. Er schickt vermehrt Bilder zu Ausstellungen in die USA. Die Scheyer von Jawlensky anvertrauten Bilder kommen nach dem zweiten Weltkrieg in den USA als feindliches Eigentum öffentlich unter den Hammer, da er nach dem Krieg die russische Staatsbürgerschaft verliert und, um dem Zustand der Staatenlosigkeit ein Ende zu machen, schließlich 1934 deutscher Bürger wird [38]. Im Jahr 1937 werden 72 seiner Werke in öffentlichen deutschen Museen beschlagnahmt und als „entartet“ diffamiert. Während eines Aufenthalts in München besucht er die Ausstellung „Entartete Kunst“, wo auch einige seiner Werke gezeigt werden. Aufgrund der vollständigen Lähmung muss er 1938 das Malen aufgeben und bleibt fortan an das Bett gefesselt. Er stirbt am 15. März 1941 im Alter von 77 Jahren in Wiesbaden und wird auf dem dortigen russisch-orthodoxen Friedhof beigesetzt (Abb. 2). Sein Grab wurde 1971 vom Magistrat zum Ehrengrab bestimmt [29].

Abb. 2
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Grab Jawlenskys und seiner Frau Helene auf dem Russischen Friedhof Wiesbaden 1999 ([29], S. 145; mit freundlicher Genehmigung des Ulrike-Helmer-Verlags)

Wiesbaden und Jawlensky

Jawlensky ist der einzige Künstler von internationalem Rang, der im 20. Jahrhundert in Wiesbaden lebte. Nach dem ersten Weltkrieg war seine Existenz als Mensch und Künstler von Grund auf erschüttert: Er musste alles daran setzen, im offiziellen Kunstleben wieder wahrgenommen zu werden, Galerien und Museen für seine Werke zu interessieren und Kritiker zu gewinnen [20]. Die Entscheidung, 1921 nach Wiesbaden zu ziehen, begründete er in seinen Lebenserinnerungen wie folgt [49]: „In Wiesbaden hatte ich damals einen großen Erfolg. Ich begegnete dort sehr netten Menschen, und das bestimmte mich, meinen Wohnsitz in Wiesbaden zu nehmen.“ Damit bezog er sich auf die ungewöhnliche Wertschätzung durch den Verkauf von 20 Bildern anlässlich seiner Ausstellung, organisiert vom Nassauischen Kunstverein im Museum Wiesbaden im Januar/Februar 1921, von denen fünf Gemälde für den Kunstverein angekauft wurden [7, 27]. Sein Entschluss, nach Wiesbaden zu ziehen, entsprang aber auch der geplanten Trennung von Marianne von Werefkin. Er musste sich schweren Herzens und mit einer gewissen Skepsis entscheiden, nach Deutschland zurückzukehren, in das Land, aus dem er 1941 auf so entwürdigende Weise in die Schweiz abgeschoben worden war [19]. Galka Scheyer war die treibende Kraft, die für ihn die Ausstellungen organisierte und den Kontakt zu Sammlern herstellte. Die Verkäufe seiner Bilder durch sie an Sammler, Freunde und Künstlerkollegen in den folgenden Jahren von 1921 bis 1923 waren der wesentliche Teil seines Einkommens. Jawlensky selbst verkaufte nur wenige Gemälde. Der Wiesbadener Sammler Heinrich Kirchhoff hatte dauerhaft und zeitweilig rund 50 Gemälde von Jawlensky in seinem Besitz. Weitere Bilder wurden von Mitgliedern des Nassauischen Kunstvereins erworben, darunter auch von dem Sektfabrikanten Otto Henkel.

Seit dem Ausbruch der Revolution in Russland bekam Jawlensky keine Pension mehr; er musste allein von den Verkäufen seiner Bilder leben.

Der zunehmende Schwund der Kaufkraft und die Inflation in 1923, die Emigration von Galka E. Scheyer in die USA 1924 und der damit verbundene Rückgang von Verkäufen führten zur wirtschaftlichen Notlage des Künstlers, die später noch durch das infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 weitgehende Erliegen des Kunstmarkts und seine damals beginnende Krankheit wesentlich verschlimmert wurden. Aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten eröffnete Jawlenskys Frau 1928 einen Schönheitssalon in Wiesbaden, den sie jedoch im Februar 1932 wegen der allgemein schlechten wirtschaftlichen Lage wieder schließen musste. So wurde die 1928/29 von Hanna Bekker vom Rath, eine künstlerisch interessierte Nachkomme der Gründerfamilien der Frankfurter Hoechst-Werke, gegründete „Vereinigung der Freunde der Kunst von Alexej von Jawlensky“ eine entscheidende finanzielle Hilfe. Die Mitglieder zahlten monatlich mindestens 20 Mark und konnten nach vier Jahren, oder wenn ein Betrag von 960 Mark erreicht war, ein Bild des Künstlers erwerben. Damit war zumindest ein bescheidenes, aber festes monatliches Einkommen gesichert.

Die Werke Jawlenskys waren durch die Sammlung Kirchhoff, in der er mit seinen Variationen und frühen „Abstrakten Köpfen“ einen herausragenden Platz einnahm und die seit 1924 nach einer Ausstellung als Leihgabe überlassen wurde, bereits damals im Wiesbadener Museum gut vertreten. Zudem erwarb die Stadt Wiesbaden 1929 und 1931 fünf Gemälde für einen Gesamtpreis von 1300 Mark, was den starken Preisverfall der Kunst von Jawlensky deutlich macht. Mit Zunahme der Ausländerfeindlichkeit, speziell gegen die als Bolschewisten verfemten Russen (Jawlensky wurde erst ein Jahr später deutscher Staatsbürger), und unter dem Druck der nationalsozialistischen Kunstpropaganda gab der damalige Museumsleiter 1933 die Sammlung Kirchhoff an den Besitzer zurück. Die übrigen Arbeiten Jawlenskys wurden wie die anderen Werke moderner Kunst ins Depot verbannt. Schließlich zählte man ihn wie seine Freunde der Künstlervereinigungen „Blauer Reiter“ und „Die Blaue Vier“ zu den „perversen außerdeutschen Kunstbolschewisten“, und auch die noch im Depot verbliebenen Werke wurden 1937 im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ aus dem Wiesbadener Museum entfernt, so wie seine Werke aus anderen öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt und entfernt wurden [38]. Bedauerlicherweise fielen nach Kriegsende 1954 alle unverkauften Bilder von Jawlensky, die sich im Nachlass von Galka Scheyer befanden, aufgrund von Gesetzen über feindliches deutsches Eigentum in den USA der Beschlagnahmung anheim [38, 48]. Die Werke wurden in einer Auktion versteigert und von amerikanischen Museen und Privatsammlern erworben. Erst in den 50er-Jahren gelangten durch Leihgaben von Hanna Bekker vom Rath, Ankäufe aus dem Nachlass von Lisa Kümmel, der Jawlensky viele seiner Bilder geschenkt hat, und durch Ankäufe aus anderen Quellen eine größere Zahl von Gemälden und Zeichnungen wieder in das Wiesbadener Museum. Heute verfügt das Kunstmuseum über die umfangreichste Sammlung seiner Werke in Europa mit 56 Gemälden und 34 Zeichnungen, darunter auch das Bild „Erinnerungen an meine kranken Hände“ aus 1934, das zu der durch die Krankheit geprägten Serie der „Meditationen“ gehört ([18]; Abb. 3 a).

Abb. 3
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Bildserie „Meditationen“: a „Erinnerungen an meine kranken Hände“, 1934, Museum Wiesbaden ([37], S. 210; © VG Bild-Kunst, Bonn 2011); b „Glut“, 1935, Privatsammlung ([48], S. 41; © VG Bild-Kunst, Bonn 2011); c „In Andacht“, 1937, Privatbesitz ([48], S. 47; © VG Bild-Kunst, Bonn 2011); d „Harmonie in Rot, Große Meditation, N.19/II“, 1937 ([35], S. 270; © VG Bild-Kunst, Bonn 2011)

Wiesbadener Künstlerkollegen begleiteten Jawlensky in seinen schweren Jahren als Freunde. Die Innenarchitektin Lisa Kümmel, der er 1927 begegnete, half ihm in den nächsten Jahren, sein Werk zu ordnen und ein erstes Werkverzeichnis [38, 49] zu erstellen. Sie war ihm später auch bei seiner geschäftlichen und persönlichen Korrespondenz behilflich und übernahm 1937 die von ihm diktierte Niederschrift seiner Lebenserinnerungen. Sie betreute seine Bilder, trug auf der Rückseite der im Atelier befindlichen Arbeiten Archivnummern ein, wachste, firnisste und klebte die Arbeiten auf [38]. In ihren Tagebüchern erwähnte sie außerdem immer wieder das Auswaschen der Pinsel und das Reinigen der Palette [29]. Nach ihrem Tod in einem Bombenangriff 1944 hinterließ sie eine große Zahl von Jawlensky-Arbeiten, die sie in Verwahrung für potenzielle Käufer oder als Geschenk erhalten hatte. Hiervon erwarb das Museum Wiesbaden 1948 und 1951 aus Verkaufsausstellungen, die von ihren Eltern veranlasst wurden, insgesamt zehn Bilder, davon sechs Meditationen. Weitere Freunde waren die beiden Wiesbadener Maler Otto Ritschl (1885–1976) und Alo Altripp (1906–1991). Letzterer besuchte Jawlensky seit 1934 regelmäßig einmal die Woche, um Lisa Kümmel bei der Ordnung und Auflistung der Werke zu helfen. Später unterstützte er die Familie bei der Pflege des gelähmten Künstlers.

Verlauf und Therapie der rheumatoiden Arthritis

Die folgende Darstellung der Krankengeschichte stützt sich überwiegend auf die Auswertung der im Jawlensky-Archiv aufbewahrten Kopien der Briefkorrespondenz mit Galka Scheyer und vereinzelt auf Briefe an andere Adressaten (Dr. Mela Escherich, Hanna Bekker vom Rath, Lisa Pines), die ebenfalls vom Jawlensky-Archiv zur Verfügung gestellt wurden. Die Wortwahl, der Satzbau und die grammatikalischen Besonderheiten in den Briefen sind auf die russische Muttersprache Jawlenskys zurückzuführen. Zitate aus den Briefen folgen deshalb weitestgehend dem Original, um die Unmittelbarkeit und Lebendigkeit der Korrespondenz zu erhalten. Korrekturen der originalen Schreibweise wurden nur bei eindeutigen Tipp- bzw. Schreibfehlern oder gravierenden Auslassungen vorgenommen. Einige der Briefe sind bereits in Katalogen und Büchern, vor allem in der Zusammenstellung des Briefwechsels zwischen der Scheyer und der Künstlergruppe „Die Blaue Vier“, veröffentlicht worden, allerdings ohne die hier eingebrachte medizinisch-rheumatologische Bewertung [52]. So findet sich mit wenigen Ausnahmen in fast allen kunsthistorischen Schriften selbst jüngeren Datums und in den einschlägigen Biographien die irreführende und für uns heute unkorrekte Diagnose einer Arthritis deformans anstelle einer rheumatoiden Arthritis oder chronischen Polyarthritis. Dies geht auf eine Angabe von Jawlensky selbst zurück, der diese Diagnose in seinen Lebenserinnerungen angegeben hat [49]. Ärztliche Dokumente über seine Erkrankung oder Berichte seiner behandelnden Ärzte sind nicht verfügbar.

Ärztliche Dokumente über Jawlenskys Erkrankung oder Berichte seiner behandelnden Ärzte sind nicht verfügbar

Im Februar 1926 schrieb Jawlensky, dass er zerrissen, unruhig, unglücklich und seelisch krank sei wegen des dauernden Kampfes, um seine Arbeiten zu verkaufen. Er verstehe nicht, so zu leben und so zu kämpfen, er möchte Ruhe haben. Im März 1928 klagte er wiederum, dass er zerrissen und müde sei. Im Sommer 1928 erwähnte Jawlensky erstmals, dass er sich nicht gut fühle und krank sei. Im September war dann zu erfahren, dass er beim Arzt gewesen und es nichts Schlimmes sei, dass er Rohkost gegessen habe und es ihm wieder besser gehe.

Im Februar 1929 schrieb er: „Letzte Zeit war ich krank und huste bis jetzt wie ein … wie ein Kamel, oder Schaf.“ In einem von Oktober/November des gleichen Jahres datierten Brief heißt es: „Ich musste schon längst Ihnen schreiben, aber es ging nicht: ich war und bin noch krank und darüber sehr, sehr deprimiert bin. Ich kann nicht gehen wegen Fuss. Und niemand weiss, was ist bei mir. Acht Ärzte haben kurieren und es ist nicht besser. Nur der große Entzündung ist weg, aber ich kann kaum gehen. Schrecklich. Überhaupt ist etwas nicht recht in mir.“ Bei der Eröffnung einer gemeinsamen Ausstellung mit Kandinsky und Feininger im September 1929 in Berlin konnte er kaum stehen, musste vorzeitig gehen und sich ins Bett legen. Weiter schrieb er: „Und so liege ich schon so lange mit Schmerzen und nur ein paar Tage es ist etwas besser, aber gehen kann ich nicht.“ Diese Selbstzeugnisse belegen den Krankheitsbeginn im Alter von 65 Jahren als Alterspolyarthritis mit atypischer Erstmanifestation im Bereich der Füße und vermutlich mit einem längeren Prodromalstadium mit Allgemeinsymptomen und Zeichen eines respiratorischen Infekts. Der atypische Krankheitsbeginn mag auch einer der Gründe dafür gewesen sein, dass er viele verschiedene Ärzte erfolglos aufsuchte und lange Zeit nicht die richtige Diagnose gestellt wurde.

Selbstzeugnisse belegen den Krankheitsbeginn im Alter von 65 Jahren als Alterspolyarthritis mit atypischer Erstmanifestation im Bereich der Füße

Die Erkrankung schritt fort (Abb. 4), und Jawlensky wurde im Sommer 1930 für drei Monate in einer anthroposophischen Klinik in Stuttgart unter Leitung von Dr. Otto Palmer behandelt (Tab. 1). In Briefen an die befreundete Wiesbadener Kunsthistorikerin und -kritikerin Dr. Mela Escherich und an Hanna Bekker vom Rath berichtete er im Juni und Juli, dass er wegen großer Schmerzen in Fußgelenken zwei Tage unbeweglich im Bett gelegen habe, dass seine Hände, besonders die rechte Hand, befallen seien und er kaum die Feder halten könne [38]. „Alles was ich machen muss: mich rasieren oder mich anziehen, oder schreiben macht mir undendlich weh“, klagte er. Die Schmerzen plagten ihn besonders nachts. Er blieb deshalb viel im Bett. Sehr positiv beschrieb er die Aufmerksamkeit der Ärzte und die menschliche Atmosphäre. Zur Diagnose teilte er mit, dass man in der Klinik nicht denke, dass er Gicht habe. Zur Behandlung ist lediglich zu erfahren, dass seine Hände stundenlang in Heilerde gelegen hätten. Nach dem Klinikaufenthalt folgte im August ein Kuraufenthalt im Hotel Cyrill-Hof in Pistyan (damals Tschechoslowakei, heute „Piešťany“, größte Kurstadt in der Slowakei). Dort konnte er besser gehen, und auch seine rechte Hand besserte sich. Die Ärzte fanden keine Erhöhung der Harnsäure im Blut, sodass auch hier die Diagnose „Gicht“ abgelehnt wurde und man stattdessen von Rheuma sprach. Er aß vegetarische Kost, die nicht sehr gut war, und als Anwendungen bekam er intensive Schwefel- und Schlammbäder mit anschließendem 20-minütigem Schwitzen [29], was nach heutiger Kenntnis bei aktiver rheumatoider Arthritis wegen des zu starken Reizes nicht indiziert ist. So kamt es nach der zeitweisen Besserung seit Herbst 1930 zu einem Schub der Erkrankung, wie einem Brief an Lisa Pines zu entnehmen ist: „Jetzt bin ich mehr als 2 Monate im Bett. Ich kann nicht gehen und habe Schmerzen in Knien, ich leide an schwerem Gelenkrheumatismus. Sonst bin ich sehr lebendig und fühle mich gut.“ Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, und die Schmerzen nehmen zu.

Abb. 4
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Zeitlicher Verlauf der Manifestation an Gelenken und Halswirbelsäule

Tab. 1 Alexej von Jawlensky: Behandlungen und Therapiemodalitäten

Anfang Februar 1931 berichtete er über seine Krankheit und deren Auswirkungen: „Mein Hand erlaubt nicht selbst zu schreiben, meine schwere Krankheit nimmt alles was ich habe. Der Arzt kommt von Frankfurt wöchentlich, und das kostet mich jedes Mal 40 MK. Ich liege schon 5 Monate im Bett, ich habe weniger Schmerzen, aber gehen kann ich noch nicht, arbeiten auch nicht, und das macht mir schrecklich traurig. Ach Galka! Ich möchte so sehr wieder beweglich sein, aber oft habe ich sehr grausame Gedanken, und ohne Geld werde ich sicher zu Grunde gehen, denn ich muss mich lange noch kurieren, und das kostet mich sehr, sehr viel Geld.“ Das Leiden und die wenig erfolgreiche Behandlung gingen weiter, wie im Mai 1931 zu erfahren war: „Soeben war der Arzt da. Man hat mich gequält. Viel Blut abgenommen und anstatt Blut Salzwasser eingespritzt, viel und lange. Weh. Galka, liebe, Galka von meinem Traum, ich liege nicht mehr, aber ich kann noch nicht gehen: die Knien und Füsse noch geschwollen sind und Schmerzen. Meine arme Hände sind noch so schlecht. Aber ich kann den Pinsel halten und ich kann schreiben, trotz den steifen Fingern. Ich muss noch so viel mit mir machen und so viel leiden. Man hat mir alle meine Zähne rausgenommen in Gedanke, dass die Zähne die Ursachen meiner Krankheit sind. Aber das hat nicht geholfen. Jetzt muss ich noch die Zähne machen lassen. Ich esse nur alles weich.“ Ende Mai 1931 konnte er wieder schreiben und malen. Er schieb in einem Brief an Lisa Pines: „Ich bin nicht mehr im Bett, wo ich fast 5 Monate war und so gelitten – Ach Lisa, Lisa, ich bin so deprimiert wegen meiner Krankheit... Die Ärzte wissen wenig von dieser Krankheit. Es gibt verschiedene Kurmethode. Mir ist besser, aber so langsam, so langsam geht diese Besserung. Schrecklich.“

Ende Juli 1931 wurde er nach einer vorangegangenen erfolglosen Behandlung in einer Privatklinik in Frankfurt zu einem neuen Therapieversuch mit dem Auto nach Mainz gefahren. Er teilte mit: „Prof. Hürter findet dass ich kein Rheuma habe, aber alles macht eine Drüse, die schlecht funktioniert. Ich bekomme jetzt täglich ein Spermin Injektion (Anmerkung: Spermin ist ein Polyamin, das als Körperbestandteil vorkommt, z. B. Sperma; Indikation als „Stoffwechselstimulus“ und „Nervenbelebung“ und zur „Förderung der Beweglichkeit“; Spermin bzw. die Spermidin/Spermin-Acetyltransferase wird heute als Target bei der antiinflammatorischen Therapie und bei Malignomen untersucht [43]). Also Verjüngerungskur und noch viele andere Sache. Ich fühle mich etwas besser: ich kann etwas besser gehen, die Schmerzen sind nicht so gross, aber es gibt Tage wo ich den ganzen Tag liegen muss … Meine Hände sind noch sehr schlecht, aber ich kann schon schreiben und ich habe auch gemalt.“

Mitte September 1931 wurde er bettlägerig und deshalb Anfang Oktober bei Prof. Hürter im Städtischen Krankenhaus Mainz stationär aufgenommen wird (Tab. 1). Dort wurde seine Erkrankung wieder als Gicht, aber in einer außergewöhnlichen Form, gedeutet. Aus einem Brief von Anfang November ist zu erfahren: „Ich liege hier etwas länger als einen Monat. Prof. Hürter ist unglaublich lieb und rührend zu mir und macht alles mögliche um mir zu helfen. Aber Gicht ist eine Krankheit welche Ursache man kennt nicht. Die Blut Analyse zeigt, dass ich 7% Harnsäure habe viel zu viel, von wo kommt das? Ich esse nur Rohkost und schon lange. Mich widert von Fleisch. Und nur beinah allein Fleisch produziert Harnsäure. Ich bin überzeugt, dass Ursache ist meine wahnsinnige seelische Depressionen in letzten 10 Jahren. Diese haben auf die Tätigkeit von einer Drüse gewirkt. Aber welche Drüse man weiss nicht. Am schlimmsten ist das meine Knie sind geschwollen und ich kann gar nicht gehen… Die letzten Wochen habe ich fürchterliche Schmerzen an Ohren gehabt, auch Gicht.“ Der letzte Satz weist auf einen möglichen Befall der Kiefergelenke (Abb. 4) hin, und auch diese Manifestation wurde auf die falsche Diagnose einer Gicht zurückgeführt. Eine Besserung trat nicht ein trotz Behandlung mit Diät (Gemüse und Rohkost), „Goldstaubeinspritzungen“, Röntgenbestrahlung und weiteren von Jawlensky als „Französischem und Englischem Mittel“ bezeichneten Medikamenten (Tab. 1). Nach zwei Monaten war er wieder zu Hause, litt weiter an heftigen Schmerzen, war sehr schwach geworden, konnte kaum sitzen und gehen und lag oft im Bett. Ende Dezember teilte er mit, dass es ihm etwas besser gehe, er wieder sitze und unter großen Schmerzen mit zwei Stöcken im Zimmer etwas gehen könne.

Mitte September 1931 wurde Jawlensky bettlägerig

Im Februar 1932 trank er als neue Therapie Radiumwasser, und nach einer Pause von zwei Wochen werden die Gelenke mit Radiumkompressen behandelt. Der Radiumtherapie wurde zu dieser Zeit eine bessernde und heilende Wirkung bei verschiedenen chronisch verlaufenden Erkrankungen zugeschrieben, darunter auch bei Gicht, subakutem und chronischem Gelenkrheumatismus und beim Muskelrheumatismus [15]. Wir wissen nicht, wer ihm diese Therapie verordnet hat und woher er die radiumhaltigen Mittel erhielt. Im nahegelegenen Bad Kreuznach wurden neben radiumhaltigen Bädern und Radiuminhalation auch Radiumtrinkuren durchgeführt und von der dortigen „Dr. Aschoff’s Schwanen-Apotheke“ Radiumkompressen angeboten [15]. Ende März schrieb Jawlensky: „Heute habe ich schreckliche Schmerzen in Nacken. Ich kann kaum den Kopf bewegen.“ Diese Beschwerden lassen sich als erstmalige Manifestation einer Zervikalarthritis interpretieren (Tab. 2). Er trank weiter Radiumwasser und nahm „Betäubungsmittel“, um aufstehen und arbeiten zu können. Mitte Mai berichtete er, dass man ihm wegen seiner Krankheit alle Zähne gezogen habe, er abscheulich aussehe und kaum kauen könne.

Tab. 2 Alexej von Jawlensky: extraartikuläre Manifestationen

Die Odyssee der Fehldiagnosen und polypragmatischen, erfolglosen Therapieversuche ging im Rahmen einer stationären Behandlung, zu der er nach Berlin gereist war, weiter. So schrieb er in einem Brief vom Juni 1932: „Ich bin seit einigen Tagen zu hause … 2 1/2 Wochen lag ich im Krankenhaus. Prof. Gudzent ist überzeugt, dass meine jetzige Krankheit ist Fortsetzung von meine Nesselfieber (Anmerkung: 1919 erkrankte Jawlensky an Nesselfieber, einem Lungenleiden und erleidet Koliken, die ihn schwächen und 1919 und 1920 zu Klinikaufenthalten in der Zürcher Klinik von Dr. Bircher-Benner zwingen), die in Gelenke gegangen ist. Die Ursache von Nesselfieber glaubt in falsche Nährung liegt. Er hat mir 8 verschiedene Impfungen gemacht, um zu wissen an was mein Blut reagiert. Er hat geimpft: Fleisch, Fisch, Milch, Eier und so weiter. Nur auf Milch hat mein Blut reagiert. Das heißt alles was mit Milch, Butter und so weiter schädlich für mein Blut sind. Mann macht mir jetzt alles ohne Butter. Ich bekomme täglich Injektion von Radiophan und jede 4 Stunde, Tag und Nacht, schlucke ich ein Pyramidon (Anmerkung: Firmennahme für das dem Metamamizol Novalgin® verwandte Analgetikum/Antipyretikum Aminophenazon, das wegen seines kanzerogenen Metaboliten Dimethylnitrosamin heute nicht mehr verfügbar ist). Invalide bleibe ich, aber wenn ich nur gehen konnte und arbeiten, ohne die Schmerzen, werde ich zufrieden sein. Ich habe so einen Angst meine Hände zu verlieren und nicht arbeiten können. Das wäre schrecklich. Berlin kostete mir viel Geld. Aber ich bin zufrieden, dass ich dort war.“ Das Präparat Radiophan ist eine Kombination aus Radium und dem Schmerzmittel Atophan, das zeitweise vor allem bei Gicht eingesetzt wurde. Eine Ampulle enthält 0,5 g phenylchinolinkarbonsaures Natrium und 1,3×106 mg (10.000 Eman Aktivität) Radiumchlorid (Allgem. Radiologen-Aktiengesellschaft, Berlin; [30]). Nach den Erfahrungen von Prof. Gudzent, der langjährig an der 1. Medizinischen Universitätsklinik der Charité die Radiumtherapie erforscht hat und dann privatärztlich im Westsanatorium Berlin tätig wurde, waren 15 bis 24 intravenöse oder intramuskuläre Injektionen erforderlich [15]. Radiophan sollte unmittelbar nach den Injektionen stark schmerzstillend wirken und durch den Atophananteil die vorübergehend negativen „Reaktionen“ des Radiums (z. B. Schmerz, Rötung und Schwellung der Gelenke, Temperaturerhöhungen, Abgeschlagenheit, Müdigkeit) mildern [15]. Zu Hause ging es Jawlensky schlecht, die Schmerzen waren stärker denn je (eine mögliche „Reaktion“ der Radiumtherapie?), den rechten Arm konnte er kaum bewegen, und er machte alles mit dem linken Arm. Als neue Therapie wurde eine Röntgentiefenbestrahlung begonnen: Er nahm alle vier Stunden Gelonida (damals ein analgetisch/antipyretisches Kombinationspräparat aus Phenacetin und Codein, heute wegen der möglichen Nierenschädigung nicht mehr im Handel und durch den Metaboliten Paracetamol plus Codein ersetzt) und erhielt wieder Injektionen mit Radiophan (Tab. 1).

Anfang August 1932 trat er eine Kur in Bad Wörishofen an. Er schrieb von dort: „Man kuriert mit Güssen (kalt und heiß), besonderen Bäder, mit Schwitzen und so weiter. Heute muss ich noch 3 Zähne ziehen lassen. Nach den Röntgen Aufnahmen sind dort die Herden von Bazillen … Ich will noch Parafin Packungen nehmen, das hilft sehr gegen Rheuma. Den ganzen Tag bin ich nur in den Händen von Bademeister oder Masseur. Ich kann besser gehen, aber ich habe viel Schmerzen in den Beinen.“ Nach den kalten Blitzgüssen fühlte er sich nicht sehr gut, die heißen Bäder bekamen ihm sehr viel besser. Bezüglich des Essens berichtete er, dass er nur Rohkost oder vegetarisch esse. Er werde viel massiert. Insgesamt empfinde er die Kur als anstrengend. Zum ersten Mal wurde eine für uns heute selbstverständliche Bewegungstherapie durchgeführt mit dem entsprechenden Erfolg. Hierüber berichtet er [52]: „Ich mache Gymnastik immer um meinen Gelenken beweglich zu machen, aber das kostet mir viel, viel Schmerzen, und dann ich gehe viel, was ich seit 3 Jahren nicht machen konnte. Ich gehe mit 2 Stöcken, mit einem Stock und sogar etwas nur mit meinen 2 Beinen. Es ist sehr schmerzhaft, aber ich lasse nicht los und gehe sogar so einige Kilometer weit, sehr langsam und mit Pausen.“ Ende September kehrte er nach Hause zurück; es ging ihm besser, und er setzte die Kneipp-Anwendungen in Wiesbaden fort. Einem neuen Therapieversuch mit Diathermie, UV-Bestrahlung, Elektrobädern und Massagen unterzog er sich Ende November und Anfang Dezember 1932, da ihm seine Ärzte sagten, es gebe keine richtige Kur gegen Rheuma und er müsse alles probieren (Tab. 1). Hierfür fuhr er täglich nach Mainz – eine für ihn in der kalten Jahreszeit sehr ermüdende Reise. Erstmals klagte er zu dieser Zeit über starke Schmerzen in Ellbogen und den „Schulterplatten“ (Abb. 4).

Das Leiden und die dadurch verursachte finanzielle Not wurden immer größer.

So hieß es Anfang Januar 1933: „Ich brauche immer einen Arzt, Apotheke, muss immer eine Kur machen und auch essen etwas anders (und ich esse so wenig). Und das kostet Geld … Ich habe nur 5 Zähne und kann mir nicht erlauben Zähne machen (die Zähne sind rausgezogen wegen meiner Krankheit) … Die Ellbogen sind geschwollen, die Finger beinah steif, nur mein Geist ist lebendig, aber auch oft er leidet und wie. Schmerzen habe ich in allen Gelenken, da alle sind geschwollen. Ich sitze meistens zu hause. Aber ich verliere den Mut nicht. Ich hoffe dass etwas wird mir helfen, etwas werde ich doch finden, einen Mittel, oder eine Kur das mir helfen wird und mir wieder beweglich machen wird.“ Dennoch malte er mit großer Energie und Anstrengung, oft nachts. Wegen des Geldmangels gab er die physikalischen Therapien auf und nahm nur noch Gelonida als Schmerzmittel. Anfang Juli schrieb er: „Inzwischen hat mir ein Arzt besondere Einspritzungen, sehr schmerzhaft gemacht, aber ohne Erfolg. Ich gehe schlechter.“

Auf Anraten seiner Ärzte fuhr er Ende Juli 1933 für fünf Wochen zu einer Kur nach Baden, Schweiz. Er wurde dort mit Schwefelbädern, Diathermie und Höhensonne behandelt (Tab. 1). Die Anwendungen waren für ihn sehr anstrengend; es kam zu einer Zunahme seiner Schmerzen und in den folgenden Monaten zu einer weiteren Verschlechterung, die er auf die Kur zurückführte. Diese Schlussfolgerung ist gut nachvollziehbar, da Schwefelkuren bei Arthritis zur Aktivierung der Entzündung führen können. Im Dezember ging es ihm so schlecht wie nie zuvor: Er könne vor Schmerzen nicht schlafen und seine Arme nicht heben. Er läge bereits seit zwei Monaten im Bett, könne nicht gehen und stehen, und zum Schreiben müsse man ihm die Hand auf den Tisch legen und die Feder zwischen die Finger stecken. Da ihm alle bisherigen Ärzte nicht geholfen hätten, suche er einen Augendiagnostiker und Homöopathen auf. Sein Zimmer sei von einem Rutengänger untersucht worden, der eine „sehr starke unterirdische Ausstrahlung“ gefunden habe, weshalb er die Wohnung verlassen müsse.

Ende Februar 1934 berichtete er, dass sein Zustand weiterhin sehr schlecht sei, er seit Oktober das Haus nicht mehr verlassen habe und den ganzen Tag über jede Stunde wechselnde homöopathische Mittel einnehme, die sein Arzt ihm telefonisch verordne. Über einen neuen Therapieversuch schrieb er Mitte April Folgendes: „Es gibt hier in Wiesb(aden) einen Arzt Vaubel und er hat eigene System solche Krankheiten zu kurieren und hat sehr, sehr vielen geholfen, aber auch nichts, sondern wäre es ein Wunder. Der Arzt ist nicht jung, 61 Jahre alt. Er kommt zu mir, da ich überhaupt nur mit schrecklichen Schmerzen kriechen kann, jeden Tag um 9 Uhr früh, ich bin noch im Bett und macht mir Einspritzungen, in Gelenke, Tiefe, von 12 bis 20 Einspritz.. So, heute die Knie, morgen Füße, dann Ellbogen, Schultern, Hände und Finger. Gestern habe ich in allen Finger meiner rechten Hand bekommen. Es war sehr, sehr schmerzhaft, aber er will meine steifen Finger elastisch machen. Er kommt zu mir schon 1 1/2 Monate lang. Und immer ich erwarte den Arzt mit schrecklich gespannten Nerven. Es ist doch sehr qualvoll, sehr. Bis jetzt aber sehe ich sehr wenig Erleichterung. Aber der Arzt ist so sicher, dass er mir helfen wird und bittet nur Geduld. Mit was er spritzt ist sein Geheimnis. Niemand weiss darüber sicher, kein Arzt. Aber wie ich sage, er hilft vielen und hat täglich von 60 bis 70 Pazienten. Die Krankheit Artritis deformans (was ich habe) hat die Ursache ganz verschieden, aber die Folgen sind dasselben. Schmerzen in Gelenken, Knochenverwachsung und Steifheit. Also ich werde diese Kur, trotzdem ich das sehr schwer aushalten kann, weiter machen. Was er von mir verlangen wird – weiss ich nicht. Bezahlen kann ich doch nicht. Von anfangs habe ich ihm gesagt, dass ich mit ihm darüber sprechen will und er hat mir geantwortet: ‚Ich weiss schon’. Er weiss, dass ich arm bin und jetzt nichts hier verkaufen kann. Zur Kunst, mir scheint, hat er keine Interesse.“ Die hier erstmals in den Briefen vermerkte, unzutreffende Diagnose Arthritis deformans findet sich auch in seinen Lebenserinnerungen und geht deshalb in die späteren kunsthistorischen Darstellungen seiner Biographie ein. Im gleichen Brief findet sich der Hinweis auf die durch die funktionelle Einschränkung bedingte Änderung seiner Maltechnik: „Wenn ich nur kann sitze ich vor der Staffelei und meditiere in Farben. Aber da mein Arm in Ellbogen krumm ist und entsetzlich schmerzt und die Finger steif sind, kann ich nicht auf meine gewönliche Größe malen und male ganz kleine Sachen, wo ich mit andere Technik und mit meiner jetzigen Zustand etwas anderes sage. Aber die Sachen sind interessant für Menschen welche das empfinden können.“

Ende Juli schrieb Jawlensky: „Drei Monate kommt der Doktor zu mir und macht mir täglich viele Einspritzungen und mir ist gar nicht besser … Ich möchte Dir einige meine kleine Arbeiten schicken (Köpfe). Da ich den Pinsel nur mit 2 Händen halten kann, dann ist die Technik ganz anders geworden, aber sie sind sehr lebendig und tief.“ Trotz seiner quälenden Schmerzen in den Schultern, einer Steifigkeit des Halses und der Bewegungseinschränkung, die ihn daran hindere, seine Wohnung zu verlassen, genieße er die sonnige Terrasse und sitze oft im Garten, wie er seinem Künstlerfreund Kandinsky mitteilte [3]. Seelisch sei er ruhig, obwohl die jetzige Situation schwer zu ertragen sei [3]. Die täglichen Einspritzungen gingen das ganze Jahr über weiter, ohne dass eine Besserung eintrat, aber auch ohne eine Verschlechterung. Trotz seiner Schmerzen arbeitete er einige Stunden, nachdem er meistens bis elf Uhr im Bett gelegen hat, vermutlich wegen der Morgensteifigkeit. Seine Frau Helene musste ihm beim Anziehen, Waschen und oft auch beim Essen helfen. Im März machte er eine sehr schmerzhafte Blasenentzündung durch, und im Mai berichtete er über eine Bronchitis. Die Erkrankung schritt fort, er verließ nicht mehr sein Haus, saß oder lag in seinem Zimmer; oft war er tagelang bettlägerig. Seine Stimmung beschrieb er als traurig und düster. Hinzu kam die finanzielle Not.

Das Geld von der „Jawlensky-Gesellschaft“ ist kaum ausreichend für Wohnung, Gas und Licht, Wäsche und Essen. Wegen seiner Krankheit und der Medikamente musste er Schulden machen. So erwähnte er, dass ihn eine Kräutermedizin, die er langfristig einnehmen müsse, pro Monat neun Mark koste. Im Sommer wurde sein Leiden erträglicher: Er konnte wieder etwas gehen, und die Schmerzen waren geringer, aber er beschrieb sich als „mit den Nerven sehr herunter“. Die Besserung wollte er nutzen und reist zu Freunden nach Basel, wohin auch Lisa Kümmel eingeladen war, die ihm helfen konnte. In einem Brief im November berichtete er: „Und diese Reise war die unglücklichste, welche ich in mein Leben gehabt habe. Alles klappte nicht. Und als ich nach Basel kam, bekam ich eine Knieentzündung und war 2 Wochen zu Bett. Nach diesen Wochen mir war etwas erträglicher, ich konnte mit Lisa Hilfe einige Schritte machen, bin ich nach Bern gefahren um Klee zu besuchen. Aber Klee war auch krank und wir konnten ihn wenig sehen. Ich habe übrigens ihm meine paar kleinen neuen Arbeiten gezeigt. Er war sehr entzückt und wollte gleich tauschen was wir auch gemacht haben. Aber in Bern musste ich wieder die ganze Woche in Hotel liegen bleiben, Gott lob, dass Lisa bei mir war. Sie war geduldig und reizend mit mir. Und dann fuhren wir direkt nach Wiesbaden. Aber mit welche Schwierigkeiten musste ich rechnen mit An- und Aussteigen in Wagon!! Oh, oh. Und jetzt bin ich 2 Wochen zu Hause und meistens in Bett und leide, leide, leide von Schmerzen überall und bin sehr wenig beweglich. Arbeiten kann ich noch nicht. Den ganzen Sommer und Frühling habe ich unglaublich viel gearbeitet. Ich habe sehr, sehr schöne kleine Arbeiten gemacht. Wirklich gut. Auch habe ich größere gemalt, aber viel größere Formaten mir war beinah unmöglich zu machen.“

Aus dem Jahr 1935 ist lediglich zu erfahren, dass er nun Diffundol (ein Einreibungsmittel, vermutlich hyperämisierend wie Nikotinsäure [43]) und ein anderes Mittel benutze. Er bleibe weiterhin viel im Zimmer und könne selten für einige Minuten auf die Straße gehen. Ende November 1935 schrieb er: „Die Ursache meiner Krankheit hat niemand verstanden und nicht darum kuriert. Ich spreche mit meinem Gott und bete und bitte mir verzeihen und geben mir Möglichkeit noch etwas Grösseres zu machen. Wenn ich nicht so beständige Schmerzen hätte. Ich male indem ich den Pinsel mit 2 Hände halte und die Palette mit einer Seite liegt auf den Staffelei und mit andere auf meinen Knien. Ach wie schmerzt mir oft unerträglich zu malen!“ Die zunehmende Behinderung beim Malen zeigt Abb. 5.

Abb. 5
figure 5

Jawlensky in seinem Wiesbadener Atelier: a April 1933 mit Palette (© Jawlensky-Archiv); b 1935 vor der Staffelei (© Jawlensky-Archiv); c Dezember 1936 mit beiden Händen malend (© Jawlensky-Archiv), mit Ausschnittsvergrößerung

Im Winter und Frühling 1936 ging es ihm noch schlechter: Er konnte kaum ein paar Schritte machen (Abb. 6 a; stehend mit Stock) und klagte über oft fürchterliche Schmerzen besonders in den Ellenbogen, aber „meine krummen Arme erlauben den Pinsel zu halten und das ist genug für mich“, wie er im März berichtete. Im April teilte er mit: „Seelisch bin ich noch sehr lebendig und muss mein Körper in solche Zustand halten, dass er mir erlaubt zu arbeiten. Ich habe jetzt nichts anderes nur meine Kunst und Kunst überhaupt. Ich arbeite immer, oft mit Tränen von Schmerzen, aber ich arbeite, arbeite immer … Ich bin oft unendlich traurig, allein, allein, vergessen als Künstler, alles in mir selbst, ich arbeite nur für mich, das ist meine Klage, mein Gebet.“ Im Oktober ging es ihm so schlecht, dass er dachte, sein Ende sei gekommen: Er konnte wegen starker Schmerzen in den Knien kaum einen Schritt machen, und außerdem hatte er hohes Fieber. Im November rief er wieder den Arzt zu sich, der ihm im Jahr zuvor die Spritzen gegeben hatte, und berichtete darüber: „Wieder macht er mir tiefe Einspritzungen, 15 bis 20 auf einmal. Und nachher, der ganze Tag leide ich, leide schrecklich. Heute habe ich in dem Kreuz 20 Einspr. bekommen. Es ist 5 Uhr abends. Ich bin allein. Und mir ist so schlecht, Schmerzen, Schmerzen. Ich leide. Ich muss viel arbeiten und ich tue das: Gott weiss wie lange kann ich den Pinsel halten. Ach Gott! Ich arbeite mit Ekstase und mit Thränen in Augen und ich arbeite so lange die Dunkelheit kommt. Dann bin ich erschöpft und ich sitze unbeweglich, halb onmächtig und mit schrecklichen Schmerzen in Händen, o Gott, o Gott. Ich sitze und die Dunkelheit mich umhült und die schwarze Gedanken kriechen zu mir. Licht, Licht! Und alle Wände fliessen die Farben und Galka schaut so ernst und so geheimnisvol in meinen Augen. Ich bin allein. Die Stille summt und ich höre wie mein Herz bebt. Allein, allein.“

Abb. 6
figure 6

Jawlensky in Wiesbaden: a 1936 mit einem Stock (© Jawlensky-Archiv); b Mai 1937 mit seiner Ehefrau Helene und Sohn Andreas, 2 Stöcke (© Jawlensky-Archiv); c August 1937 im Rollstuhl mit dem Wiesbadener Sammler Dr. Kugel, Frau Kugel und Lisa Kümmel (v. links; [12], S. 214; © Fotoarchiv Fäthke-Born, Wiesbaden)

Im Jahr 1937 wurden die Briefe seltener. Er klagte über „… mein Kopf ist schwindlich, alles dreht um. Schreckliches Gefühl“, „Ich kann jetzt meinen Kopf kaum drehen, so ein Schmerz“ und „… ewiges Kopfdrehen. Schauderhaft.“ – Beschwerden, die sämtlich auf eine HWS-Beteiligung hinweisen können (Tab. 2). Im Juli begann er eine lange gewünschte Kur in Bad Wörishofen. Der behandelnde Arzt glaubte, dass in den Beinen Bazillen sind, welche Gifte produzieren. Trotz einer intensiven Behandlung durch die Bademeister war der Erfolg dieses Mal nicht so gut: Er konnte kaum gehen und wurde mit dem Rollstuhl ausgefahren (Abb. 6 b zeigt den Gebrauch von zwei Stöcken, Abb. 6 c das Ausfahren im Rollstuhl). Die Schmerzen waren sehr groß geworden, möglicherweise weil die Anwendungen zu stark waren, wie er selbst meinte. Da ein zur Kostendeckung geplanter Bilderkauf zurückgenommen worden war, brach er die Kur nach fünf Wochen aus Geldmangel ab. Er schuldete Hanna Becker vom Rath 300 RM, die er ihr so schnell wie möglich zurückgeben wollte. Von Wörishofen fuhr Jawlensky nach München und besuchte zusammen mit seiner Frau Helene die Ausstellung „Entartete Kunst“, in der auch einige Bilder von ihm gezeigt wurden. Anschließend war er sehr krank und für fünf Wochen bettlägerig.

Mitte März bis Anfang Mai 1938 ließ Hanna Becker vom Rath Jawlensky auf ihre Kosten im Krankenhaus in Hofheim behandeln [29]. Aus dem Tagebuch von Lisa Kümmel ist zu erfahren, dass seine „Nerven kaputt sind, so daß er bei jeder Kleinigkeit weint“. Diese tiefe Depression verwundert kaum, wenn wir die starken chronischen Schmerzen, die zunehmende Bewegungsunfähigkeit und die finanzielle Notlage als psychische Belastungen berücksichtigen. Es kam zu einer weiteren Verschlechterungen seines Zustands, und über Mitte Juli 1938 berichtet das Tagebuch ([29], Tab. 1 und Tab. 2): „Heute kam das Resultat von all den Untersuchungen, es ist niederschmetternd, er hat die Blutkrankheit Verringerung der roten Blutkörperchen. Jetzt muß er nur Leber und rohes Fleisch essen und Salzsäure einnehmen. Herzbeschwerden, Augenbeschwerden (doppeltes Sehen), ein Abzeß, das operiert werden muß. Jawlensky leidet und leidet. Er weint oft.“

Die letzten Gemälde entstanden im Dezember 1937; von Anfang 1938 sind bislang nur einige Zeichnungen bekannt. Schreiben konnte Jawlensky noch ein halbes Jahr nach seinen letzten Bleistiftzeichnungen, und im Juli 1938 unterschrieb er eigenhändig, wie erforderlich, das Lia Kümmel diktierte Testament [29]. Der letzte handgeschriebene Brief an Scheyer, dem man die Mühe, die Jawlensky beim Schreiben hatte, deutlich ansieht, datiert vom 5. September 1938. Darin heißt es [52]: „Ich kann nicht schreiben, aber ich will Dir selbst einige Zeilen schreiben. Ich danke Dir für Deine Hilfe, ich danke von ganzem Herzen. Das Geld erlaubt mir weiter zu leben. Ich weiss nicht wer das Geld gibt, sage bitte diesen gütigen Menschen, dass ich sie mit meiner Seele umarme und innigst, innigst bedanke. Du weisst Galka wie mir jetzt schwer geht und nur die Lebereinspritzungen mir helfen können, aber sie sind teuer: Ich leide unendlich, aber ich brauche noch etwas am Leben bleiben.“

Die letzten Gemälde entstanden im Dezember 1937

Ab diesem Zeitpunkt kann der weitere Krankheitsverlauf nur aus den Briefen und Aufzeichnungen der ihn betreuenden und nahestehenden Personen entnommen werden. So schrieb Lisa Kümmel im Oktober und November 1938 in zwei Briefen ([53]; Abb. 7) an das Ehepaar Nolde: „Papa Jawlensky geht es gar nicht gut, er liegt immer im Bett, kann gar nicht mehr aufstehen, und die Hoffnung in meinem Herzen, daß das doch noch einmal sein wird, wird immer geringer. Er leidet entsetzlich, Immer immer Schmerzen, keine Bewegung ohne, seine Arme und Hände sind steif. Er ist gänzlich auf fremde Hilfe angewiesen. Zu allem hat er jetzt noch eine schwere Krankheit dazu bekommen, bösartige Anämie. Er muß Leber essen, immer zu rohe Leber, das einzige Mittel, das hilft … Sein Geist ist lebendig, aber der Körper zerfällt langsam.“

Abb. 7
figure 7

Jawlensky „gelähmt“ in seinem Bett: a am 9. Juli 1938 (© Jawlensky-Archiv); b am 11. März 1939 (© Jawlensky-Archiv), mit Ausschnittsvergrößerung; c um 1940 (© Jawlensky-Archiv)

Aus einem Brief des Sohnes Andrej Anfang Februar 1939 ist zu erfahren, dass sein Vater eine Anämie und schwere Rippenfellentzündung bekommen habe. Auf ein mögliches Sjögren-Syndrom weisen die Bemerkungen hin, dass er keinen Speichel und somit keinen Geschmack habe (Tab. 2). Im April 1940 diktierte Jawlensky [52]: „Mein Zustand ist sehr schwer, von Schmerzen fühle mich oft wie zerbrochen und weine bei der kleinsten Aufregung. Man macht mit mir eine neue Kur, mit Kurzwellenbestrahlung. Die Maschine selbst musste ich kaufen. Sie kostete viel Geld. Es ist meine letzte Hoffnung für irgendeine Besserung. Ich liege immer und kann mich gar nicht mehr bewegen nicht die Arme nicht die Hände und sogar die Beine.“ Im Juni 1940 ließ er Scheyer mitteilen: „Kurzwellenmaschine bestrahlt meine Gelenke täglich, aber Erfolg ist kaum zu merken. Meine Krankheit ist in den Kopf gegangen und ich höre jetzt schlechter u. bekomme Schmerzen in den Augen … abgeschnitten von der ganzen Welt... Jetzt bin ich müde vom diktieren.“

Jawlensky starb am 15. März 1941 im Alter von 77 Jahren.

Todesursache war ein Herzinfarkt, wie aus der Darstellung im Tagebuch von Lisa Kümmel geschlossen werden kann [29]: „Seit ungefähr 1 1/2 Wochen vor seinem Tode klagte er zuerst, dass das Herz aussetzte, dann über Herzschmerzen, die bis in die Finger des linken Armes zu spüren seien. Zuerst half die Medizin, das Pyramidon betäubte die Schmerzen. Ende der Woche nutzte das Pyramidon nicht mehr. Die Schmerzen wurden stärker, das Schulterblatt und der Rücken taten auch noch weh. Die letzten vier Nächte konnte er nicht mehr schlafen vor Schmerzen. In der Nacht vom Freitag zum Samstag wurden die Schmerzen so arg, dass Frau Helene den Arzt um 4 1/2 Uhr anrufen mußte. Er kam um 7 Uhr, machte ihm eine Spritze zur Beruhigung, er kam um 10 Uhr wieder. Frau Helene und Andrej fragten ihn, ob Lebensgefahr vorläge. Er sagte: Nein, es wird bald mit ihm besser werden. Frau Helene gab ihm etwas Kaffee, bald danach erbrach er sich. Er lag kurze Zeit ruhig, da schrie er plötzlich laut: Es schmerzt, es schmerzt. Helene kam gelaufen, er atmete noch einige Male schwer, der Kopf fiel vornüber und er hatte ausgelitten von seinem langen großen schweren Leiden.“

Aufgrund der persönlichen Mitteilungen von Jawlensky und der überlieferten Fotos besteht kein Zweifel, dass er an einer rasch fortschreitenden chronischen Polyarthritis im Sinne einer „late-onset rheumatoid arthritis“ litt, die mit verschiedensten Diagnosen (Rheuma, Gelenkrheumatismus, Arthritis, Arthritis deformans) und Fehldiagnosen (Gicht, Gelenkbefall durch Nesselfieber) belegt wurde. Schmidt hält wegen der Pleuritis und der Lähmung, die von ihm nicht als Zervikalarthritis sondern als mögliche vaskulitische Neuropathie interpretiert wird, auch einen oligosymtomatischen Lupus erythematodes für möglich [41]. Die hier vorgestellten Daten sprechen gegen diese Annahme.

Psychobiographische Aspekte und Krankheitsbewältigung

Jawlensky wird von Zeitgenossen als sehr liebenswürdiger, gefühlsbetonter, gütiger und zurückhaltender Künstler beschrieben. Er war ein früherer russischer Offizier mit viel Tradition und zeigte sich als vollendeter Kavalier. Als orthodoxer Christ zeichnete ihn eine tiefe religiöse Spiritualität aus, ohne dass ihn aber die konfessionelle Einbindung interessiert hätte [46]. Des Weiteren wird berichtet, dass er „von melancholisch-phlegmatischem Temperament und dementsprechender Gemütstiefe war, aber zugleich auch von einer nicht zu leugnenden dumpfen Schwerfälligkeit“ [48]. In geschäftlichen Dingen galt er als ein Unerfahrener. Er unternahm kaum Initiativen, seine Kunst publizistisch zu verbreiten, und seine prekäre finanzielle Situation offenbarte er nur Menschen, die ihm sehr nahestanden. Die Bekanntmachung und Verbreitung seines künstlerischen Werks überließ er zwei Frauen, die sein großes künstlerisches Talent erkannten und von seinen Bildern fasziniert waren – zunächst Marianne von Werefkin und später Galka E. Scheyer.

Der Lebensweg Jawlenskys ist gezeichnet durch biographische Ereignisse und psychosoziale Belastungen, die sein künstlerisches Werk und seine Krankheitsbewältigung maßgeblich beeinflusst haben (Tab. 3). Die innere Entwicklungsdynamik und tiefenpsychologischen Bedingungen für seinen Lebensweg und sein künstlerisches Schaffen wurden aus psychoanalytischer und anthroposophischer Sicht interpretiert, soweit dies aus seinen Briefen und Lebenserinnerungen, Briefen von Freunden und Bekannten sowie aus der kunsthistorischen Literatur legitimierbar ist. Hierauf beziehen sich die folgenden Ausführungen zu den psychosozialen Aspekten seiner Biographie und seines Umgangs mit den Lasten seiner rheumatischen Erkrankung.

Tab. 3 Alexej von Jawlensky: psychosoziale Traumata

Auf der Weltausstellung 1880, auf der er erstmals Gemälde sah, entstand in ihm der Wunsch, Künstler zu werden [49]: „Das war der Wendepunkt in meinem Leben. Seitdem war die Kunst mein Ideal, das Heiligste, nach dem sich meine Seele, mein ganzes Ich sehnte.“ Der frühe Verlust seines Vaters 1882 mit 18 Jahren machte es ihm jedoch schon aus finanziellen Gründen unmöglich, direkt eine Kunstschule zu besuchen. Er musste zwangsläufig den Weg einer Offizierslaufbahn beschreiten, nutzte aber jede freie Zeit und Gelegenheit, Zeichnen und Malen zu lernen. Bereits in dieser Lebensphase zeigte sich, dass Jawlensky versuchte, extreme Gegensätze zu überbrücken [46]. Er erwirkte seine Versetzung von Moskau nach Petersburg und erkämpfte die Zulassung zur dortigen Akademie in Uniform, was für den im Staatsdienst stehenden Offizier Vorschrift war. Dann wandte er sich anstelle des öden Akademiebetriebs dem damals gefeierten realistischen Maler Ilja Repin zu, der ihn in lebendiger Weise in die Welt der Kunst und Künstler einführte. So suchte Jawlensky im Leben und in der Kunst die Synthese: Gegensätze dürfen kein Entweder-Oder erzwingen, sondern es sollen Soldatentum und Künstlertum miteinander vereinbart werden können [46].

Auf der Weltausstellung 1880 entstand in Jawlensky der Wunsch, Künstler zu werden

Die Ausweisung aus Deutschland 1914 erschütterte ihn schwer und war für ihn ein demütigendes und schreckliches Erlebnis. Die Umsiedlung in die Schweiz bedeutete den Verlust seines gesamten künstlerischen und sozialen Umfelds in München. Auf engstem Raum ohne Atelier in St. Prex am Genfer See lebend, war ihm das Malen nur noch im Schlafzimmer vor dem Fenster möglich. Er beschrieb seine Gefühle und Gedanken so [49]: „Anfangs wollte ich in St. Prex weiterarbeiten, wie ich in München gearbeitet hatte. Aber etwas in meinem Inneren erlaubte mir nicht, die farbigen sinnlichen Bilder zu malen. Meine Seele war durch vieles Leiden anders geworden, und das verlangte andere Formen und Farben zu finden, um das auszudrücken, was meine Seele bewegte … Jeden Tag malte ich diese farbigen Variationen, immer inspiriert von der jeweiligen Naturstimmung im Zusammenhang mit meinem Geist.“ Nach dem Wechsel nach Zürich und Ascona malte Jawlensky die Serie der „Variationen“ genannten Landschaftsmalerei noch bis 1921 weiter und wandte sich gleichzeitig wieder seinem ureigensten Thema, dem Bildnis, zu. Es entstanden die „Mystischen Köpfe“ und „Heilandgesichte“, deren Titelgebung auf die spirituelle Dimension der Bilder verweist, in denen nicht mehr das nach außen strahlende Geheimnisvolle im Vordergrund steht, sondern ein Rückzug nach innen vorherrscht [7]. In einem Brief schreibt Jawlensky hierzu [49]: „Einige Jahre lang habe ich diese Variationen gemalt, und dann war mir notwendig, eine Form für das Gesicht zu finden, da ich verstanden hatte, dass die große Kunst nur mit religiösem Gefühl gemalt werden soll. Und das konnte ich nur in das menschliche Antlitz bringen. Ich verstand, daß der Künstler mit seiner Kunst durch Formen und Farben sagen muss, was in ihm Göttliches ist. Darum ist das Kunstwerk ein sichtbarer Gott, und die Kunst ist ‚Sehnsucht’ zu Gott.“

Die typische Haltung Jawlenskys, starke Gegensätze vereinen zu wollen, zeigt sich auch im Spannungsfeld des langjährigen Zusammenlebens mit zwei Frauen von sehr unterschiedlichem Wesen. Da ist einerseits die leidenschaftlich-fordernde, künstlerisch kreative, intellektuell geprägte, streng autoritäre Marianne von Werefkin mit sprühendem Geist. Dem steht gegenüber die still den Haushalt versorgende, tolerante Helene Nesnakomoff, seine Muse, seine Geliebte, die ihm als Modell verfügbar war, Mutter eines gemeinsamen Sohnes wurde und die er erst nach Trennung von der Werefkin heiratete [12]. Sie wird als eine eigenständige Frau beschrieben, die den Künstler Jawlensky in seiner Arbeit maßgeblich prägte und ihn auf ihre Weise unterstützte [8]. Es gibt keine andere Person, die Jawlensky so oft porträtiert hat (Abb. 8). Eine große Polarität zwischen den beiden Frauen entstand auch dadurch, dass Werefkin ihre eigene Sexualität niemals ausleben wollte, sodass ihre Beziehung zu Jawlensky stets platonisch blieb. Mit Helene hingegen war die Sexualität möglich und erlebt, ebenfalls die Vaterschaft. Jawlensky stand jahrelang ausgleichend zwischen der Polarität dieser beiden Frauen. Psychologisch wurde dies als Spannungsfeld zwischen einem männlichen und weiblichen Seelenanteil gedeutet [46]. Eine andere tiefenpsychologische Interpretation, die vom Werk des Künstlers ausgeht, sieht in dem Übergang von den frühen faszinierenden Frauenporträts zu den späteren abstrakten, konstruktiven Köpfen und Meditationen den Versuch, zwei innere Frauenbilder zusammenzubringen [6]. Für den Wandel zu den „Abstrakten Köpfen“ (Abb. 9), aufgrund ihres geometrischen Charakters auch „Konstruktive Köpfe“ genannt, wurde die These formuliert, dass der Zusammenbruch der konflikthaften, aber lange Zeit stabilen Beziehung mit zwei Frauen den Maler dazu zwingt, die Darstellung sinnlicher Frauen aufzugeben und sie durch Spiritualisierung vergeistigt immer wieder neu zu schaffen [6]. In extremer Reduktion bei gleichzeitig höchster künstlerischer Darstellung entsteht in steter Wiederholung eine „Urform“ (Abb. 9 a), die tiefenpsychologisch dem Wahrnehmungsschema des Gesichts der Mutter zugeordnet wird, während kunsthistorische Interpretationen darin die geistige Versinnbildlichung des menschlichen Antlitzes und im Falle der „Meditationen“ die Verwandtschaft zu Ikonenbildern sehen [7].

Abb. 8
figure 8

a „Helene Nesnakomoff“, Ascona, um 1918 (© Jawlensky-Archiv; [8], S. 72); b „Barbarenfürstin“, 1912, Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [8], S. 72); c „Prinzessin Turandot“, 1912, Privatbesitz (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [8], S. 72); d „Frau mit Stirnlocke“, 1913, Museum Wiesbaden (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [8], S. 72)

Abb. 9
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„Abstrakte Köpfe“: a Urform, 1918, Privatbesitz Schweiz (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [4], S. 202); b „Sonne-Farbe-Leben“, 1926, Sammlung Deutsche Bank (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [37], S. 192); c „Das Wort“, 1933 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [48], S. 123); d „Weltherrschaft“, 1933 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [48], S. 127)

Schwer belastet hat ihn die wirtschaftliche Not seit Beginn der 20er-Jahre. Er schrieb 1926 in einem Brief an Galka Scheyer: „Meine Liebe, ich bin gar nicht ein Pessimist, vielleicht liegt in mir eine gewisse Melankolie (poetische Melankolie), aber viele, viele Jahre war ich sehr lustig. Vor dem Krieg war ich sehr lustig. Ich hatte damals keine Sorge, richtig. Und seitdem, was habe ich nur erlebt! O Gott! Und trotzdem bin ich noch sehr munter und lebendig. Jetzt mache ich täglich Couè. Das hilft, wirklich. Ja, Geldsorgen das sind sehr schlechte Sorgen, wiederliche Sorgen. Aber, leider, diese Sorgen sind da. Mann verkauft fast nichts, oder richtiger – gar nichts.“ Hinzu kommen später noch die Kosten seiner Krankheit, worüber er bereits im Oktober /November 1929 vermerkt: „Trotz ein paar Hundert M. welche ich bekom(m)e monatlich von Jawlensky Gesellschaft und welche ich grösstenteil für Haushalt abgeben muss, habe ich so notwendig Geld. Den ganzen Sommer war ich nirgends und jetzt dazu meine Krankheit die so viel Geld kostet.“

Bereits in den „Abstrakten Köpfen“ werden aus psychoanalytischer Sicht hinter der religiösen Grundform des Kreuzes und der Namensgebung der Bilder (z. B. Engelskopf 1917, Dornenkrone 1918, Gefallener Engel 1919 und Nemesis-Göttin der Rache 1917) ein Rückzug in Einsamkeit und eine gewisse Melancholie erkennbar [6]. Den Gesichtern werden gegenüber den früheren ausdruckstarken Frauenporträts (Abb. 8 b,c,d) die Augen geschlossen, weibliche Attribute verschwinden, und weibliche Sinnlichkeit ist nicht mehr vorhanden (Abb. 9). In den „Meditationen“ hat der Künstler auf die frühere harmonische Ausgestaltung seiner Gesichter ganz verzichtet [6]. Er zeigt jetzt das leidende Objekt in sich, was die Assoziation an leidende Christusgesichter entstehen lässt [6].

Mit Beginn der rheumatoiden Arthritis 1929 sah sich Jawlensky neben den bereits vielfältigen individuellen Belastungen zusätzlich konfrontiert mit den mannigfaltigen Herausforderungen seiner chronischen Erkrankung. Aus psychosomatischer Sicht ist die seelische Auseinandersetzung mit einer körperlichen Erkrankung ein prozesshaftes Geschehen, das von initialem Schock („das kann nicht sein“) über Verleugnungsprozesse fortschreitet zu der Annahme und Anpassung an die Erkrankung [42]. Dieser individuell unterschiedlich verlaufende Prozess lässt sich an Hand der dargestellten Briefe auch bei Jawlensky nachvollziehen. Die gravierenden psychosozialen Belastungen können bezüglich der körperlichen Erkrankung als mitverursachend für eine „ungünstige“ Bewältigung und einen damit verbundenen „ungünstigen“ Krankheitsverlauf interpretiert werden. Auch seine rasch einsetzende Behinderung dürfte zumindest teilweise auf einen körperlichen Rückzug – immer wieder zieht er sich ins Bett zurück – und seine depressive seelische Verarbeitung des Leidens zurückgeführt werden. Alternativ ist allerdings zu berücksichtigen, dass nach heutigen Kenntnissen eine Alterspolyarthritis häufiger rasch progredient und funktionell behindernd verlaufen kann [51]. Merkmale einer ungünstigen Krankheitsbewältigung sind ebenfalls der häufige Wechsel der Ärzte und die immer wiederkehrenden Enttäuschungen nach jeder erfolglosen Behandlung. Ferner kann sich ein ungünstiges Bewältigungsverhalten durch sozialen Rückzug, Grübeln und Selbstbeschuldigungen äußern [42]. So sah Jawlensky seine Krankheit und sein Leiden als Buße für Versäumnisse und unrechtes Handeln, wozu seine religiöse Spiritualität beigetragen hat. Im Sinne dieser Interpretation findet sich eine Bemerkung gegenüber guten Freunden [11]: „Die Ursache meiner Krankheit (Arthritis deformans) hat niemand verstanden. Ich spreche mit Gott und bete und bitte ihn, mir zu verzeihen … Ich habe sehr schwere Strafe bekommen und muss mit Geduld und ruhig alles ertragen … Ich weiß, dass ich oft böse Sachen gemacht habe, aber wirklich ohne Böses zu wollen.“

In bemerkenswertem Gegensatz zu den vorgenannten ungünstigen Bedingungen der Krankheitsverarbeitung steht allerdings die unbeugsame, kreative Kraft, die er in sein künstlerisches Arbeiten einbrachte. Selbst die Beschlagnahmung seiner Gemälde 1937 durch das Naziregime nahm er scheinbar gelassen hin. Seelisch schwer traf ihn zuletzt der Tod von Marianne von Werefkin im Februar 1938. Seit Beginn seiner Krankheit hatte er versucht, eine Versöhnung mit ihr herbeizuführen, was jedoch nicht gelang. Nur wenig später musste er durch die Verschlechterung der Arthritis und die möglicherweise auf eine Zervikalarthritis zurückzuführende Lähmung das Malen ganz aufgeben und war fortan ans Bett gefesselt. Über einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dieser zeitnahen psychischen Belastung und dem somatischen Krankheitsverlauf lässt sich nur spekulieren.

In bemerkenswertem Gegensatz zu den ungünstigen Bedingungen der Krankheitsverarbeitung steht die unbeugsame, kreative Kraft

Auswirkungen des Krankseins auf das künstlerische Werk

Mit Beginn der ab 1917 entstandenen „Mystischen Köpfe“, „Gesichte“, „Heilandsgesichte“ und der nachfolgenden „Abstrakten Köpfe“ und „Meditationen“ hat Jawlensky eine ganz eigene Darstellung des menschlichen Gesichts gefunden und in serieller Wiederholung zu einem einzigartigen künstlerischen Werk verdichtet. Als erster Maler gelangte er zu einer Struktur der formelhaften Wiedergabe des von ihm gewählten Themas Kopf und Gesicht und malt nach seinen eigenen Worten „… das nach unten sich Abschließende, das nach oben sich Öffnende, das in der Mitte sich Begegnende“ (Abb. 9; [45]). Diese Formel ist die Matrix für die Fläche des Bildes, in die alle Farben in jedweder Kombination eingetragen werden können.

Die vor Krankheitsbeginn entstandenen „Abstrakten Köpfe“ kennzeichnen eine äußerst exakte, von zart abgestuften Farbübergängen geprägte Malweise, die keine Pinselspur sichtbar lässt. Die Farben sind kompakt aufgetragen und bilden klare, geometrische Formen und präzise Linien (Abb. 9 a,b). In den ersten Jahren nach Beginn der rheumatoiden Arthritis wird ein Wandel dieser Köpfe erkennbar, der kunsthistorisch auch dem Einfluss der Krankheit zugewiesenen wurde [48]: „Immer dunkler und zugleich leuchtender wurden die Köpfe (Abb. 9 c). Das strenge Gerüst aber wurde zunächst noch beibehalten. Breiter und sorgloser, aber immer noch tupfend war der Farbauftrag. Die Struktur der Pinselführung aber sprach bereits mit. Geradezu unheimlich begann die Farbe in dem Kopf ‚Weltherrschaft’ (Abb. 9 d) von 1933 sich zu bewegen.“

Die ab 1934 entstandenen „Meditationen“ sind dann eindeutig in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Behinderung zu sehen, worauf Jawlensky selbst in seinen Lebenserinnerungen hingewiesen hat (Abb. 3; [49]): „Da ich durch meine Steifheit in den Ellenbogen und Händen sehr behindert wurde, mußte ich mir eine neue Technik suchen. Meine letzte Periode meiner Arbeiten hat ganz kleine Formate, aber die Bilder sind noch tiefer und geistiger nur mit der Farbe gesprochen. Da ich gefühlt habe, daß ich in Zukunft infolge meiner Krankheit nicht mehr werde arbeiten können, arbeitete ich wie ein Besessener diese meine kleinen Meditationen.“ Die Einschränkung der Armbeweglichkeit zwang ihn, den Pinsel mit beiden Händen zu halten und mit den Armen weit vorgestreckt durch Einsatz des gesamten Oberkörpers zu bewegen (Abb. 5 c). Auch die Hinwendung zu den kleinen Formaten von etwa 17×15 cm, 20×15 cm und 25×17 cm ist Folge der Bewegungsbehinderung [31]. Das größere Format 43×33 cm der „Abstrakten Köpfe“ findet sich nach 1934, soweit bekannt, nur noch bei zwei Bildern im Jahre 1935. Jawlensky malte seine „Meditationen“ mit einer einzigartigen Methode [1]: Die Bildträger ließ er sich auf eine Vorrichtung montieren, die ihm auf der Staffelei als Hilfskonstruktion diente, um in serieller Fertigung arbeiten zu können. Dies gelang mit Hilfe zweier Bretter, die im Format so groß waren, dass sich darauf acht Meditations-Ölpapiere mit Reißzwecken befestigen ließen, vier oben und vier unten. So konnte er gleichzeitig an acht Meditationen arbeiteten. Die Staffelei versah man unten mit zwei Pflöcken, auf denen man die Palette einsetzte. In Greifweite wurden Pinsel und Farben bereitgelegt. Er selbst schrieb dazu: „Ich male indem ich den Pinsel mit 2 Hände halte und die Palette mit einer Seite liegt auf den Staffelei und mit andere auf meinen Knien. Ach wie schmerzt mir oft unerträglich zu malen!“

Wenn Jawlensky eine Sequenz beendet hatte, zogen Lisa Kümmel und Alo Altripp die fertigen Bilder auf weiße Bristol-Kartons auf. Durch diese Technik und die Hilfe der beiden Freunde war es ihm möglich, in der ihm verbleibenden Zeit eine unermessliche Zahl dieser planmäßig entwickelten Variationen menschlicher Gesichter in knappsten Formeln zu erstellen. Das Thema und seine Durchführung waren das logische Ergebnis seines künstlerischen Wegs und seiner gestalterischen Prinzipien [31]. Er wollte Geistiges, ja sogar Göttliches zum Ausdruck bringen. Das menschliche Gesicht ist durch das schwarze Liniengerüst von Nase, Augen, Augenbrauen und Mund auf wesentliche Merkmale, auf die Parameter des Menschbildes, reduziert ([28]; Abb. 3 b,c). Alle Bilder ähneln sich durch die vereinfachende Stilisierung, und doch ist jedes Bild immer wieder anders, immer wieder neu zusammengestellt durch die Urmaterie des Malers: die Farbe [14]. Zugleich wird aber auch ein Einfluss der Erkrankung auf die bildnerische Gestaltung gesehen [39]: „War in den frühen Meditationen das Malen gerundeter Formen noch möglich, so erlaubt die zunehmende Einschränkung der Bewegungsfreiheit bald nur noch horizontale und vertikale oder leicht schräge Pinselstriche. Schwarze Farbbalken dienen der Wiedergabe lapidarer Gesichtszüge und nehmen die Gestalt eines Kreuzes an. Damit wird der Ausdruck von stillem Leid und Trauer akzentuiert. Der Pinselduktus ist grob und hinterlässt eine expressive, wie in starker Vergrösserung wiedergegebene Spur, die die Bildfläche bis zum Rand hin gestaltet. Bildfläche und Gesicht verschmelzen so zu einer Einheit. Das Gesicht wirkt trotz kleinem Bildformat monumental. Zugleich intensiviert die satte, schwarze Farbe auch die Leuchtkraft der angrenzenden Farbfelder, die schon fast autonomen Charakter erlangen.“ Von anderer Seite wurde angenommen, dass Jawlensky den schweren, gleichsam blockhaften Pinseleinsatz mit der Atmung koordinierte, um angesichts der schweren körperlichen Behinderung die Kontrolle zu behalten [53]. Die „Meditationen“ können durch die Kenntnis dieser krankheitsbedingten Gegebenheiten jenseits aller künstlerisch-ästhetischen Wirkung auch als Metaphern des Leidens gesehen werden, das in jedem Bild die große physische und psychische Anstrengung bis in das malerische Detail spürbar macht [53]. Zu der seelischen Auswirkung seines Krankseins und der dadurch bedingten Vereinsamung äußerte sich Jawlensky in einem Brief an Galka Scheyer im Mai 1936 so: „Ich bin so abseitz von allem, mein Leben ist so begrenzt von meinem Zimmer, meiner Arbeit und meinen Gedanken, ich habe keine andere Freude wie der meine Arbeit. Ich arbeite sehr viel und so intensiv, wie mir scheint noch nie. Ich habe aber keine Erlebnisse und darum male ich nur das was in meiner Seele ist, was mir tief liegt wie eine Meditation, in sich Konzentrierung. Und meine Sprache ist Farbe … Die Bilder sind meistens dunkel, aber das ist mir sehr lieb: die Farben sind so geheimnisvoll, so tief, aber es gibt auch sehr farbig leuchtende, brennende, aber immer irgendwo aus anderer Welt. Ich male, male und bin so müde von Spannung und Schmerzen, das ich halb ohnmächtig vorm Malbret sitze.“

Trotz seines hohen Alters und seiner Krankheit war Jawlensky für technische Neuerungen aufgeschlossen.

Er erfuhr durch Alo Altripp von einer für ihn neuen Technik, als dieser ihm eigene Arbeiten zeigte, die mit „Kammzug“ gearbeitet waren [1]. Daraufhin bat Jawlensky den jungen Kollegen, ihm Malerkämme in verschiedenen Stärken und Breiten mitzubringen. Vermutlich wendete Jawlensky die ihm bislang unbekannte Methode an und kombinierte sie mit der ihm vertrauten Pinselmalerei. Es entstanden in seinem letzten Schaffensjahr 1937 Meditationen (Abb. 3 d) von ganz besonderem Reiz, in denen der streifige Farbauftrag der Pinsel mit dem Kratzeisen nachgearbeitet sein könnte, was den Eindruck einer Schraffur, durch die eine hellere Unterschicht scheint, noch verstärkt [40].

Die „Meditationen“ Jawlenskys sind in verschiedener Weise interpretiert und bewertet worden. Kunsthistoriker haben aufgrund der russischen Herkunft und Biographie des Künstlers immer wieder eine große Nähe zur Ikonenmalerei gesehen. So heißt es z. B. in einer jüngeren Beurteilung [7]: „Das menschliche Gesicht, an dem der Künstler bis zuletzt festhielt, erhält hier eine sehr besondere Darstellung. Es erreicht seinen äußersten Abstraktionsgrad. Jede Meditation ist zugleich Gesicht und Kreuz. Diese horizontale und vertikale Bildstruktur verweist ihrerseits auf das orthodoxe Kreuz und so verspürt man bei diesen kleinen Werken eine Nähe zu Ikonen. Die Spiritualität der „Meditationen“ Jawlenskys überträgt sich bei intensiver Anschauung auch auf den Betrachter, das Andächtigsein selbst wird hier als Botschaft erfahren.“ Es wurde aber auch herausgestellt, dass Jawlensky insofern grundlegend von der Ikonenmalerei abweicht, als er nicht „das eine Bild“ möglichst exakt repetiert, sondern mit den Wiederholungen seiner persönlichen Suche nach der Urform nachgeht, mit der er „etwas Göttliches“ sagen möchte [40]. Eine andere Bewertung betont, dass die „Meditationen“ unter mehreren Blickwinkeln betrachtet werden können [13]: „Als Ikonen verweisen sie auf ein imaginäres Antlitz, als Gesichter künden sie von dem Grundsatz der Treue zum Bezugsobjekt der Darstellung, und als Kreuz sind sie nichtgegenständliche Zeichen.“

Aus psychoanalytischer Sicht wurden Struktur und Farbe der „Meditationen“ als Zeugnisse eines „depressiven Rückzuges vom Gegenüber“ gewertet [6]. Demgegenüber sieht eine anthroposophische Deutung der Lebens- und Krankengeschichte besonders den Gewinn an Weisheit und Innerlichkeit [44]. Die Krankheit wird nicht nur als unnötiges Übel, als böswilliger Feind, sondern als „Helfer“ angesehen, der biographische Entwicklungsprozesse verdichtet und damit zur Erfüllung einer individuellen Schicksalsaufgabe beiträgt. Die Schmerzen und das Leiden verwandeln sich in den „Meditationen“ zu einer künstlerischen Qualität und menschlichen Aussage, die Jawlensky nicht grundlos als die „Spitze der Kathedrale“ bezeichnete, da sie ihm im Rückblick wie die Vollendung seines Lebenswerks erschienen, auf die sein ganzes Leben ausgerichtet war [44]. Galka E. Scheyer hat dies in einem Brief an Jawlensky so formuliert [48]: „Du bist der Maler der menschlichen Seele. Ich kenne keinen anderen modernen Maler der menschlichen Seele.“

Neben den „Meditationen“ hat Jawlensky in den drei letzten Schaffensjahren auch eine Vielzahl von Blumenstilleben gemalt, in denen häufig eine blaue Vase aus seinem Zimmer auftaucht (Abb. 10). Diese eher frohen, hellen Gemälde entstanden oft in Phasen der Besserung und des geringeren Leidens unter Schmerzen. Er vermerkte hierzu in seinen Lebenserinnerungen [49]: „Als ich etwas Erleichterung in meinen Händen fühlte, malte ich gleich grössere Bilder, nur Stilleben, meistens Blumen. Sie sind sehr schön in den Farben und haben großen Erfolg bei den Menschen.“ Im Gegensatz zu den „Meditationen“ erfreuten sich die gefälligeren, unproblematischeren, manchmal geradezu heiteren Blumenbilder größerer Beliebtheit bei Freunden und Bekannten, auf deren wenige Ankäufe er durch das Ausstellungsverbot angewiesen war. Deshalb wird angenommen, dass er sich auch aus materiellen Überlegungen dieser Bildgattung erneut zuwandte. So wurden von ihm im November und Dezember 1937 noch einige größere (35,5×25,5) Blumenbilder gemalt, nachdem die letzten großen Meditationen im Juni 1937 entstanden waren [53].

Abb. 10
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a „Blick aus meiner Welt“, Weihnachtskarte, die Jawlensky 1938 an Ada und Emil Nolde schickte (mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, Neukirchen; [53], S. 116); b „Rosen in Blauer Vase“, 1937, Privatsammlung (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011; [10], S. 197)

Aus heutiger Sicht kann das Kranksein und Leiden von Jawlensky als ein besonders eindrucksvolles und anrührendes Beispiel für die kreative Krankheitsbewältigung im Sinne eines „gelingenden bedingten Gesundseins“ angesehen werden. Mein Lehrer, der Internist und Rheumatologe Fritz Hartmann, definierte diesen von ihm vertretenen Blick auf die gesunden Kräfte und die personale Identität eines chronisch Kranken mit folgenden Worten [17]: „Gesund ist ein Mensch, der mit oder ohne nachweisbare oder für ihn wahrnehmbare Mängel seiner Leiblichkeit allein oder mit Hilfe anderer Gleichgewichte findet, entwickelt und aufrechterhält, die ihm ein sinnvolles, auf die Entfaltung seiner persönlichen Anlagen und Lebensentwürfe eingerichtetes Dasein und die Erreichung von Lebenszielen in Grenzen ermöglichen, sodass er sagen kann: ‚Mein Leben, meine Krankheit, mein Sterben’.“ Das Wort „gelingend“ verweist auf die beständige Anstrengung des chronisch Kranken, und das „bedingte Gesundsein“ reicht als menschliche Leistung über die verfügbaren rationalen, körperlichen, seelischen und sozialen Gleichgewichtshilfen hinaus [16, 17]. Es ist Jawlensky unter größter Anstrengung und Entsagung gelungen, in seinem Kranksein die verbleibenden geistigen, körperlichen und seelischen Fähigkeiten in bewunderungsvoller Weise für sein künstlerisches Werk einzusetzen. Er mobilisierte seine ganze malerische Kreativität, um trotz und gerade wegen der Erkrankung in den ihm noch verbleibenden letzten drei Schaffensjahren über 1000 Meditationen zu vollenden. Diese Serie wird kunsthistorisch als Krönung seines Gesamtwerks angesehen und ist in der Kunst des 20. Jahrhunderts ohne Beispiel [7]. In einem Brief an Jawlensky hat dessen Künstlerfreund Kandinsky 1936 als Dank für die Übersendung einer Meditation die bewundernswerte Krankheitsbewältigung sehr treffend charakterisiert [14]: „Ihr kleines Bild hat mir sehr gefallen … Sehr gut sind die tiefen und sprühenden Töne. Der ganze Eindruck: Tiefe und Frische. Sie haben einmal geschrieben, dass Ihr körperliches Leiden keinen Einfluss auf ihre seelische Lebendigkeit und Frische hat. Man muss ehrfurchtsvoll staunen, wie sie trotz ihrer quälenden Krankheit mit ganzer Kraft beides zu bewahren vermochten. Dieses Bild ist der beste Beweis dafür.“

Die Serie „Meditationen“ wird kunsthistorisch als Krönung seines Gesamtwerks angesehen

Für Jawlensky selbst waren die „Meditationen“ sein Vermächtnis [49]: „Da ich gefühlt habe, daß ich in Zukunft infolge meiner Krankheit nicht mehr werde arbeiten können, arbeitete ich wie ein Besessener diese meine kleinen Meditationen. Und jetzt lasse ich diese kleinen, für mich aber bedeutenden Werke für die Zukunft den Menschen, die Kunst lieben.“ Mit den Worten der Ehefrau Helene von Jawlensky [2] lässt sich abschließend sagen: „Das Leben Alexej von Jawlensky‘s stand im Zeichen seines Werkes und der Güte zu allen Menschen, denen er begegnet ist. Nun er von uns gegangen, lässt er uns zurück, dankbar der Gaben seines reichen Künstler- und Menschentums.“

Fazit für die Praxis

Aufgrund der persönlichen Mitteilungen von Jawlensky und der überlieferten Fotos besteht kein Zweifel, dass er an einer rasch fortschreitenden chronischen Polyarthritis im Sinne einer „late-onset rheumatoid arthritis“ litt. Der Verlauf der Krankheit war sehr schwer und ungünstig mit stärksten Schmerzen und raschem Eintritt einer Behinderung, wodurch auch sein künstlerisches Werk tiefgreifend beeinflusst und verändert wurde. Zum Schluss war er über mehrere Jahre völlig immobilisiert und pflegebedürftig bis zu seinem Tod. Zu diesem ungünstigen Verlauf dürften nicht unwesentlich psychosoziale Faktoren beigetragen haben, die in der psychischen Persönlichkeit, schwierigen biographischen Faktoren, der materiellen Not, der zu seinen Lebzeiten ungenügenden Anerkennung seiner künstlerischen Arbeit und der Ächtung durch den Nationalsozialismus begründet waren. Obwohl Jawlensky letztlich ein hohes Alter erreichte, kann vermutet werden, dass die rheumatoide Arthritis aufgrund der „Lähmung“, möglicherweise durch eine zervikale Myelopathie verursacht, und des Herzinfarkts zu einem vorzeitigen Tod beitrug.

Die Krankengeschichte Jawlenskys ist das erschütternde Dokument eines Menschen und großen Künstlers, der an einer rheumatoiden Arthritis litt zu einer Zeit, als die Möglichkeiten der Therapie noch sehr begrenzt waren. Das malerische Werk Jawlenskys und die Bewältigung seines Leidens und Krankseins sind für die Rheumatologie in Deutschland ein einzigartiges Vermächtnis, dem sich Patienten, ihre Angehörigen und Ärzte, besonders die Kunstinteressierten unter ihnen, mit größter Bewunderung verbunden fühlen können. Für alle Mediziner, die zum jährlichen Internistenkongress, anderen Ärztekongressen oder Fortbildungsveranstaltungen nach Wiesbaden kommen, dürfte der Besuch des Kunstmuseums mit seiner Sammlung der Werke Jawlenskys in Kenntnis seiner Krankengeschichte und der einmaligen künstlerischen Aussage seiner Bilder ein besonderer Gewinn sein.