Globaler Aufforderungscharakter für kardiovaskuläre Prävention

Welche kardiovaskulären Risikofaktoren sind von Bedeutung?

Das immense Potenzial der kardiovaskulären Prävention wird bei Weitem nicht ausgeschöpft, weder in den „high-income countries“ noch in den „middle-income countries“ oder „low-income countries“. Nach Schätzungen der groß angelegten, multinationalen „Prospective Urban Rural Epidemiology (PURE) study“ [1], in der in 21 Ländern 14 potenziell modifizierbare Risikofaktoren mit der Sterblichkeit und kardiovaskulären Morbidität bei 155.722 Personen ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen in einer medianen Nachverfolgungszeit von 9,5 Jahren assoziiert wurden, wären etwa 70 % aller Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Grunde zu verhindern. Die in der PURE study betrachteten 14 Risikofaktoren umfassen: Lebensgewohnheiten wie Tabakgebrauch, Alkoholkonsum, Qualität der Ernährung, körperliche Aktivität, Natriumaufnahme; zudem metabolische Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Non-High-Density-Lipoprotein(Non HDL)-Cholesterin, Adipositas; außerdem die psychosozialen Variablen Bildung und Symptome der Depression; dazu noch Handkraft sowie Luftverschmutzung im Haushalt und in der Umwelt.

Manche Autoren kommen sogar zu noch höheren Prozentwerten einer putativen Krankheitsvermeidung durch kardiovaskuläre Prävention (z. B. [2, 3]). Die rechnerische Gefährdung durch kardiovaskuläre Risikofaktoren im Sinne eines Lebenszeitrisikos [4] steigt mit der Zahl der Risikofaktoren und deren Wirkdauer. Die American Heart Association (AHA) hat mit den „Life’s Essential 8“ ein Bewertungssystem für die kardiovaskuläre Gesundheit vorgelegt; in diesem werden 8 Faktoren berücksichtigt: Ernährung, Sport und Bewegung, Rauchen, Body-Mass-Index (BMI), Blutzuckerwerte, Blutdruckwerte, Non-HDL-Cholesterin-Wert sowie (seit 2022) die Schlafdauer [5].

Es ist davon auszugehen, dass längst nicht alle Ursachen für kardiovaskuläre Morbidität erkannt sind, jedoch macht ein Kerndatensatz von 5 klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren – BMI, systolischer Blutdruck, Non-HDL-Cholesterin-Wert, Tabakrauchen, Diabetes mellitus – belegtermaßen mehr als die Hälfte des Risikos aus: Das „Global Cardiovascular Risk Factor Consortium“ veröffentlichte 2023 mit Erstautorenschaft von Christina Magnussen, Klinik für Kardiologie im Universitären Herz- und Gefäßzentrum des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), und Letztautorenschaft von Stefan Blankenberg eine Analyse von 112 Kohortenstudien aus 34 Ländern in 8 geografischen Regionen mit insgesamt 1.518.028 Teilnehmern, die im Median über 7,3 Jahre nachbeobachtet wurden [6]. In allen untersuchten Regionen weltweit fand das Global Cardiovascular Risk Factor Consortium [6] einen starken Zusammenhang zwischen dem Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen und diesen Risikofaktoren, jedoch mit regionalen Unterschieden. Im globalen Mittel erklären die 5 klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren – BMI, systolischer Blutdruck, Non-HDL-Cholesterin-Wert, Tabakrauchen, Diabetes mellitus – 57,2 % der kardiovaskulären Erkrankungen bei Frauen und 52,6 % bei Männern sowie 22,2 % der Todesfälle („10-year all-cause mortality“) bei Frauen und 19,1 % der Todesfälle bei Männern. Bei der Gewichtung der 5 betrachteten Faktoren erbrachte der erhöhte systolische Blutdruck den höchsten Risikobeitrag. Erhöhter Blutdruck oder erhöhte Non-HDL-Cholesterin-Werte hängen demnach linear mit dem Auftreten von kardiovaskulären Erkrankungen zusammen, in allen weltweit untersuchten Regionen. Allerdings sind auch sehr niedrige Cholesterinwerte mit einer erhöhten Gesamtsterblichkeit assoziiert.

Hinweis auf schwächere Bedeutung mancher kardiovaskulärer Risikofaktoren im Alter

Die Analyse des Global Cardiovascular Risk Factor Consortium [6] betrachtet die altersabhängige Wertigkeit der 5 Risikofaktoren und kommt zu einem differenzierten Ergebnis: Der Zusammenhang zwischen Non-HDL-Cholesterin-Werten und kardiovaskulären Erkrankungen wird in höherem Alter schwächer, bleibt aber für die „all-cause mortality“ konstant. Sowohl die Assoziationen mit systolischem Blutdruck als auch mit aktuellem Raucherstatus und Diabetes mellitus nehmen im hohen Alter ab. Lediglich die Assoziation des BMI mit sowohl kardiovaskulärer Morbidität als auch der „all-cause mortality“ bleibt altersunabhängig bestehen. Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass nur Personen ohne kardiovaskuläre Erkrankungen zu Studienbeginn in diese altersbezogene Analyse der Risikofaktoren mit kardiovaskulären Erkrankungen und „all-cause mortality“ einbezogen wurden (Abb. 2 in [6]).

Obwohl die bedeutendste Determinante der kardiovaskulären Gesundheit das Alter der betreffenden Person ist [7], verschiebt sich die Assoziation der traditionellen kardiovaskulären Risikofaktoren mit den Herz-Kreislauf-Erkrankungen im hohen Alter [8]. Beim alten Menschen – anders als bei jüngeren Individuen – stehen kardiovaskuläre Risikofaktoren in einem „Wettbewerb“ mit weiteren, nichtkardiovaskulären prognosedeterminierenden Faktoren. Daher kann es zu einer Überschätzung der Bedeutung kardiovaskulärer Risikofaktoren und der daraus resultierenden Therapieindikationen im Alter kommen ([9], zitiert in ESC [10]). Folglich ergibt sich die Notwendigkeit einer altersbezogene Kalibrierung der Risikofaktoren, was die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) veranlasste, eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung und zur Validierung neuer Risiko-Scores einzusetzen. Eine solche altersabhängige Gewichtung der kardiovaskulären Risikofaktoren wird in den 2021 erschienenen Leitlinien der ESC [11] und der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK, [12]) umgesetzt. Für die Gruppe der über 70-Jährigen wird ein eigener Risiko-Score zur Abschätzung der kardiovaskulären Mortalität und der 10-Jahres-Morbidität anscheinend gesunder Menschen angegeben, die Systematic Coronary Risk Evaluation – Older Persons (SCORE2-OP). In diese fließen dieselben Rohdaten ein wie in die Systematic Coronary Risk Evaluation, Update (SCORE2): Alter, Geschlecht, Raucherstatus, systolischer Blutdruck und Non-HDL-Cholesterin. Die ESC hat Algorithmen, auf denen SCORE2 und SCORE2-OP basieren, veröffentlicht [10, 13].

Verflechtung des kardiovaskulären Risikos mit der Gebrechlichkeit

Es gibt darüber hinaus Hinweise, dass das gleichzeitige Vorliegen von Gebrechlichkeit den prognostischen Stellenwert der kardiovaskulären Risikofaktoren verringern kann [14]. Umgekehrt steigt das Risiko, eine Behinderung zu erleiden, bei alten Menschen mit dem absoluten kardiovaskulären Risiko an [15]. Eine pathophysiologische Verflechtung von chronischer Herzinsuffizienz und Frailty ist bereits gut belegt [16]. Es erscheint naheliegend, dass auch eine wechselseitige Beeinflussung der kardiovaskulären Risikofaktoren mit dem syndromalen Komplex der Frailty bestehen könnte, ohne dass dies zum jetzigen Zeitpunkt als belegt gelten könnte.

Aktuelle Empfehlungen der Fachgesellschaften

Selbst bei altersadaptierter Adjustierung ist der Stellenwert der kardiovaskulären Risikofaktoren für den älteren Menschen hoch. Die 2021 erschienene Pocket-Leitlinie Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen der DGK enthält detaillierte Empfehlungen [12]. Mit einem Klasse-I-Empfehlungsgrad wird die Behandlung von kardiovaskulären Risikofaktoren bei anscheinend gesunden Menschen ohne Diabetes mellitus (DM), chronische Nierenerkrankung (CKD), genetische/seltenere Lipid- oder Blutdruckstörungen im Alter ≥ 70 Jahre, die ein sehr hohes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen (CVD) haben (SCORE2-OP ≥ 15 %), empfohlen.

Mit einer Klasse-I-Empfehlung wird bei behandelten Patienten im Alter von ≥ 70 Jahren empfohlen, den systolischen Blutdruck generell < 140 mm Hg und bei Verträglichkeit auf 130 mm Hg zu senken. Ergänzend soll an dieser Stelle auf die 2018 erschienene Leilinien zur Behandlung der arteriellen Hypertonie [17] verwiesen werden, in der ein Praxisblutdruck-Zielbereich für die Behandlung von Personen der Altersgruppe ≥ 80 Jahre von systolisch 130–139 mm Hg genannt wird, sofern diese Blutdruckwerte vertragen werden, und diastolische Werte von 70–79 mm Hg. Allerdings wird auf eine möglicherweise erforderliche Modifikation dieser Grenzwerte bei Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit hingewiesen [17]. Am 30. August 2024 wurden die neuen Leitlinien der ESC zum Management des erhöhten Blutdrucks und der Hypertonie [18] veröffentlicht, die differenzierte Empfehlungen auch für Patientinnen und Patienten im Alter von 85 Jahren und darüber enthalten.

Der Beginn einer Statinbehandlung zur Primärprävention bei Menschen im Alter ≥ 70 Jahren kann laut der 2021 erschienenen Leitlinien erwogen werden, wenn ein hohes oder sehr hohes Risiko besteht (Empfehlungsgrad IIb, [12]). Die Leitlinien der ESC [11] und DGK [12] zielen grundsätzlich auf eine individualisierte Prävention bis ins hohe Lebensalter ab. Konkrete Maßnahmen und Behandlungsziele beziehen sich auf die Domänen Lebensstil (körperliche Aktivität, Körpergewicht, Ernährung), psychosoziale Faktoren, kardiovaskuläre Risikofaktoren (Rauchen, Blutfette, Blutdruck, Diabetes), antithrombotische Therapie und krankheitsspezifische Interventionen.

Die von der AHA als „Life’s Essential 8“ der kardiovaskulären Gesundheit vorgestellten Empfehlungen [5] wurden in einer Nachfolgepublikation 2023 speziell auch für betagte Menschen bewertet und empfohlen [19]. Grund ist, dass die Optimierung der Life’s-Essential-8-Komponenten den Alterungsprozess auf multiplen molekularen und zellulären Pfaden günstig beeinflussen sowie zu einer verlängerten Lebens- und Gesundheitsspanne beitragen kann. Im Detail werden praxisrelevante Maßnahmen für ältere Personen empfohlen, wie in wortgenauer Übersetzung zusammengefasst in Tab. 1 wiedergegeben. Aus geriatrischer Sicht bleibt eine patientenindividuelle Risiko-Nutzen-Adjustierung gerade bei hochbetagten und gebrechlichen Personen auch hinsichtlich der Maßnahmen zur kardiovaskulären Prävention geboten.

Tab. 1 Kernaussagen der „Life’s-Essential-8“-Komponenten zum Erhalt der kardiovaskulären Gesundheit, betreffend die Behandlung alter Menschen. (Übersetzt aus Kumar et al. [19])

Langlebigkeit

Langlebigkeit und „healthy aging“ werden seitens der Vereinten Nationen [20] und der WHO [21] als globale Ziele in der „Dekade des gesunden Alterns“ (2021–2030) proklamiert. Hierzu kann die Prävention der kardiovaskulären Erkrankungen einen substanziellen Beitrag leisten. Noch weiter gedacht, könnten eine konsequente, primärpräventive Behandlung und Vermeidung kardiovaskulärer Risikofaktoren den Alterungsprozess per se günstig beeinflussen: Viele der Faktoren, von denen bekannt ist, dass sie der Atherosklerose Vorschub leisten, sind auch in den Alterungsprozess involviert [7]. Die Geroscience [22] setzt das Hintanhalten des Alterungsprozesses als Behandlungsziel, da Altern als Basis für fast alle chronischen Erkrankungen des Erwachsenenalters gilt. Aktuell werden bereits medikamentöse Interventionen in laufenden Humanstudien zu Altern/Alterskrankheiten untersucht, auch Medikamente aus dem kardiometabolischen Behandlungsspektrum wie Metformin und „Glucagon-like-peptide-1“(GLP-1)-Rezeptor-Agonisten, außerdem Senolytika, Rapamycin und antiinflammatorische Strategien [23]. Auch pflanzenbasierte Ernährung [24] oder einzelne Nahrungskomponenten wie Spermidin [23] werden mit dem Ziel, die Lebens- und Gesundheitsspanne zu verlängern, wissenschaftlich untersucht.

Fazit für die Praxis

  • Die klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren erklären mehr als die Hälfte der kardiovaskulären Erkrankungen. Die Assoziation mehrerer kardiovaskulärer Risikofaktoren mit den Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird zwar im hohen Alter schwächer, aber die Behandlung bleibt effektiv.

  • Das kardiovaskuläre Risiko anscheinend gesunder Personen – ohne vorherige kardiovaskuläre Erkrankung oder Diabetes mellitus – im Alter von 70 Jahren und darüber kann mithilfe der Systematic COronary Risk Evaluation – Older Persons (SCORE2-OP) valide ermittelt werden, woraus sich risikoadjustiert klare Behandlungsempfehlungen ableiten. Kardiovaskuläre Prävention ist auch bei anscheinend gesunden Personen im Alter von 70 Jahren und darüber effektiv und zielführend.

  • Nationale und internationale Leitlinien empfehlen eine individualisierte kardiovaskuläre Prävention in mehreren Domänen, einschließlich Ernährung, körperlicher Bewegung und Risikofaktormanagement bis ins hohe Lebensalter.

  • Konsequente kardiovaskuläre Prävention mit den aktuell bereits empfohlenen Lebensstilfaktoren und Medikamenten zielt auf gesundes Altern und Langlebigkeit. Die Geroscience könnte darüber hinaus zukünftig weitere Behandlungsmöglichkeiten des biologischen Alterungsprozesses entwickeln.