Hintergrund und Fragestellung

Die Zahl der Menschen, die als pflegende Angehörige bezeichnet werden, ist schwierig zu bestimmen.Footnote 1 Betrachtet man die Gruppe im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI), so kann festgehalten werden, dass von den 3,41 Mio. pflegebedürftigen Menschen [17] 2,59 Mio. zu Hause versorgt werden. Davon werden 1,76 Mio. alleine durch Angehörige begleitet und gepflegt, während 0,83 Mio. Pflegebedürftige in Privathaushalten auch oder ausschließlich durch ambulante Pflegedienste begleitet werden [17]. Jenseits dieser Zahlen kann davon ausgegangen werden, dass die tatsächliche Zahl der Personen, die Pflege- und Begleitungsaufgaben für unterstützungsbedürftige Angehörige – jenseits der restriktiven Bestimmungen des SGB XI – im Alter übernehmen, deutlich höher ist und künftig weitersteigen wird. So gehen aktuelle Prognosen davon aus, dass im Jahr 2050 rund 3 Mio. Menschen an Demenz erkrankt sein werden [3]. Auch das in Zeiten von gesellschaftlichen Transformationsprozessen und steigenden Mobilitätsanforderungen wichtiger werdende Thema der Begleitung über Distanz, das „distance caregiving“, gelangt erst langsam in den Fokus von Wissenschaft und Praxis [4, 5].

Auch wenn die Zahl männlicher Pflegender kontinuierlich steigt, sind es immer noch überwiegend Frauen, besonders (Schwieger)Töchter und (Ehe)Partnerinnen, die die Fürsorgeverantwortung übernehmen [7].

In diesem Beitrag stehen pflegende Angehörige im Fokus, die einen demenziell veränderten Menschen begleiten. Im Vergleich zu anderen Gruppen ist ihre Belastung meist höher [22]. Sansoni et al. [15] weisen darauf hin, dass das Verhalten und der kognitive Status des Menschen mit Demenz die pflegenden Angehörigen stark belasten. Besonders zwischenmenschliche Konflikte spielen eine große Rolle [22]. Als Folge dieser Belastung kommt es bei den Pflegenden vermehrt zu depressiven Verstimmungen, Burn-out, psychosomatischen Störungen und zu einer erhöhten Einnahme von Psychopharmaka [8, 10]. Vorsichtige Berechnungen zum täglichen Betreuungsaufwand gehen von 6–10 h am Tag aus [16]. Allerdings hängt dieser sehr stark von der Art der Demenz und dem jeweiligen Stadium ab.

Insgesamt ist immer noch wenig darüber bekannt, wie Angehörige ihre Unterstützungsarrangements gestalten, was sie als hilfreich oder hinderlich in der täglichen Bewältigung des Alltags mit einem demenziell veränderten Menschen erleben sowie in welchen Lebensbereichen sie die Veränderungen als sehr einschneidend wahrnehmen. Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach, in dem aus der Perspektive der pflegenden Angehörigen dargestellt wird, welche Lebensbereiche sich durch die Fürsorgeübernahme verändert haben.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Hierfür wurden 14 qualitative Interviews mit pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz durchgeführt. Ergänzend konnten teilweise auch Interviews mit den Menschen mit Demenz selbst geführt werden. Es war den pflegenden Angehörigen überlassen, ob die Menschen mit Demenz in der Interviewsituation anwesend waren oder nicht. Die Entscheidung wurde ihnen überlassen, da Angehörige von Menschen mit Demenz aufgrund des hohen Betreuungsaufwandes [16] meist über wenig freie Zeit verfügen. Um sicherzustellen, dass die Interviewsituation möglichst entspannt und angenehm für die pflegenden Angehörigen war, konnten sie darüber hinaus den Interviewort aussuchen [12]. Ein Interview fand in einer Tagespflegeeinrichtung und alle anderen Interviews im jeweiligen Privathaushalt statt.

Die Interviews waren leitfadengestützt und wurden aufgezeichnet. Zu jedem Interview wurde ein Postskript [11] angefertigt, das erweiterte Informationen über die Interviewsituation enthielt. Alle Interviews wurden regelgeleitet transkribiert und nach der Grounded Theory [19, 20] und mit der Analyse Software MAXQDA in einer Forschungsgruppe ausgewertet.

Die Kontaktaufnahme zu pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz erwies sich als äußert schwierig, und der erste Versuch über Arztpraxen, Apotheken und Krankenhäuser war nicht erfolgreich. Ein Grund dafür mag der hohe Betreuungsaufwand sein und der daraus resultierende geringe Handlungsspielraum pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz.

Im zweiten Schritt wurden Angehörigengesprächskreise unterschiedlicher Träger in Nordrhein-Westfalen an drei Standorten kontaktiert. Dort wurde das Forschungsvorhaben vorgestellt. Vierzehn Angehörige erklärten sich schließlich bereit, an einem Interview teilzunehmen. Die Gewinnung der „interviewees“ muss bei der Interpretation der hier dargestellten Ergebnisse berücksichtigt werden: Alle Interviewees hatten zum Zeitpunkt des Interviews bereits Kontakt zu Anlaufstellen für pflegende Angehörige. Sie hatten also bereits Unterstützung – mindestens durch eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige. Das mag ein Grund dafür sein, dass in diesem Sample gleich viele männliche und weibliche pflegende Angehörige enthalten sind, und könnte erklären, warum überdurchschnittlich viele berufstätige pflegende Angehörige, auch in Führungspositionen, in dem Sample zu finden sind. In zwei Familien konnte das Interview mit mehreren Personen geführt werden. Auf die Frage, wer die Hauptbezugsperson für die Gestaltung des Unterstützungsarrangements sei, entschieden diese Familien, dass sie die Verantwortung und den täglichen Betreuungsaufwand gleichwertig untereinander aufteilen. Dementsprechend wurde versucht, die Interviews mit allen Hauptbezugspersonen zu führen.

Während einige Autor*innen den Anteil von weiblichen pflegenden Angehörigen bei über 70 % schätzen [16] und Sorgearbeit insgesamt immer noch weiblich attribuiert ist [1, 6, 14, 18], zeigt das hier vorgestellte Sample in diesem Punkt eine Balance: Insgesamt sind in 7 Unterstützungsarrangements die Hauptbezugspersonen männlich, und in 2 anderen ist eine der Hauptbezugspersonen männlich. Die Interviewees sind zum Zeitpunkt des Interviews 18 bis 85 Jahre alt, und 5 Hauptbezugspersonen sind erwerbstätig. Die Interviews dauern zwischen 36 min und 2:05 h.

Ergebnisse

Selbstfürsorge als zentrales Element für die Tragfähigkeit von Unterstützungsarrangements

Alle Angehörigen stimmen darin überein, dass die größte Herausforderung durch die Fürsorgeübernahme für einen demenziell veränderten Menschen darin besteht, Elemente der Selbstfürsorge, die für die eigene Gesundheit und somit auch für die Tragfähigkeit der Unterstützungsarrangements wichtig sind [9], aufrechtzuerhalten. Elemente der Selbstfürsorge sind interindividuell unterschiedlich, aber in fast allen Unterstützungsarrangements als „Inseln“ zu finden. Für die einen Angehörigen ist es die Berufstätigkeit, die „einen in eine andere Welt eintauchen lässt“ (2-1-2: 239), für andere Hobbys oder ehrenamtliche Tätigkeiten, in denen sie nicht als pflegende Angehörige wahrgenommen werden. Je weiter die Demenz fortschreitet, desto schwieriger wird es, Elemente der Selbstfürsorge in den Alltag zu integrieren bzw. geht die Sicherstellung von Selbstfürsorge im Alltag mit einem erhöhten Organisationsaufwand einher. Dies führt oftmals dazu, dass keine Balance mehr zwischen Selbst- und Fremdfürsorge aufrechterhalten werden kann und Letztere im Alltag überwiegt, mit der Folge, dass die Tragfähigkeit des Unterstützungsarrangements gefährdet ist.

Übernahme von Fürsorgeverantwortung hat Auswirkungen auf alle Bereiche des täglichen Lebens

Die Angehörigen berichteten in den Interviews von einschneidenden Veränderungen im alltäglichen Leben. Einen Überblick über die in den Interviews thematisierten Lebensbereiche gibt Abb. 1; die darin benannten Themen Arbeit und Gesundheit werden in diesem Beitrag ausgeklammert, da sie ausführlich in den Beiträgen von Kaschowitz und Lazarevič sowie Hampel bzw. Ehrlich et al. des vorliegenden Themenhefts behandelt werden.

Abb. 1
figure 1

Von den Angehörigen thematisierte Veränderungen im täglichen Leben

Soziale Beziehungen

Die Übernahme der Fürsorgeverantwortung für einen demenziell veränderten Menschen beeinflusst vorhandene Beziehungen in der Familie, im Freundeskreis und in der Nachbarschaft. Einige Angehörige beschreiben die Demenz als Familienkrankheit (3-I-02, 1‑I-03, 1‑I-05), denn sie verändert auch das familiale Verhältnis untereinander. So kommt es in einigen Familien zu Zerwürfnissen, weil sich die Vorstellungen über die Gestaltung von Fürsorgeverantwortung unterscheiden (Pflegeheim als [k]eine Option), Uneinigkeit über eine gemeinsame Situationsdefinition besteht („normaler“ Alterungsprozess vs. Erkrankung) oder Familienmitglieder, die weiter entfernt wohnen, nicht der Erwartung entsprechend entlasten. Auch finanzielle Aspekte können dabei eine Rolle spielen, wenn beispielweise Erbteile anhand von erwarteten Fürsorgeübernahmen verteilt werden. Die Veränderungen in den sozialen Beziehungen innerhalb der Familie führen zu einer zusätzlichen emotionalen Belastung für die Hauptbezugsperson, die in den Interviews teilweise als sehr belastend beschrieben wird. So berichtet eine Schwiegertochter:

Was mich also sehr belastet, ist diese ja familiäre Situation, das also nicht dementsprechend gesehen wird, der Hilfebedarf. Die Situation, dass es überhaupt nicht richtig eingeschätzt wird. Auch die Situation von meiner Schwiegermutter, was sie eigentlich für Bedürfnisse hat (3-I-01: 646 ff.).

Auch auf die Beziehungen im Freundeskreis hat die Fürsorgeübernahme Auswirkungen. So berichten einige Interviewees, dass Freund*innen nicht mehr anrufen, um gemeinsame Unternehmungen zu planen, da die Organisation von gemeinsamen Aktivitäten kompliziert geworden sei. Ein Interviewee berichtet, dass „alle gesellschaftlichen und freundschaftlichen Kontakte den Bach runter [gehen; Ergänzung von S. F. G.]. Nein, es kommen eben auch keine Freunde und Bekannte von früher, die kommen eben nicht mehr“ (2-I-01: 252 ff.).

Im Zuge der Fürsorgeübernahme werden nachbarschaftliche Kontakte oft wichtiger. Wenn demenziell veränderte Menschen plötzlich die Wohnung verlassen oder es darum geht, kleine nachbarschaftliche Tätigkeiten zu übernehmen (beispielweise Mülltonnen rauszustellen oder die Hecke zu schneiden). Durch die Fürsorgeübernahme gewinnt eine gute Nachbarschaft an Bedeutung. Im Sinne von „ein guter Nachbar ist mehr wert als ein ferner Freund“ (3-I-02: 591).

„Unliebsame“ Kontakte

Eine weitere Veränderung im alltäglichen Leben von Hauptbezugspersonen demenziell veränderter Menschen sind die vielen neuen Kontakte, die notwendig werden – aber unfreiwillig sind. So antwortet eine Interviewee auf die Frage, was die größte Veränderung in einem Alltag mit einem demenziell veränderten Menschen sei: „Ja also, man hat viel mehr Kontakt zu Ärzten, als einem lieb ist …. Da waren wir hier oben bei dem Neurologen, und das war so ganz schrecklich ….“ (1-I-03: 4 ff.) Bei diesen Kontakten handelt es sich oft um Kontakte zu Professionellen, die als „gatekeeper“ für Entlastung sorgen könnten, bei denen es aber im Rahmen von Aushandlungsprozessen nicht gelingt, eine gemeinsame Situationsdefinition zu finden. Eine gemeinsame Definition der Situation aller involvierten Akteure ist für die tragfähige Gestaltung von Unterstützungsarrangements aber eine Grundvoraussetzung [24]. Uneinigkeit besteht bei der Diagnosestellung oder Medikamentierung (1-I-01, 3‑I-04), bei der Ausgestaltung und Nutzung von Entlastungsangeboten durch ambulante oder teilstationäre Angebote (1-I-06, 3‑I-02) oder bei der Einstufung in eine Pflegstufe (1-I-04; 2‑I-03; 1‑I-01; 3‑I-01; 1‑I-02; 3‑I-04; 2‑I-01).Footnote 2

Ein Problem in der Interaktion mit Professionellen scheint insgesamt die Adressierung des Menschen mit Demenz zu sein: Oftmals wird der demenziell veränderte Mensch aus der Perspektive der pflegenden Angehörigen nicht adäquat – nämlich weiterhin als Subjekt – adressiert. Vielmehr adressieren Professionelle Menschen mit Demenz gelegentlich defizitär als Objekte von Pflege- und Versorgungshandlungen. Mehrere Interviewees berichten von Begegnungen mit Professionellen, in denen diese beispielweise über den Menschen mit Demenz reden, während diese/dieser mit im Raum sitzt oder sich abfällig über diese/diesen äußern (3-I-03,1-I-02, 3‑I-05) – mit der Folge, dass die Angehörigen den Kontakt zu diesen Professionellen meiden. Diese Professionellen werden nicht als Unterstützung wahrgenommen und ein Kontakt mit ihnen auf ein Minimum begrenzt, auch wenn das bedeutet, dass kein Widerspruch gegen die Ablehnung einer Pflegestufe erfolgt oder Medikamente, die nicht die gewünschte Wirkung zeigen, eigenhändig abgesetzt werden, weil die Partnerin dann „nämlich zufriedener und ansprechbarer“ (3-I-04: 68) sei. Ein Autor, der für ein ganzheitliches Bild auf Demenz plädiert ist Peter Wißmann [23]. Er betont [ebd.: S. 17] in diesem Zusammenhang den Subjektstatus von Menschen mit Demenz und weitet den Blick damit auf „das Umfeld, in dem der Mensch mit Demenz lebt, (inter)agiert, kommuniziert, reagiert und handelt.“

„Unliebsame“ Beschäftigungen

Eine weitere große Veränderung, die in allen 14 Interviews thematisiert wird, ist die plötzliche Beschäftigung mit Dingen, mit denen man sich vorher nie beschäftigt hat. Das sind z. B. finanzielle Angelegenheiten wie Bankgeschäfte, die bisher der erkrankte Ehepartner übernommen hat (3-I-01), die Organisation der Vereinbarkeit von Fürsorgeübernahme und Berufstätigkeit (3-I-05, 1‑I-03, 1‑I-05), die Beschäftigung mit Bürokratie, wenn beispielweise eine Pflegestufe beantragt oder ein Widerspruch eingereicht werden soll (1-I-04, 2‑I-03). In dem Zusammenhang wird die Ablehnung der Pflegestufe in erster Instanz von einigen Angehörigen als fehlende Wertschätzung für die Fürsorgeübernahme gewertet und gefordert, dass „der Medizinische Dienst … Leute schicken [sollte], die von Alzheimer und von Demenz überhaupt was verstehen“ (2-I-03: 232 ff.; Ergänzung von S. F. G). Einige Angehörige beschreiben in den Interviews ihren Werdegang zum Organisator und Netzwerker durch die Fürsorgeübernahme – besonders dann, wenn viele unterschiedliche Akteure in das Unterstützungsarrangement eingebunden sind. Ein Angehöriger fasst zusammen:

Eine wesentliche Auswirkung der Erkrankung ist, dass außerordentlich viel zu organisieren ist. Das erfordert sehr viel Zeit. Das ist das Organisieren der Betreuung als solcher. Man muss sich darum kümmern, wie wird man mit der Situation fertig, wen kann man da hinzuziehen. Dass kostet Zeit, man muss mit vielen Leuten sprechen, man muss Schriftkram erledigen, wenn man Hilfe in der Betreuung hat. Dann muss man also weiter, na ja, sagen wir mal, so die anfallende Logistik selbst bewältigen (2-I-01: 177 ff.)

Suche nach passenden Entlastungsangeboten

Alle Interviewees berichten von ihren Bemühungen, passende Entlastungsangebote zu finden. Dabei gibt es häufig auf den ersten Blick ausreichende Entlastungsangebote in der Region, die aber nicht passend für die individuelle Situation sind. So berichtet ein Ehemann, dass er mehrere ambulante Pflegedienste ausprobiert hat, diese aber nicht zu seinen täglichen Zeitabläufen passen: „Pflegedienst, die haben eine ganz bestimmte Zeit, die arbeiten nach der Uhr, müssen sie auch wohl, und da kann ich nicht sagen, ihr müsst mir morgens um acht Uhr auf der Matte stehen“ (3-I-02: 69 ff.). Ein anderer Angehöriger berichtet, dass er den Abholdienst der Tagespflegeeinrichtung nicht nutzt, denn „normalerweise holen die die Leute auch ab, aber dann müsste ich ja schon mitten in der Nacht aufstehen“ (1-I-06: 50 f), und ein weiterer Interviewee berichtet, dass er gerne an zwei bestimmten Tagen einen Platz in einer Tagespflegeeinrichtung gehabt hätte, weil er an den Tagen seiner ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehen wollte: „Wollte ich gerne dienstags und donnerstags dahin, dann sagt sie, nee also da haben wir so viele Leute schon, da kommen wir lieber mittwochs“ (1-I-06: 34 ff.).

Deutlich wird an diesen Aussagen, dass, selbst wenn augenscheinlich genügend Entlastungsangebote vorgehalten werden, das nicht zwangsläufig bedeutet, dass pflegende Angehörige diese auch nutzen (können). Werden keine passenden Entlastungen gefunden, wird es in der Folge schwierig, Selbstfürsorgeelemente in den Alltag zu integrieren, um beispielweise im Rahmen von Freizeitgestaltung eigene Hobbys aufrechtzuhalten.

Freizeitgestaltung

Die Wahrung von Freizeitaktivitäten ist eine große Herausforderung für die Hauptbezugspersonen demenziell veränderter Menschen und bedarf eines hohen Organisationsaufwandes nach der Übernahme der Fürsorgeverantwortung. Sie gelingt nicht in allen Unterstützungsarrangements, ist aber als Stressbewältigungsstrategie sehr wirksam.

Angehörige von demenziell veränderten Menschen müssen ihre Stressbewältigungsstrategien zur Alltagsbewältigung stetig neu an den progredienten Verlauf der Demenz anpassen. Sie sehen sich daher mit der Notwendigkeit einer permanenten Erweiterung ihres Repertoires an Coping-Strategien konfrontiert. Auf diese Weise kann ein stetiger Lernprozess bzw. eine stetige Erweiterung des Coping-Repertoires stattfinden. Allerdings darf ein Scheitern von Coping-Strategien gerade im Bereich von Hilfe und Pflege von Menschen mit Demenz nicht als individuelles Scheitern gesehen werden, sondern muss auch im Kontext „strukturbedingter Belastungen“ [2, S. 157] betrachtet werden. Hierzu zählen beispielweise eine fehlende oder nicht passgenaue Angebotsstruktur, zu hohe bürokratische Hürden im Rahmen des SGB XI oder gescheiterte Aushandlungsprozesse mit Professionellen bezüglich einer gemeinsamen Situationsdefinition. So weist Philipp-Metzen [13] darauf hin, dass die Situation pflegender Angehöriger bei Demenz besonders prekär ist: Selbst, wenn ausreichend Entlastungsangebote vorhanden sind, werden sie oft nicht angefragt, da viele Angehörige bereits die Inanspruchnahme von professionellen Diensten als Ausdruck des Scheiterns betrachten. Wenn es jedoch nicht gelingt, Selbstfürsorgeelemente in den Alltag zu integrieren, ist die Stabilität des Unterstützungsarrangements gefährdet. So vergleicht Zeman [24] die Gestaltung von Unterstützungsarrangements mit einer Pyramide von Akrobaten: Wenn die Schlüsselpersonen die Balance verlieren, stürzt das ganze Konstrukt zusammen. Ein Beispiel, wo es nicht gelingt, Selbstfürsorgeelemente im Alltag aufrechtzuerhalten, ist das folgende Zitat einer Ehefrau:

[...] und eigentlich dann nur noch alles andere vergessen und nur noch da für diese Person da sein und organisiert haben, und dann haben Sie praktisch nichts mehr für sich persönlich, aber es ist eine gewisse Ruhe eingekehrt, in Anführungszeichen (2-1-02: 424 ff.)

Diskussion

Der vorliegende Beitrag verdeutlicht die weitreichenden Veränderungen in den verschiedenen Lebensbereichen durch die Fürsorgeübernahme für einen demenziell veränderten Menschen und zeigt auf, dass die für die Tragfähigkeit von Unterstützungsarrangements wichtige Selbstfürsorge nur durch einen hohen Organisationsaufwand aufrechterhalten werden kann. Gleichzeitig machen die vorliegenden Ergebnisse deutlich, wie vielschichtig und multikausal die Frage der Inanspruchnahme bzw. Nichtinanspruchnahme von (professionellen) Unterstützungsleistungen ist und zeigen auf, dass es nicht ausreichend ist, Stabilität als Adaptionsfähigkeit von Hauptbezugspersonen an den progredienten Verlauf der Demenz zu begreifen (vgl. den Definitionsvorschlag von von Kutzleben et al. [21]). Die Tatsache, dass die Einigung auf eine gemeinsame Situationsdefinition eine große Rolle dabei spielt, ob Hauptbezugspersonen Professionelle als unterstützend wahrnehmen und ihre Hilfe in Anspruch nehmen, weitet den Blick über eine Individualisierung der Problematik auf die gesellschaftliche Ebene.

Insgesamt gibt es noch wenig Forschung zu den Auswirkungen der Fürsorgeübernahme auf den Alltag von Hauptbezugspersonen. Neben den, aus der Sicht der Hauptbezugspersonen, eher negativen Auswirkungen, die in diesem Beitrag im Fokus stehen, scheint es aber auch positive Auswirkungen im Sinne von Entwicklungspotenzialen für die eigene Biografie zu geben, wie die Arbeiten von Röwekamp [14] nahelegen. Künftig sollte die Unterstützung der Unterstützer*innen noch stärker in den Fokus rücken. Dabei gilt es, Forschungsdesiderate zu identifizieren und zu beheben. So ist beispielweise aktuell nichts darüber bekannt, welche Rolle Angehörigengesprächskreise bzw. die Pflegeselbsthilfe für die Tragfähigkeit von Unterstützungsarrangements spielt bzw. spielen kann.

Fazit für die Praxis

  • Es ist nicht ausreichend, auf kommunaler Ebene Entlastungsangebote vorzuhalten. Diese müssen zu den individuellen Zeitabläufen passen. Daher sollten pflegende Angehörige bereits in die Angebotsplanung einbezogen werden. Bestehende Angebote müssen flexibler auf die individuellen Bedürfnisse eingehen können.

  • Die enorme Bedeutung der Selbstfürsorge verdeutlicht, dass pflegende Angehörige Begleitung in der Aneignung ihrer Rolle – im Sinne einer Weiterentwicklung ihrer Identität – benötigen. In der Praxis sollten hier Lern- und Bildungsangebote vorhalten werden, die über das Thema Entlastung hinausgehen.

  • In der Aus- und Weiterbildung von Professionellen sollte ein defizitäres Demenzmodell durch ein ganzheitliches ersetzt werden.

  • Ein Konsens im Sinne einer gemeinsamen Situationsdefinition aller am Unterstützungsarrangement Beteiligten ist bedeutend. Für diesen Konsens spielt die Haltung der Professionellen eine wichtige Rolle – im Sinne einer Anerkennung des Menschen mit Demenz als Subjekt. Diese müsste, genau wie ein ganzheitliches Demenzmodell, bereits Gegenstand von Aus- und Weiterbildung sein.

  • Die Herstellung von tragfähigen Arrangements benötigt entsprechende Rahmenbedingungen. Die Gestaltung dieser Rahmenbedingungen darf nicht an die pflegenden Angehörigen delegiert werden, sondern ist vielmehr eine sozialpolitische Aufgabe. In diesem Sinne muss ein Scheitern der Herstellung von tragfähigen Unterstützungsarrangements auch als gesellschaftliches Scheitern betrachtet werden.