Hintergrund und Ziel

Trotz zunehmender Arbeits- und Wohnortmobilität wurde das Thema Pflege und Unterstützung von Angehörigen bei räumlicher Distanz („distance caregiving“) in der deutschsprachigen Forschungsliteratur bislang weitgehend vernachlässigt. Dies ist beispielsweise in den USA oder Kanada anders; dort ist Unterstützung von Angehörigen bei räumlicher Entfernung seit Längerem ein Forschungsthema. Im Rahmen eines binationalen Forschungs- und Entwicklungsprojekts wurde eine systematische Literaturanalyse zum neuesten Forschungsstand zu Distance caregiving durchgeführt. Der Fokus lag sowohl auf erwerbstätigen wie auch nichterwerbstätigen Angehörigen und älteren pflegebedürftigen Nächsten, denn Unterstützung auf Distanz erfolgt vorwiegend zwischen Kindern und ihren (Schwieger‑)Eltern. Ziel der Literaturanalyse ist, spezifische Merkmale der sog. Pflegearrangements auf Distanz auf Basis der aktuellen Forschungsliteratur herauszuarbeiten. Dabei wird u. a. auf das Problem der definitorischen Abgrenzung zentraler Begriffe, v. a. zur räumlichen oder zur zeitlichen Entfernung, und in der Folge die erschwerte Prävalenzbestimmung eingegangen. Zudem werden wesentliche soziodemografische Merkmale und Strategien dieser Hilfearrangements skizziert.

Methodisches Vorgehen

Die systematische Literaturrecherche (Stand April 2019) erfolgte per Schlagwortsuche in folgenden einschlägigen Datenbanken: Psychinfo, Web of Science, CINAHL, PubMed und google scholar. Ein- und Ausschlusskriterien wurden a priori festgelegt. Schlagwörter zum Einschluss waren: distance care/caregiving/carers/caregivers; working carers; reconciliation/compatibility/balance work and care; care and employment; distance, distant, from afar, out of town; care, carer, caregiving; proximate/proximity care; distal care; räumliche Distanz, Entfernung, entfernt, Ferne, weit weg; Pflegender, pflegende Angehörige, Pflege, Sorge, Unterstützung; unmittelbare Pflege; körperferne, distale Pflege; erwerbstätige Pflegende; Vereinbarkeit Beruf und Pflege. Komplementiert wurde die elektronische Datenbanksuche durch eine gezielte Sichtung von Bibliothekskatalogen (Universität Heidelberg, Landeskirche Baden-Württemberg) sowie anhand von Referenzlisten der bis dato identifizierten Publikationen („Schneeballmethode“). Die Liste der für die Literaturübersicht relevanten Publikationen wurde so bis zum Ende des Analyseverfahrens fortwährend ergänzt. Die endgültige Auswahl erfolgte durch die Sichtung von Titel, Abstract (sofern vorhanden) und Volltext, jeweils unabhängig bewertet durch zwei Projektmitarbeiterinnen.

Dabei war die Suche beschränkt auf deutsch- und englischsprachige Publikationen; eine zeitliche Eingrenzung wurde nicht vorgenommen. Um das in Deutschland noch neue Thema Distance caregiving umfassend beschreiben zu können, wurden nicht nur wissenschaftliche Studien in die Analyse einbezogen, sondern auch „policy papers“ und Ratgeber. Publikationen, die weder in den entsprechenden Datenbanken oder Bibliothekskatalogen noch über Fernleihe verfügbar waren, wurden direkt bei den Autorinnen und Autoren angefragt. Weiteres Einschlusskriterium war die explizite inhaltliche Adressierung von Distance caregiving als primärer Fokus mit eindeutiger Forschungsfrage. Es war nicht ausreichend, dass die räumliche Distanz eine von vielen Variablen war, um beispielsweise die Belastung pflegender Angehöriger zu untersuchen.

Mit diesem Fokus wurden insgesamt 55 Publikationen identifiziert. Hierbei handelt es sich überwiegend um Fachartikel in Zeitschriften (bezogen auf quantitativ oder qualitativ ausgerichtete Studien), um ein Policy paper, 5 Reviews, 4 Dissertationen, eine Masterarbeit, 3 Ratgeber, 3 Buchkapitel und 2 Monografien. Die relevanten Quellen wurden mithilfe der strukturierenden Inhaltsanalyse und der Software MAXQDA deduktiv codiert sowie hinsichtlich zentraler Erkenntnisse gebündelt und geordnet [27]. Das Projektteam formulierte zunächst theoretische Vorüberlegungen und erstellte ein entsprechendes Suchraster entlang der vorab gestellten Forschungsfragen und Kategorien. Die gesichtete Literatur stammt vornehmlich aus dem nordamerikanischen Raum oder aus Großbritannien und wurde zu einem Großteil zwischen 2001 und 2010 publiziert.

Ergebnisse

Definitorische Abgrenzung

In der einschlägigen Literatur findet sich keine einheitliche Definition von „distance“. Diese wird zum einen in konkreten Entfernungseinheiten angegeben (insbesondere bei Survey-Analysen), in Reisezeiten oder in anderen subjektiven Parametern. So sprechen einige Studien beispielsweise bei einer Distanz von mehr als 10 Meilen (=16 km) innerhalb des Betreuungsarrangements von Distance caregiving [19]. Andere legen 50 Meilen (=80 km) zugrunde, was laut Autor/-innen ungefähr einer Reisezeit von 1 h entspricht [20, 43]. Bei den Entfernungszeiten ist die Situation ähnlich uneinheitlich. Während einige Autor/-innen als Kriterium für eine Distance-caregiving-Beziehung mindestens 30 min Fahrt‑/Reisezeit ansetzen [25], sind dies in anderen Untersuchungen mindestens 2 h [24, 34]. Am geläufigsten scheint eine Entfernung von etwa 1 h Reisezeit [14, 31, 45, 50]. Vereinzelte Studien propagieren einen subjektiven Distanzbegriff und stellen das gefühlte Distanzempfinden in den Vordergrund, beispielsweise, wenn aufgrund räumlicher Entfernungen die Kommunikation erschwert wird [7, 38]. Die uneinheitlichen Definitionen führen dazu, dass eine Engführung des Begriffs Distance caregiving schwierig ist. Andererseits kann die räumliche Distanz auch als ein dynamisches Kontinuum verstanden werden [14], das je nach persönlicher Situation (Gesundheitszustand der pflegenden und pflegebedürftigen Angehörigen, Pendeln zum Arbeitsplatz, familiäre Situation) unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Cagle erläutert zudem prägnant die sozioökonomischen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen: „Factors related to socioeconomic status may influence how distance is perceived by caregivers. For example, the absence of telephone or internet service, lack of access to a car, and the inability to pay for gas or plane tickets can exaggerate geographic distance, making even short trips impractical“ [11, S. 12 f.]. Dies spricht für ein subjektives Distanzempfinden [39]. Die Art der Unterstützungsleistung sowie die Person des „care receiver“ werden in der angloamerikanischen Literatur eher weit gefasst. Der Caregiving-Begriff beinhaltet auch instrumentelle und organisatorische Hilfe sowie kognitive und emotionale Dimensionen wie Monitoring, Aufmerksamkeit, Problemwahrnehmungs- und Problemlöseverhalten. Ebenso umfasst „caregivers“ nicht ausschließlich ein Verwandtschaftsverhältnis, sondern auch Angehörige in einem breiten Verständnis, d. h. nahe Freunde oder involvierte Nachbarinnen und Nachbarn.

Schätzung der Prävalenz

Die Studie von Wagner ist bezogen auf die Frage nach der Prävalenz einzigartig in dem Versuch, Distance caregivers in absoluten Zahlen abzubilden [50]. Sie nutzt zur Identifizierung der Stichprobe eine in den USA monatlich stattfindende repräsentative Panel-Befragung (ca. 10.000 Befragte). Eingeschlossen wurden pflegende Angehörige, die aus einer Entfernung von mindestens 1 h Reisezeit für eine mindestens 55-jährige Person sorgen. Hochgerechnet für die USA ergeben die 200 Distance caregivers aus der Studie von Wagner rund 7 Mio. Personen, was einer Prävalenz von etwa 26 % unter allen pflegenden Angehörigen entsprich. Diese Zahl wird seitdem wiederholt als Referenz herangezogen [15, 16, 31, 51]. Repräsentative Umfragen oder einschlägige Statistiken zur Prävalenz in den deutschsprachigen Ländern existieren nicht.

Personen im Pflegearrangement

Laut Literatur sind die unterstützungsbedürftigen Personen zu 70–76 % (Stief‑)Eltern oder Schwiegereltern, zu 3–10 % Freunde/Bekannte, zu 5 % erwachsene Kinder und zu 2,5 % Geschwister der Distance caregivers [24, 31, 34, 50, 51]. In den meisten Fällen (68 %) sind die pflegebedürftigen Personen weiblich und im Schnitt etwa 78 bis 89 Jahre alt. Es wohnen 35 % allein im eigenen Haushalt, 24 % mit dem/der Partner/-in, 13 % mit anderen Angehörigen, 14 % im Pflegeheim und weitere 14 % in betreuten Wohnformen oder „retirement communities“ [31]. Unterstützt werden Distance caregivers insbesondere von eigenen Geschwistern und (Ehe‑)Partnern/Partnerinnen sowie Partnern/Partnerinnen der pflegebedürftigen Person. Professionell Helfende sind v. a. dann wertvoll, wenn es nur eine einzige Angehörigenperson gibt [22, 38]. Der Bedarf an Serviceleistungen ist jedoch weitaus höher als die eigentliche Inanspruchnahme [34]. In der Untersuchung von Wagner erhält ein Drittel der Hilfebedürftigen sogar Unterstützung aus der Nachbarschaft vor Ort [50]. Es lässt sich resümieren, dass Pflege auf Distanz in einem bedeutsamen Ausmaß mit hoher familialer Verantwortung verknüpft ist. In 10–23 % der Fälle sind Distance caregivers auch die Hauptverantwortlichen („primary caregiver“) für das Pflegearrangement [24, 31, 50], obwohl entfernt lebende Angehörige erst dann in den Pflegeprozess eingebunden werden, wenn keine anderen nahestehenden Personen vor Ort leben [34].

Wesentliche soziodemografische Charakteristika der pflegenden Angehörigen auf Distanz

Insgesamt sind Distance caregivers eher weiblich (54 %), wobei sich im demografischen und sozialen Wandel (veränderte Familienformen, wachsende berufliche Mobilität) die Notwendigkeit für Pflege durch Männer andeutet [31, 34]. Sie sind im Schnitt zwischen 46 bis 51 Jahre alt und leben in einer Partnerschaft [24, 31, 34, 50, 51]. Einzelkinder leben offenbar mit höherer Wahrscheinlichkeit in der Nähe der Eltern als Geschwisterkinder [48]. Aus der US-amerikanischen MetLife-Studie geht zudem hervor, dass etwa 27 % der Befragten eine parallele Verantwortung für ein minderjähriges Kind und einen älteren Menschen haben [31]. Etwa drei Viertel der Distance caregivers in den USA verfügen über einen College- oder Hochschulabschluss, bei den nichterwerbstätigen Pflegenden ist es nur etwa jede/jeder Dritte [31, 34]. Dementsprechend zeichnen sie sich durch einen höheren sozioökonomischen Status aus, mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen in den USA von $ 75.000 und mehr (Durchschnitt der Gesamtbevölkerung ca. $ 56.000Footnote 1; [31]).

Art der geleisteten Unterstützung

Im Schnitt erfordert der Reiseweg in den zentralen US-amerikanischen Studien zwischen 480–725 km bzw. 4–7 h [31, 50]. Handreichungen im Tagesverlauf sind damit für die meisten Distance caregivers kaum möglich. Sie bringen sich vorwiegend in die instrumentelle Pflege vor Ort ein [12, 15, 24, 28, 31, 34, 50, 51]. Laut der MetLife-Studie, die eine Mindestreisezeit von 1 h zugrunde legt, besucht ein Drittel der Distance caregivers die zu pflegende Person im Schnitt mindestens einmal/Woche, und fast die Hälfte berichtete, dass sie ca. einen Arbeitstag/Woche für organisatorische Aufgaben aufwenden [31]. Fast 75 % helfen bei instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) und wenden dafür im Schnitt 22 h/Monat auf. Zusätzlich leisten 40 % „hands-on care“ (Frauen ca. 14,5 h/Monat, Männer ca. 11 h/Monat, [31]). Insgesamt sind häufige Besuche im Monat bei weiteren Wohnentfernungen jedoch kaum möglich [43]. Fast die Hälfte der von Koerin und Harrigan befragten Distance caregivers (48 %; Minimum 2 h Reisezeit) gaben an, dass sie ihre Angehörigen 1–3 h/Woche unterstützen, 22 % 4–8 h/Woche und weitere 30 % mit mehr als 10 h/Monat [24]. Insgesamt ergeben sich aus der Literatur folgende wichtige Hilfebereiche der Distance caregivers:

  • emotionale Unterstützung und Motivation im Alltag durch regelmäßigen Kontakt, meist per Telefon, aber auch per E‑Mail, Textnachrichten oder über Videotelefonie [7, 14, 41];

  • Beiträge zu Koordination und Qualitätssicherung der Gesamtversorgung [5, 13, 37];

  • Organisation von Fahrdiensten wie Essen auf Rädern, Haushaltshilfen, Absprachen mit Pflegediensten [3, 37, 50];

  • Behandlungsunterstützung (z. B. Medikamenteneinnahme sicherstellen [5, 6, 24]);

  • administrative Aufgaben wie Behördengänge, Bankgeschäfte, Steuererklärungen [3, 41, 51];

  • Unterstützung bei der Informationsbeschaffung und -aufbereitung, um als Familie fundierte Entscheidungen treffen zu können [13, 16];

  • Kontrolle und Sicherheit im Alltag, beispielsweise Telefonlisten, tägliche Anrufe oder Absprachen mit Nachbarn/Nachbarinnen, die regelmäßig nach dem Rechten schauen und im Notfall am schnellsten zugegen sind [13, 16];

  • direkte finanzielle Unterstützung durch Geldleistungen oder durch Übernahme bestimmter Ausgaben [16, 41, 50].

Es lässt sich resümieren, dass sich bei näherer Betrachtung auch hinter Distance caregiving ein vieldimensionales Unterstützungsgeschehen verbirgt. Die Unterstützung erfolgt zwar weniger als direkte körpernahe Hilfe, aber als wichtige Orchestrierung diverser formeller und informeller Leistungen rund um die Pflegesituation sowie auch das Kümmern um Helfende vor Ort (wie beispielsweise weitere Angehörige im gleichen Haushalt).

Herausforderungen bei räumlicher Distanz

Obwohl nur etwa ein Fünftel der Distance caregivers glaubt, dass die Pflege an sich bei einer geringeren Entfernung besser für die Pflegebedürftigen gestaltet wäre, ergeben sich durch die Distanz spürbare Belastungen für die pflegenden Angehörigen [43]. Kleinere Wegstrecken (beispielsweise Fahrtzeiten von 20–30 min) sind auch bei Hilfebedarf von Angehörigen nicht immer mit negativen Auswirkungen verbunden [49]. Eine größere Entfernung ist jedoch ein Hindernis, um in Krisensituationen schnell vor Ort sein zu können. Persönliche Besuche und damit auch Sinneswahrnehmungen zu alltäglichen Problemen sind nur eingeschränkt möglich [13, 16, 30, 34]. Dies wird mit steigendem Unterstützungsbedarf und fehlender Hilfe vor Ort zunehmend schwieriger, sodass Faktoren wie der Verlust von (Ehe‑)Partner/-in in Kombination mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Pflegebedürftigen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Angehörigen räumlich näher zueinander rücken [45]. Außerdem kann die Ungleichverteilung der Verantwortlichkeiten, je nach Distanz verschiedener Angehöriger, Konflikte fördern. Laut Schoonover et al. ist etwa ein Drittel der Distance caregivers mit Kritik von nahe wohnenden Geschwistern konfrontiert [43]. Ungelöste Familienkonflikte, neue Rollen und Rivalitäten, z. B. zwischen Geschwistern, erschweren Absprachen zwischen Familienmitgliedern und das Sicherstellen der Versorgungssituation vor Ort [34, 43, 46, 51]. Obwohl laut der US-amerikanischen Studie von Minahan et al. 53 % allgemein Interesse an Pflegeserviceleistungen hätten, werden diese nur von 8 % der Befragten tatsächlich genutzt [34]. Dies spricht für einen weitaus höheren Bedarf.

Bei verschlechtertem Gesundheitszustand ist der Pflegeheimeintritt oft die einzige Lösung [10]. Somit sind Angehörige auch in Pflegeheimen oder bei Klinikaufenthalten oft nicht vor Ort, wünschen sich aber gleichzeitig dort mehr Zeit, um mit Pflegekräften und ärztlichem Personal persönlich zu sprechen und bei Krankenbesuchen selbst anwesend zu sein [15, 16, 24, 28, 36]. Stattdessen fühlen sie sich von Fachkräften missachtet, weil sie nicht regelmäßig zu Besuch kommen und sind bei Entscheidungen um die Pflege, Behandlung und Betreuung wenig eingebunden. Dazu kommt oft eine hohe Unzufriedenheit mit dem Umfang und der Qualität an Informationen [3, 21, 47]. Zudem erhalten die räumlich abwesenden Angehörigen kaum psychoedukative Interventionen oder psychosoziale Unterstützung [28].

All dies führt zu Gefühlen der Unsicherheit und Ungewissheit über die Bedürfnisse oder den Gesundheitszustand der Nächsten. Entsprechend empfinden sich Distance caregivers oft hilflos und leiden unter Schuldgefühlen [1, 36, 51]. Wenn ältere Hilfebedürftige krankheitsbedingt nicht mehr telefonieren können und ein schriftlicher Kontakt auch nicht mehr möglich ist, erschwert dies zusätzlich die regelmäßige Kommunikation für entfernt lebende Angehörige [34, 36]. Für Bevan et al. [4] ist die Distanz damit eine zusätzliche und komplexe Herausforderung in einer ohnehin schon emotionsgeladenen und stressvollen Pflegesituation [4, 49]. Zudem haben Distance caregivers oft kaum Zeit für die eigene Regeneration. Laut Koerin und Harrigan verzichtet mehr als die Hälfte der Befragten auf Urlaub, Hobbys oder Freizeit, denn Urlaubsansprüche, Wochenenden und freie Tage werden häufig für die Betreuung der Nächsten vor Ort oder für terminliche Verpflichtungen genutzt [24].

Die Pflegesituation kann sich auch auf die Konzentration, den Gesundheitszustand und die Leistungsfähigkeit von erwerbstätigen Angehörigen auswirken, wenn sie nicht zeitgleich auf betriebliche Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zurückgreifen können. Diese Vereinbarkeit ist im Vergleich zur Kinderbetreuung kaum Thema unter Mitarbeitenden, was die Situation am Arbeitsplatz oftmals zusätzlich belastet und zu Missverständnissen führen kann [4, 31]. Besonders herausfordernd sind unerwartete Arbeitssituationen, die eine vorausschauende Planung beispielsweise von Reisen zu den Nächsten erschweren. Unzufriedenheit stellt sich ein, da sie aus ihrer Sicht keiner der an sie gestellten Aufgaben gerecht werden können – weder beruflich noch privat [34, 49]. Arbeitsorganisatorisch zeigen Distance caregivers im Vergleich zu erwerbstätigen Angehörigen vor Ort aufgrund der Reisezeiten häufiger ganze Fehltage. Etwa 60 % der Befragten haben laut Koerin und Harrigan mindestens eine negative Auswirkung durch die Pflegesituation am Arbeitsplatz erlebt wie beispielsweise Zuspätkommen oder Fehltage [24]. Die verlorene Zeit wird dann durch Überstunden oder Verzicht auf Freizeitausgleich kompensiert. Obgleich Distance caregivers ihre (Vollzeit‑)Beschäftigung oftmals aufrechterhalten, fühlt sich etwa ein Fünftel finanziell stark belastet [31, 34, 35]. Dies liegt u. a. an bezahlten Serviceleistungen, Reisekosten sowie indirekten Kosten wegen Arbeitsreduzierung oder unbezahlter Freistellung [2, 16, 31, 49]. Einige Studien zeigen auch, dass die Unterstützung bei räumlicher Distanz den Wunsch erhöht, früher in den Ruhestand zu treten. Damit sind auch nachhaltige finanzielle Einbußen bei der Alterssicherung verknüpft [49].

Strategien der Distance caregivers

Erfolgreiche Strategien bilden sich auf individueller, sozialraumbezogener sowie betrieblicher Ebene heraus, wie sich insbesondere in qualitativen Untersuchungen zeigt. Lösungswege beziehen alle Akteure/Akteurinnen und Bedürfnisse ein und berücksichtigen ebenfalls die Autonomie und Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Nächsten:

  • frühzeitige Informationsbeschaffung ist zwar zeitintensiv und erfordert eine hohe Gesundheitskompetenz z. B. bei Internetrecherchen und Informationsveranstaltungen [9, 40, 42, 43], dient jedoch der Kontinuität, wenn Unvorhergesehenes eintritt;

  • Notfallmanagement für Krisensituationen, um Abläufe und Kommunikationswege vorab zu besprechen, zu planen und festzulegen [40, 41];

  • Netzwerke und Hilfe mit lokalen Akteuren/Akteurinnen, um für die Distanzsituation zu sensibilisieren und konkrete Hilfeleistungen kooperativ einzubinden (Angehörige, Nachbarschaft, Ehrenamtliche), damit im Bedarfsfall die Akzeptanz vorbereitet ist und eingefordert werden kann [9, 37, 42, 50];

  • Entlastung und Entspannung durch Angehörigengruppen und „peer support“, verbunden mit gezielten Erholungsphasen wie Spaziergängen, körperlicher Aktivität, Treffen mit Freunden sowie Zeit in der Partnerschaft und mit der Familie [9, 42];

  • Therapie bei emotionalen Konflikten und Spannungen innerhalb der Familie [29];

  • Kommunikationsstrategien zur Klärung von Verantwortlichkeiten, einer vertrauensvollen Kooperation aller Beteiligten und für konkrete Absprachen innerhalb der Familie [9, 29, 40];

  • technische Unterstützung durch heutige Informations- und Kommunikationstechnologien (Videotelefonie, Chats, Messanger-Programme) zu Austausch sowie Verbundenheit zwischen Angehörigen, ihren Nächsten und dem weiteren Helfernetz. Informationstechnik(IT)-Systeme und entsprechende Infrastruktur (Computer, Scanner, Internet, IT-Support) dienen auch dem Austausch von gesundheitsbezogenen Unterlagen und Parametern [2, 8, 17, 18, 23, 32, 33, 44];

  • Strategien am Arbeitsplatz mit flexiblen Arbeitsortmodellen, gleitender Arbeitszeit oder Arbeitszeitenreduktion, allerdings nur eingeschränkt möglich mit festen Arbeitsstrukturen, starren Präsenzzeiten und ausgeschöpften IT-Potenzialen (beispielsweise „remote work“, [17, 26]).

Trotz der oben genannten Optionen ist kaum etwas aus der Forschungsliteratur über die Effizienz und die tatsächliche Praxis dieser Strategien bekannt. Hier bedarf es vertiefender Untersuchungen, welche Lösungen besonders hilfreich sind oder wo Stolpersteine auftauchen.

Diskussion

Der internationale und in einem geringen Umfang auch der nationale Forschungsstand zu Unterstützung und Pflege bei räumlicher Distanz geben Hinweise darauf, was über das Phänomen bereits bekannt ist. Doch allein die räumliche Distanz wird unterschiedlich definiert, wobei sich durchaus das subjektive Distanzempfinden der Distance caregivers als zentraler Anhaltspunkt anbietet. Insgesamt zeigt sich, dass Distance caregiving typischerweise von weiblichen, um die 50 Jahre alten, höher gebildeten und höher bezahlten Personen geleistet wird, die sich in nichtunerheblichem Maß um die eigenen Eltern kümmern. Aus der Bandbreite von Aufgaben pflegender Angehöriger können sie die klassische Hands-on-Pflege meist nicht regelmäßig übernehmen, kümmern sich aber in vieler Hinsicht im Hintergrund um administrative, organisatorische und emotionale Dimensionen der Unterstützung. Dabei ist im Englischen der Begriff „care“ treffender als der deutsche Pflegebegriff. Diese unterschiedliche Deutung von Termini mag auch der Grund dafür sein, dass pflegende Angehörige auf Distanz mit ihren Leistungen kaum gesellschaftlich, politisch und am Arbeitsplatz wahrgenommen werden. Dennoch zeigen sich auch für Distance caregivers psychische und finanzielle Belastungen, die beispielsweise je nach Hilfebedarf oder Netzwerken vor Ort variieren können. Die distanzbezogenen Belastungen sind durch eine Vielzahl von sozioökonomischen und infrastrukturellen Gegebenheiten flankiert, die wiederum individuell unterschiedlich wahrgenommen werden. So ändern sich die Herausforderungen beispielsweise durch eine schwierige Verkehrsanbindung oder die Frage, ob ein Distance caregiver zusätzlich noch weitere Pendelstrecken zwischen Wohnorten und Arbeitsort bewältigen muss. Wenngleich sich die Pflege in eher geringerem Maß auf den allgemeinen Gesundheitszustand oder die Arbeitssituation auszuwirken scheint, so fühlen sich Distance caregivers dennoch emotional gestresst, finanziell unter Druck und leiden unter Schuldgefühlen und dem Mangel an Kontrolle und Sicherheit vor Ort. Dies kann sich ebenfalls auf die Kommunikation mit anderen Personen im Hilfenetzwerk negativ auswirken. Auch wenn dritte Helfende wie andere Angehörige im gleichen Haushalt der hilfebedürftigen Person, eigener/eigene Partner/-in, eigene Kinder, Geschwister, Freundeskreis und Nachbarbarschaft wichtige Stützen bei der Bewältigung anfallender Aufgaben rund um Krankheit oder Behinderung sind, so ist die Koordination dieser Leistungen oftmals komplex und streckenweise konfliktbeladen. Die aktuelle Literatur gibt einige Hinweise, welche Maßnahmen bei Distance caregiving in multilokalen Pflegearrangements genutzt werden. So sind koordinierende und organisatorische Aufgaben rund um das Pflegegeschehen möglich, ebenso wie Entscheidungs- und Motivationshilfen, das Erkennen von klinischen Verlaufsparametern und entsprechende Kommunikation mit Fachpersonen, daneben vielfältige Formen von kognitiver und emotionaler Unterstützung.

Allerdings bleiben einige Fragen offen, die weitere Forschungsbedarfe suggerieren. Wie dargestellt, stammen die gesichteten Studien vornehmlich aus dem angloamerikanischen Raum, und es bleibt unklar, ob sich diese Befunde auf Deutschland übertragen lassen. Zudem liegen kaum Prävalenzzahlen vor, und es fehlt an vertiefendem Wissen über die Ausgestaltung dieser Pflegearrangements. Wie beispielsweise die Distance caregivers – und auch die hilfebedürftigen Angehörigen oder weitere Helfende vor Ort – „gelingende Pflege“ für sich definieren, ist kaum bekannt. Angesichts möglicher psychischer Belastungen wie Schuldgefühle oder fehlender Kontrolle aus der Entfernung lässt sich vermuten, dass beispielsweise Verlässlichkeit und Stabilität wichtige Indikatoren darstellen; einschlägige Untersuchungen fehlen jedoch bislang. Wo liegen hier spezifische Barrieren (im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz), welche innerfamiliären Konflikte, aber auch Chancen ergeben sich durch die räumliche Distanz, wie wird die Distanz von den pflegenden Angehörigen bewertet, und welche gesellschaftlichen, politischen und betrieblichen Rahmenbedingungen sind schließlich maßgeblich? Welche Formen der Unterstützung und in welchem Umfang werden durch weitere Angehörige vor Ort geleistet, und welche Herausforderungen können sich daraus für das gesamte Arrangement ergeben? Wenn es sich um beispielsweise den/die ebenfalls älteren/ältere Partner/-in handelt, wird auch das Kümmern um diese Hilfepersonen zu einer Aufgabe der Distance caregivers (Stichwort „care for carers“). Auch ist wenig über die Wirksamkeit und Umsetzung von Strategien und Lösungen der pflegenden Angehörigen bekannt, oder die Rolle sozialer Netzwerke zur Unterstützung. Um Distance caregiving effektiv zu unterstützen, sind sektorenübergreifende Anstrengungen nötig. Dazu gehören neben dem Ausbau professioneller Serviceleistungen und „case management“ auch betriebliche Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege für Blocktage, Fehlzeitenkompensation und mobiles Arbeiten. Doch wo liegen hier die Wünsche und tatsächlichen Bedarfe der Distance caregivers? Ebenso spielt die Kommunikation mit pflegerischem und medizinischem Personal eine wesentliche Rolle, über die in Bezug auf eine verbesserte Zusammenarbeit im interdisziplinären Behandlungsteam mit den Angehörigen in der Forschungsliteratur kaum etwas bekannt ist. Einige Studien unterstellen bei den Strategien eine Offenheit gegenüber technischen Unterstützungsmöglichkeiten, deren Potenziale im Bereich IT und Ambient Assisted Living kaum ausgeschöpft sind, weder im Bereich Digitalisierung am Arbeitsplatz noch bezogen auf „telehealth“ und digitale Vernetzung der Helfenden. Auch hier eröffnen sich weitere Forschungsdesiderata, die es zu bearbeiten gilt, beispielsweise zu Möglichkeiten und Grenzen, über die räumliche Distanz Technik zu nutzen und wo diese überhaupt sinnvoll und adäquat wäre.

Fazit für die Praxis

  • Die Ergebnisse der Literaturanalyse zeigen eindeutig, dass es insgesamt noch an einschlägiger Forschung zur Distance-caregiving-Thematik, gerade im deutschsprachigen Raum, mangelt.

  • Hinter Distance caregiving verbergen sich ein vieldimensionales Verständnis von Pflege und Hilfe aus Distanz sowie ein vielfältiges Unterstützungsgeschehen.

  • Distance caregivers bleiben angesichts des engen Pflegebegriffs im deutschen Sozialrecht oftmals unsichtbar.

  • Neben den konkreten Herausforderungen und Strategien der pflegenden Angehörigen aus Distanz bietet Distance caregiving auch Potenziale zur Modernisierung der Kommunikation mit Angehörigen in der globalisierten (Arbeits‑)Welt und der Digitalisierung im Gesundheitswesen.