Funktionsstörungen des Bewegungssystems sind der therapeutische Angriffspunkt der manuellen Medizin und manuellen Therapie. Aber auch andere medizinische Fachgebiete befassen sich vorrangig mit Funktionsstörungen, z. B. physikalische und rehabilitative Medizin, Ergotherapie und Sportmedizin. Weitere Fachgebiete wie Psychotherapie und Schmerzmedizin sind im engeren Sinne ebenfalls Teil der Funktionsmedizin.

Alle genannten Fachgebiete arbeiten mit gewissen Überlappungen an unterschiedlichen Funktionen, Funktionsstörungen und den daraus resultierenden Funktionserkrankungen (Tab. 1). Chronische komplexe Funktionserkrankungen beruhen i. d. R. auf Störungen in verschiedenen Funktionsbereichen, sodass in der Therapie eine Kombination verschiedener funktionsmedizinischer Ansätze oder eine multimodale interdisziplinäre Therapie (MIT) notwendig ist [1, 2]. Die MIT zeichnet sich durch eine räumliche, zeitliche und personelle Integration der Diagnostik und Therapie aus [3].

Tab. 1 Funktionsstörungen in verschiedenen Fachgebieten

Funktionsstörungen des Bewegungssystems

Die Interaktion der verschiedenen Funktionsebenen und deren Störungen sind komplex. Eine Diskrepanz zwischen Belastung und Belastbarkeit führt zur Abweichung des physiologischen Sollzustandes vom Istzustand. Dies soll am Beispiel Muskulatur dargestellt werden. [1, 2, 4].

Muskulatur kann über die Belastbarkeit beansprucht werden, wenn

  • sie für die aktuelle Anforderung zu schwach ist (z. B. Abschwächung),

  • die Ausdauer für die Dauer der Beanspruchung zu gering ist (Ermüdung, z. B. verminderte Kraftausdauer) und

  • die Muskulatur kompensatorisch arbeiten muss (z. B. Koordinationsstörungen).

Eine Beanspruchung der Muskulatur über die Belastbarkeit hinaus führt zu Nozizeption und Energiemangel. Beides hat sekundäre Funktionsstörungen zur Folge wie

  • Abschwächung,

  • hypertonem Muskeltonus,

  • Triggerpunkten,

  • Gelenkdysfunktionen und

  • somatischen segmentalen Dysfunktionen.

Diese wiederum lösen Nozizeption und Propriozeption aus und beeinflussen damit die sensomotorische Steuerung. Somit setzen sich Funktionsstörungen konsequenterweise in der jeweiligen Bewegungskette, ggf. auch darüber hinaus, fort und führen zu den bekannten Verkettungsbefunden (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Modell der Entstehung von Funktionsstörungen des Bewegungssystems

Funktionsstörungen des Bewegungssystems können nach komplexen Weiterverarbeitungen im Zentralnervensystem Schmerzen hervorrufen. Sie finden sich in allen Geweben (Muskulatur, Bindegewebe) und Strukturen (Gelenke).

Funktionsstörungen finden sich in allen Geweben und Strukturen

Zur Systematisierung und damit zur Verbesserung der Lehrbarkeit und Behandlungsplanung wurden sie in primäre und sekundäre Funktionsstörungen eingeteilt [4].

Dabei werden primäre Funktionsstörungen als Störungen definiert, die die Belastbarkeit vermindern und damit das System vulnerabler für sekundäre Funktionsstörungen und strukturelle Störungen machen (Tab. 2). Primäre Funktionsstörungen werden therapeutisch z. B. in der PRM, der Sporttherapie und Edukation adressiert. Sekundäre Funktionsstörungen sind Abweichungen vom physiologischen Sollzustand in Geweben und Strukturen, die zu Nozizeption und Veränderung in der Propriozeption führen. Diese Störungen sind der therapeutische Angriffspunkt der MM und MT, aber auch von physikalischen Therapien, Massagen und Dehntechniken (Tab. 1).

Tab. 2 Primäre Funktionsstörungen und Beispiele für klinische Entsprechungen

Das Zusammenspiel der verschiedenen Funktionen im Gesamtsystem ist komplex. Störungen der Funktion werden i. d. R. kompensiert, d. h. sind ohne klinische Symptome. Erst beim Überschreiten der Kompensationsfähigkeit kommt es zur Symptombildung (Schmerz, Funktions- und Aktivitätseinschränkungen, Partizipationsstörungen; [1]). Für die klinische Praxis ist daher wichtig, nicht nur die Auslöser der aktuellen Dekompensation und die Nozizeption auslösenden Funktionsstörungen, sondern auch die primären Funktionsstörungen und die resultierenden Kompensationsmechanismen aufzudecken und therapeutisch zu adressieren. Andernfalls kommt es zu den häufigen rezidivierenden und chronischen Krankheitsverläufen von Funktionserkrankungen des Bewegungssystems [5].

Um dies zu verhindern, ist es notwendig, neben den sekundären Funktionsstörungen auch die primären zu diagnostizieren und eine entsprechende Therapie einzuleiten.

Patienten sollten auf ein lebenslanges regelmäßiges Training eingestellt werden

Hinsichtlich der sensomotorischen und konditionellen Fähigkeiten müssen Patienten so trainieren, dass sie einen anderen Adaptationszustand erreichen. Voraussetzung für eine Adaptation ist ein an die Reagibilität des Systems angepasstes Trainingsprogramm [6]. Zu hohe Anforderungen führen zur Dekompensation, bei zu geringen Belastungen verbleibt der Patient im aktuellen (insuffizienten) Adaptationsniveau oder verschlechtert sich (Tab. 3). Trainingseffekte sind keine schnellen Effekte. Erste Fortschritte werden immer im Bereich der Sensomotorik erzielt, konditionelle Effekte sind frühestens ab 4 Wochen regelmäßigen Trainings zu erwarten. Grundsätzlich sollten Patienten auf ein lebenslanges regelmäßiges Training eingestellt werden. Die Motivationsarbeit ist hier eine entscheidende therapeutische Aufgabe.

Tab. 3 Trainings- und Übungsanforderungen an Patienten

Funktionsstörungen der Neuromodulation und psychische Funktionsstörungen

Neurophysiologische Veränderungen der Schmerzmodulation [7] werden in der Schmerzmedizin neben der Edukation mit Antiepileptika und Antidepressiva behandelt. Typischerweise angewandte Medikamente sind Amitriptylin, Mirtazapin, Duloxetin, Pregabalin und Gabapentin. Neben der medikamentösen Therapie ist jedoch eine gute Funktion bzw. Aktivität und somit ein regelmäßiges Training für die Verbesserung der Neuromodulation und der vegetativen Regulationsfähigkeit essenziell.

Psychische Aspekte werden im klinischen Alltag oft als Aufgabe von Psychotherapeuten und Psychiater angesehen. Dies ist problematisch, da es die Dichotomie von Somatik und Psyche weiter verstärkt [8], Patienten ausweichen und aufgrund der langen Wartezeiten effektive Therapien verpasst werden. Für alle Patienten ist die ärztliche Edukation über den Zusammenhang von Schmerz und Psyche allgemein und im speziellen Fall Grundlage für die Therapie. Bei affektiven Erkrankungen sollte die Behandlung mit entsprechenden Medikamenten (z. B. Paroxetin, Duloxetin, Mirtazapin) unterstützt werden. Körperliches Training stabilisiert, wahrscheinlich über die vegetative Stabilisierung, den Angstabbau und die soziale Reintegration. Selbstverständlich sollte trotz langer Wartezeiten bei bestehender Indikation eine Psychotherapie eingeleitet werden.

Voraussetzung für die effektive Therapie in allen Bereichen ist eine ausreichende Änderungsmotivation des Patienten. Die Edukation, z. B. warum sollte ich was ändern, das Aufzeigen von Änderungsmöglichkeiten, z. B. wie sollte ich trainieren, was wären Inhalte (m)einer Psychotherapie, die Motivationsarbeit und die Begleitung der Patienten sind essenzieller Teil einer effektiven Funktionsmedizin.

Multimodale interdisziplinäre Therapie

Bestehen komplexe Interaktionen zwischen den Befundebenen und ein hoher Grad an Chronifizierung, reicht eine ambulante Therapie i. d. R. nicht aus. Die MIT ist hier der Goldstandard der Diagnostik und Therapie [3, 9]. Sie wird im Rahmen der Rehabilitation sowie der (teil-)stationären Versorgung angeboten (Tab. 4). Durch die enge interdisziplinäre, räumliche, zeitliche und inhaltliche Abstimmung der Therapiekonzepte kann mit Patienten die Grundlage für die meist weiterhin notwendige ambulante Therapie und Eigenaktivitäten gelegt werden.

Tab. 4 Differenzialindikation MIT

Fazit für die Praxis

  • Bei Funktionserkrankungen des Bewegungssystems sind verschiedenen Befundebenen zu betrachten.

  • Alle Ebenen müssen in die Diagnostik mit einbezogen und bei entsprechender Relevanz therapiert werden.

  • Ein systemischer Ansatz ist unabdingbar für eine effektive Therapie, Rezidivprophylaxe und die Verhinderung von chronischen Funktionserkrankungen.

  • Funktionsmedizin umfasst ein weites Spektrum der Medizin, jeweils mit unterschiedlichen Funktionen und funktionellen Störungen.

  • Bei komplexen und chronifizierten Erkrankungen werden die verschiedenen Ansätze im Rahmen der MIT adressiert.