Noch im Studium der 1980er-Jahre charakterisierte man junge Säuglinge als „Reflexwesen“, deren wesentliche Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt durch „Primitivreflexe“ bestimmt wird. Schon damals stand im Raum, dass Entwicklung nicht nur durch genetische Programme determiniert sei, sondern Lernerfahrungen einen diesbezüglichen Einfluss im Säuglingsalter haben könnten.

Vier Jahrzehnte später hat sich unsere Vorstellung von entwicklungspädiatrischen Zusammenhängen grundlegend verändert. Entwicklung ist geprägt von einem Mix aus genetischer Prädisposition und Lernerfahrung mit inter- und intraindividuellen Varianten [8].

Doch selbst die Lernerfahrung greift nicht nur auf individuell erworbenes Wissen zurück. Entsprechende Informationen können vermutlich art- und sippenspezifisch vererbt werden. Hinweise dafür liefern einerseits Tierexperimente, andererseits verhaltensbiologische Beobachtungen an jungen Säuglingen im Alter von 2 bis 3 Monaten. Letztere wurden verhaltenspsychologisch mittels Nuckelratentest (Saugfrequenz und -stärke) oder durch Messung der visuellen Fixationszeit erhoben (zit. n. [7, 10]). Beide Untersuchungen erlauben Rückschlüsse auf die Interessenlage der Kinder. Erwartete Umweltreize führen schnell zu Interessenverlust und Abnahme von Saugaktivität bzw. visueller Fixation. Unerwartete Ereignisse werden hingegen mit entsprechender Verstärkung beantwortet. Allen Tests an Säuglingen ging eine Habituationsphase voraus, sodass lediglich adäquate Reize zu einer Verhaltensänderung führten.

Vorwissen, was ist das?

Schriefers [10] charakterisiert entsprechende Vorinformationen als ererbte Sätze neuronaler Verschaltungsmuster, die akustische und visuelle Signale vom ersten Lebenstag an in spezifischer Art und Weise verarbeiten. Derartige vorprogrammierte Adaptationsmechanismen könnten, so der Autor, auch als „angeborene Module“ oder „Physikinstinkt“ bezeichnet werden. Sie beinhalten Anweisungen für die Beurteilung von Objekten und den Umgang mit diesen.

Artspezifisches Vorwissen

Physikalisches Vorwissen (zit. n. [1, 3, 11, 13])

Objekte sind kohärent

Junge Säuglinge erwarten, dass Objekte den Zusammenhalt und ihre Gestalt bewahren, wenn sie bewegt werden: Im Test wurde eine gefüllte Papiertüte angehoben. Teilte sich die Tüte horizontal im Moment des Anhebens, kam das für die Kinder unerwartet, die visuelle Fixationszeit erhöhte sich.

Selbst der Unterschied zwischen dem Verhalten von Flüssigkeiten und Feststoffen scheint Babys bekannt zu sein. Blieb Wasser auf einem Gitter stehen, blickten Säuglinge länger hin. Ähnliches passierte, wenn ein Kunststoffblock ein solches Gitter mühelos passierte.

Objekte sind undurchdringbar

Durchdringt eine Kugel scheinbar eine Barriere entlang einer vorgegebenen Rollbahn, sind Babys düpiert, die visuelle Fixationszeit verlängert sich.

Objekte sind persistent in Raum und Zeit

Eine Mohrrübe verschwindet hinter einer Scheibe und ist in einer Fensteröffnung ebenfalls nicht zu sehen. Das Kind ist verwundert und interessiert.

Schwerkraft

Fällt ein Gegenstand im Video nach oben anstatt nach unten, sind Babys überrascht.

Fazit.

Säuglinge verfügen über einen genetisch verankerten Wissensschatz, der sich im Zuge der Ontogenese bildete und mit dem sie sich in der Realität auseinandersetzen. Sie haben eine Vorstellung von dem zu Erwartenden und wissen Dinge, die man ihnen definitiv nicht beigebracht hat.

Fähigkeit zu kategorisieren (zit. n. [4, 6, 14])

Schon Föten können zwischen linguistischen und nichtlinguistischen akustischen Signalen unterscheiden. Sie differenzieren zwischen Umgebungsgeräuschen und Sprache. Ähnliches gilt für Orchestermusik und die Sprache der Mutter. Frühgeborene reagieren mit „general movements“ auf die Stimme der Mutter.

Dabei können entsprechende Sinneseindrücke auch erinnert werden. Vibroakustische Signale werden im Rahmen von Habituationsversuchen bei Schwangeren ab der 30. Woche für ca. 10 min erinnert, 34 Wochen alte Föten erinnern sich schon ca. 4 Wochen nach Testbeginn an derartige Reize.

Neugeborene wählen anhand des Nuckelratentests häufiger Gedichte aus, die schon vorgelesen wurden.

Fazit.

Es werden Lernleistungen beobachtet, die als „vorbewusste“ Mitgift der Natur gewertet werden können.

Sensomotorisch-affektive Vernetzung [9]

Die affektive Bewertung verschiedener angeborener Fremdreflexe wie die Moro-Reaktion oder die Saugreaktion ist Ausdruck eines artspezifisch determinierten Vorwissens. So scheint die Auslösung der Moro-Reaktion mit Bewertungsarealen des Mandelkernbereichs verknüpft zu sein. Umgekehrt löst das Berühren der sensorischen Auslösezonen der Lippen und der Zunge eine Saugreaktion aus, die schon intrauterin eingeübt zu sein scheint. Neugeborene sind in der Lage, die motorische Leistung des Daumenlutschens zielgerichtet (!) einzusetzen. Sie beruhigen sich und können so ihre Verhaltenslage regulieren (dopaminerges Belohnungssystem?).

Fazit.

Verschiedene sensomotorische Verhaltensweisen unterliegen affektiven Verarbeitungsmechanismen und dienen der Lernerfahrung.

Motosensorische Aktivierung [9]

Zentrale Mustergeneratoren („central pattern generators“, CPGs) erzeugen motorische Antwortmuster („general movements and startles“) mit ihren Auswirkungen auf Anatomie und Biomechanik sowie neurologische und verhaltensbiologische Entwicklung. Diese sind nicht nur spezifisch, sie werden auch zeitlich in vorbestimmter Reihenfolge z. T. voneinander abgelöst oder bestehen nebeneinander. Sie stimulieren nachgeburtliche Entwicklungsmuster und regen Lernen auf der Grundlage individueller Begabungen sowie Umweltkonditionen an.

Fazit.

Die Aktivierung motosensorischer Antwortmuster erfolgt auf der Grundlage artspezifischer genetischer Programme. So werden nicht nur strukturelle anatomische, biomechanische und neurologische Entwicklungsreize gebahnt, sondern auch zeitlich gestaffelte verhaltensbiologische Angebote.

Beispiele weiteren artspezifischen Vorwissens sind Mechanismen der Spiegel- und Echoneurone, der Bindungsaktivierung, des Drangs zur Neugier und der neurohumoralen Interaktion von Mutter und Fötus.

Sippenspezifisches

Beim sippenspezifischen Vorwissen (zit. n. [5, 12]) handelt es sich um Wechselwirkungen von Genetik und Umwelt mit kurzer Latenz. Verantwortlich dafür sind nach heutiger Ansicht epigenetische Veränderungen im Erbgut. So können individuelle (Trauma‑)Erfahrungen der Elterngeneration an die Nachkommenschaft weitergegeben werden. Stoffwechsel- und Verhaltensänderungen konnten im Tierversuch selbst in der Enkelgeneration nachgewiesen werden.

Tierversuch Mäusepopulation: Entsprechend gestresste Elterntiere verloren ihre natürliche Scheu vor offenen Räumen und Licht. In der Kinder- und Enkelgeneration konnten identische Verhaltensweisen nachgewiesen werden, obwohl diese nicht gestresst wurden. Stress führte zu einem Ungleichgewicht in der Mikro-RNS in Blut, Gehirn und Spermien.

Tierversuch Ratten: Die Verknüpfung von Geruch und Stress bei der Elterngeneration bewirkte bei den Folgegenerationen Stressauslösung und Vermeidungsreaktionen bei Applikation des Geruchsstoffs. Vermutlich erfolgt die Vererbung des im Sperma des Vatertiers gespeicherten Vorwissens durch epigenetische Veränderungen.

„Vererbte Traumata“ werden auch beim Menschen beschrieben. Kollektive Stresserfahrungen einer Schwangerenpopulation in den Niederlanden führten bei der Nachfolgegeneration später zu einer erhöhten Inzidenz von arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus und Schizophrenie.

Manuelle Medizin und Lernen

Propriozeptive muskuloskeletale Koordinationsstörungen infolge reversibler segmentaler Dysfunktionen des Bewegungssystems können nach unseren Beobachtungen nachhaltigen Einfluss auf die Lernfunktionen von Motosensorik und Sensomotorik haben. Neuere Untersuchungen beschreiben ähnliche Erfahrungen und Interpretationen [2].

Fazit.

Es sind eher die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede, die uns ausmachen. Gleiches gilt für unser Fachgebiet.