Präzise Begriffsbestimmungen sind eine Voraussetzung für die Beschreibung von Krankheitsentitäten in der Medizin. So wird der Begriff „Syndrom“ innerhalb und außerhalb der Medizin verschiedenartig genutzt und bewertet. Die zunehmende (Sub‑)Spezialisierung der Fachgebiete führte in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt zu interdisziplinären Kommunikationsproblemen, da zahlreiche medizinische Begriffe unterschiedlich belegt sind. Eine Aufgabe der Weiterentwicklung der manuellen Medizin bei Kindern ist daher die Präzisierung der Termini unter Berücksichtigung des medizinischen Sprachgebrauchs außerhalb unseres Fachgebiets.

Die Verwendung des Syndrombegriffs bezieht sich in diesem Kontext auf die Zusammenschau einzelner Krankheits- bzw. Symptomentitäten, die typischerweise gemeinsam auftreten und einer gemeinsamen Kausalität unterliegen. Schon Wührer [12] beschäftigte sich in seinem Beitrag zur Nozireaktion mit dem Problem der exakten Begriffsbestimmung innerhalb der manuellen Medizin.

Die Kausalkette spezifischer manuell zu behandelnder Syndrome basiert auf propriozeptiven und weiteren nozireaktiven Auswirkungen von reversiblen hypomobilen artikulären/segmentalen sowie ggf. myofaszialen Dysfunktionen des Bewegungssystems. Entsprechende Diskussionen begleiten die manuelle Medizin bei Kindern seit Jahrzehnten. Erinnert sei an Veröffentlichungen zum zervikalen dienzephalen statischen Syndrom bzw. Atlasblockierungssyndrom des Säuglings und Kleinkinds [5, 6], zur Schräglagedeformität [9], aber auch zum Auftreten von Kopfgelenkblockierungen bei Neugeborenen [3]. Gänzlich „verloren“ ging eine Studie zur manualmedizinischen Behandlung von 70 Säuglingen, die Kollegin Perschke auf dem Weltkongress für Manuelle Medizin 1981 in Prag vorstellte (Perschke 2018, persönliche Mitteilung).

Diesen Veröffentlichungen folgten wechselnd intensive Debatten zumeist kleiner Fachkreise innerhalb der Manualmedizin. Eine nachhaltige Diskussion außerhalb des eigenen Fachgebiets blieb allerdings aus. Erst die Publikation von Biedermann [2] Anfang der 1990er Jahre mit Einführung des Terminus „Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung“ (KiSS) änderte die Situation. Die sich anschließenden Auseinandersetzungen innerhalb der manuellen Medizin und mit Fachkreisen der Pädiatrie reichte von Zustimmung bis hin zu kontroversen Debatten, die eher von Polemik als von fachlichem Diskurs geprägt waren.

Ein erster Versuch des fachlichen Austauschs der verschiedenen manualmedizinischen Schulen erfolgte im Jahr 2003 [10]. Zehn Jahre später konnte unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) ein Expertenkonsens zur Indikation (primäre und sekundäre Dysfunktion) einer manuellen Behandlung bei Kindern erzielt werden [11]. Einem weiteren Expertenkreis gelang es 2017, zumindest gemeinsame Formulierungen zu konkreten Symptomkomplexen im Kindesalter und dem pathogenetischen Modell der propriozeptiven Dysfunktion zu erarbeiten [1].

Wesentliches Hemmnis aller Fachdiskurse innerhalb und außerhalb der manuellen Medizin bei Kindern waren und sind verschiedene Interpretationen der verwendeten Begrifflichkeiten mit zumeist unpräzisen oder fehlenden Definitionen zu spezifischen manualmedizinischen Syndromen.

Der Zirkel für Manuelle Medizin und Entwicklungstherapie (ZiMMT) hat sein Verständnis der Definition, der Pathogenese, des klinischen Erscheinungsbilds und der Behandlung der Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung (KiSS) des Säuglings und Kleinkinds nachfolgend zusammengefasst.

Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung

Definition

Die KiSS ist eine primäre propriozeptive muskuloskeletale Koordinationsstörung des Säuglings und Kleinkinds mit einer Leitsymptomatik aus Haltungs- und Bewegungsasymmetrien, vegetativen Dysfunktionen sowie Auffälligkeiten der posturalen Entwicklung.

Ätiologisch werden derzeit prä-, peri- und postnatale Belastungen des Bewegungssystems diskutiert.

Pathogenese

Pathogenetisch liegen einer KiSS über das 1. Trimenon hinausgehende regionale und überregionale Auswirkungen reversibler hypomobiler segmentaler Funktionsstörungen (Blockierungen) der kraniozervikalen Übergangsregion zugrunde. Sie führen unbehandelt zu kompensatorischen Verläufen der sensomotorischen Entwicklung (s. auch [8]).

Klinisches Bild

Klinisch imponieren Muster mit Tortikollis, muskulärer Tonusasymmetrie, Rumpfskoliose und/oder überstreckter Haltung, vegetativen Begleitreaktionen, sekundären morphologischen Asymmetrien sowie ggf. Verhaltensregulationen mit Beeinträchtigung der Interaktion mit den Bezugspersonen. Sie werden durch reversible hypomobile segmentale bzw. artikuläre und/oder myofasziale Dysfunktionen weiterer Schlüsselregionen des Bewegungssystems verstärkt.

Vegetative Begleitreaktionen können sein:

  • vermehrtes Schreien,

  • Schluck‑, Saug- und Trinkstörungen,

  • Ein- und Durchschlafstörungen,

  • vermehrtes Schwitzen,

  • motorische Unruhe.

Zu den sekundären morphologischen Asymmetrien zählen Formen von

  • nichtsynostotischer Plagio- oder Brachyzephalie,

  • hemifazialer Mikrosomie sowie

  • einseitigen Hüftentwicklungsstörungen.

Differenzialdiagnosen

Differenzialdiagnostisch müssen adaptive Formen der Kindesentwicklung sowie systemische Grunderkrankungen wie neurologische Störungen, genetische Anomalien, Dysplasien oder Stoffwechselerkrankungen abgegrenzt werden.

Therapie

Therapeutische Grundprinzipien bestehen in der Wiederherstellung der sensomotorischen Funktion(en) mit Bewegungsbahnung und Entwicklungsförderung. So kommen manuelle Behandlungskonzepte, Physiotherapie, durch die Eltern zu realisierende Hausübungsprogramme und bindungsfördernde Strategien zur Anwendung.

Diskussion

Wesentliches Hemmnis der Weiterentwicklung der manuellen Medizin bei Kindern ist – neben der präzisen Begriffsbestimmung – das Fehlen eines einheitlichen Diagnosekatalogs. Zwar lassen sich über Schulgrenzen hinweg ähnliche Krankheits- und Symptomentitäten zusammenfassen, die mit manuellen Techniken kausal zu behandeln sind. Diese in einen gemeinsam getragenen Diagnosekatalog einzuordnen, gelang jedoch trotz aller Anstrengungen nicht. Im Rahmen der oben erwähnten Expertendiskussionen fiel vielmehr auf, dass schon innerhalb unserer Fachgruppe verschiedene Vorstellungen zur selben Diagnose kursieren.

Trotz allen Diskurses hat sich der Begriff „KiSS“ als Synonym für die kausal manualmedizinisch zu behandelnde infantile Haltungs- und Bewegungsasymmetrie des Säuglings und Kleinkinds durchgesetzt. Die Gesellschaft für Neuropädiatrie widmete KiSS eine eigens formulierte Stellungnahme [4] und verwies dabei auf offene Fragen zur Definition, Pathogenese und Wirksamkeit einer manuellen Behandlung.

Die ZiMMT-Arbeitsgruppe begann vor 6 Jahren mit evidenzbasierten Untersuchungen zu KiSS. Nach der Entwicklung eines reliablen und validen Scores zur Erfassung von Haltungs- und Bewegungsstörungen im Säuglingsalter folgte eine Pilotstudie zur Behandlung von Säuglingen mit KiSS. Die Ergebnisse werden derzeit publiziert [7]. In einem weiteren Schritt erfolgt nun die Präzisierung des Begriffs „KiSS“ mit Zusammenfassung der Diagnosekriterien für den interdisziplinären Fachaustausch. Im Pathogenesemodell wurde dabei bewusst der Begriff „kraniozervikale Übergangsregion“ gewählt. Dabei sollte die Sutura sphenobasilaris aufgrund anatomisch-biomechanischer Besonderheiten im frühen Kindesalter funktionell der Kopfgelenkregion zugeordnet werden.

Zwei doppelblinde randomisierte kontrollierte Studien zur manualmedizinischen Einmalbehandlung von Kindern mit KiSS im Alter von 3,5 bis 6 Monaten stehen derzeit vor ihrem Abschluss. Die Ergebnisse sollen auf dem 7. gemeinsamen Kongress der Ärztevereinigung für Manuelle Medizin (ÄMM) e.  V. und des ZiMMT (21.–23.03.2019) in Berlin vorgestellt werden.

Parallel dazu sind weitere Gespräche mit Vertretern der Gesellschaft für Neuropädiatrie geplant. Ziel ist eine Überarbeitung der hier vorgestellten Stellungnahme und ggf. Neubewertung von KiSS auf der Grundlage des medizinischen Erkenntniszuwachses.

Fazit

Die zumeist polemisch geführten Debatten innerhalb der manuellen Medizin bei Kindern haben die Entwicklung des Fachbereichs eher behindert als vorangebracht. So fehlt ein schulübergreifender, allgemein akzeptierter Diagnosebegriff für die infantile Haltungsasymmetrie. Die ZiMMT-Arbeitsgruppe hat daher ihre Präzisierung des Begriffs „Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung“ vorgestellt. Dies ist nicht zuletzt auch ein Angebot für Kollegen der Fachgruppe zur Formulierung spezifischer manualmedizinisch zu behandelnder Syndrome sowie für den interdisziplinären Fachaustausch. Darüber hinaus stehen zwei Studien mit Evidenzstufe I b zur Behandlung von KiSS kurz vor dem Abschluss.