Die Orthopädie war von Beginn an konservativ. Sie wurde definiert als „Mittel zu lehren, bei den Kindern die Ungestaltheit zu verhüten und zu verbessern“ [1] oder „die Kunst, die Krummen grade und die Lahmen gehend zu machen“ (Adolf Lorenz 1896; [2]).

Zur konservativen Orthopädie kam die orthopädische Chirurgie mit ihrer rasanten und erfolgreichen Entwicklung, es entstanden die Orthopädie und die orthopädische Chirurgie (Unfallchirurgie). Somit ist das Wort „konservative Orthopädie“ eine Äquivokation und eine Bezeichnung für eine viel gebrauchte medizinische Sparte, die seit Jahren im Schatten des Operationstischs ihr Dasein fristet.

Epidemiologisch erfolgte anfangs der 1970er Jahre der zweite Übergang, nämlich das zunehmende Auftreten degenerativer und durch das Verhalten provozierter Erkrankungen des Bewegungsapparats, deren wichtigstes Krankheitssymptom der Schmerz ist. Die schulmedizinische Annahme, dass Erkrankungen auf morphologische Veränderungen zurückzuführen sind, war beim Großteil der Wirbelsäulenerkrankungen unbefriedigend.

Die manuelle Medizin ist bei schmerzhaften Funktionsstörungen des Bewegungsapparats unverzichtbar

Als unverzichtbarer Fortschritt bei schmerzhaften Funktionsstörungen des Bewegungsapparats erwies sich die manuelle Medizin. Mit ihrem funktionellen Denken (Krankheit ist Fehlfunktion) entwickelte sie logischerweise die Testung der normalen Funktionen, um die für eine Erkrankung typischen Fehlfunktionen zu erkennen: die klinisch-manuellen Untersuchungstechniken. Diese sind nicht nur bei Funktionsstörungen, sondern auch beim Vorliegen von pathomorphologischen Veränderungen zur Erkennung der pathogenetischen Führungsstruktur unersetzlich.

Bei der Gründung der ersten und einzigen Abteilung für konservative Orthopädie im Orthopädischen Spital, Wien, die 32 Jahre lang bestand, wurde allerdings bald klar, dass die manuelle Therapie besonders bei stationär aufgenommenen Patienten keineswegs die „Therapia magna“ darstellt und dass bei der Analyse v. a. von Wirbelsäulenbeschwerden eine multifaktorielle Genese multisymptomatische Krankheitsbilder bewirken. Diese betreffen die Allgemeinmedizin, die Orthopädie, die physikalische Medizin, die Rheumatologie, die Algesiologie, die Psychiatrie, die Geriatrie, die Arbeitsmedizin etc. (Abb. 1). Dabei sind auch die Pseudoorganopathien und die Organreflektorik als wichtige Differenzialdiagnose in der inneren Medizin, der Gynäkologie und der Chirurgie zu erwähnen. Der zervikogene Schwindel berührt das Fach der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, die Neurologie benutzt Untersuchungen der Funktionen des Bewegungsapparats zur Lokalisation neurologischer Probleme (Tab. 1).

Abb. 1
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Fachrichtungen, die sich mit dem Bewegungsapparat (Wirbelsäule) beschäftigen

Tab. 1 Fachrichtungen, in denen Wirbelsäulenstörungen bedeutend sein können

Diese Fakten und epidemiologische Entwicklungen, zu denen auch das steigende Durchschnittsalter gehört, waren der Grund, weshalb wir unseren Verein Österreichische Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin und konservative Orthopädie nennen. Dabei wurde auch berücksichtigt, dass es in Österreich relativ wenige Abteilungen für konservative Orthopädie gibt und damit entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten für die niedergelassenen Ärzte fehlen.

Bei der Betreuung der stationär aufgenommenen Patienten, speziell der weiblichen [3], wurde offenkundig, welche Interaktionen zwischen Psyche und Bewegungsapparat bestehen, deren Nichtberücksichtigung diagnostische und therapeutische Defizite entstehen lassen (Tab. 2 Neuzugänge der verminderten Arbeitsfähigkeit 2015; 1. Psychische Erkrankungen, 2. Krankheiten des Skeletts, Muskeln und Bindegewebe, Jahr der Gesundheit Statistiken Austria; [4]).

Tab. 2 Neuzugänge an Pensionen bei geminderter Arbeitsfähigkeit bzw. dauernder Erwerbsunfähigkeit 2015. (Nach [4])

Als wichtige Faktoren in der Therapie der Störungen des Stütz- und Bewegungsapparats, speziell der Wirbelsäule [5], erweisen sich sowohl die zentralnervöse Schmerzbekämpfung als auch die vielen Möglichkeiten der konservativ-therapeutischen Maßnahmen über die Schmerzreflektorik in der „Peripherie“.

Sekundär- und tertiärpräventive Aktivitäten (der Patient wird vom Objekt zum Subjekt) beeinflussen zusätzlich eine Therapieresistenz sowie die Rezidivneigung.

Bei folgenden Problemen des Bewegungsapparats findet die konservative Orthopädie (Therapie, Prävention, Rehabilitation) in besonderem Maß Anwendung:

  • Konservative Orthopädie

  • Konservative Therapie

    • Funktionsstörungen (keine verursachenden gestaltlichen Veränderungen)

      • Remedium cardinale

    • Funktionszerstörungen (verursachende gestaltliche Veränderungen)

      • Remedium adjuvans

    • Systemische multilokuläre Erkrankungen (z. B. Fibromyalgie, Polyarthrosen, psychosomatische Erkrankungen, somatoforme Angststörungen)

    • Vor Operationen (Wartezeit?)

    • Nach Operationen

    • Bei Operationskontraindikationen

  • Prävention, Rehabilitation

    • Erkennung und Ausschaltung krankheitsverursachender Störfaktoren

    • Psychosozialbedingte Beschwerden sowie das zunehmende Durchschnittsalter mit der damit verbundenen Multimorbidität verlangen individuell angepasste Strategieplanungen, in denen manipulative Behandlungsformen eher in den Hintergrund treten.

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Univ.-Prof. Dr. Hans Tilscher