Das Schultergelenk mit seiner Inkongruenz von Kopf und Pfanne wird muskulär gesichert und geführt. Bewegungsstörungen des Schultergelenks sind häufig mit Funktionsstörungen des zervikodorsalen Übergangs, der oberen Thoraxapertur mit den akzessorischen Gelenken und den oberen Rippen, des Diaphragma thoracis und der Handgelenke verbunden.

Am Beispiel eines Musikers mit rezidivierenden, schmerzhaften Bewegungseinschränkungen in der Schulter soll die Bedeutung der Untersuchung und Behandlung der Muskulatur im Rahmen der manuellen Therapie herausgestellt werden.

Die verwendeten Techniken zur Untersuchung und Behandlung entsprechen im Einzelnen den Inhalten des Curriculums der ÄMM (Ärztevereinigung für Manuelle Medizin Ärzteseminar) Berlin e.V. (vgl. auch Beitrag G. Harke in diesem Heft); sie sind in den Grundsätzen aber Lehrinhalt aller manualmedizinischen und manualtherapeutischen Schulen.

Anamnese und orientierende Untersuchungen

43-jähriger Musiker (Komponist, Pianist) mit rezidivierenden, schmerzhaften Bewegungseinschränkungen in der Region der rechten Schulter, insbesondere nach längerem Spiel am Instrument.

Eingangsbefragung

Seit der Jugend wiederholt schmerzhafte Bewegungseinschränkungen rechts, z. T. gekoppelt mit HWS-Rotationsstörungen; 2006 trat ein Tinnitus auf, schon längere Zeit davor war ein Bruxismus bekannt. Der Tinnitus konnte durch Manualtherapie der zervikalen Funktionsstörungen wieder zum Sistieren gebracht werden. 2008 arthroskopische Außenmeniskusteilresektion links nach Distorsionstrauma. Der neurologische Status war ohne pathologische Auffälligkeit.

Allgemeine orientierende Untersuchung

Im Stand und beim Gang:

  • Knick-Senk-Spreiz-Füße, Genua vara, Flachrücken mit nach thorakolumbal verlagerter Lordose und kyphosiertem zervikodorsalem Übergang.

  • Protraktion von Kopf und Schultern, Hyperextension zervikokranial, im seitlichen Lot nach ventral verlagert.

  • Beckengeradstand, keine Spannungsphänomene im Bereich LWS und Becken, Finger-Boden-Abstand 20 cm.

  • Rechte Schulter und Klavikula erscheinen höher stehend.

  • Auftrittsgeräusch links lauter, dezente Extensionseinschränkung des Kniegelenks in der Standbeinphase. Armpendel rechts vermindert.

  • Es bestehen Hinweise auf eine konstitutionelle Hypermobilität.

Myofasziale 10-Schritt-Untersuchung

Es fand sich eine höhere Spannung in folgenden Regionen:

  • Pronation Fuß links,

  • Traktion Bein links,

  • Translation unterer Thorax nach links,

  • Kompression oberer Thorax rechts,

  • Schulterdepression rechts,

  • Pronation Unterarm rechts,

  • Translation HWS nach rechts,

  • Traktion subokzipital links.

Die myofasziale Spannungsuntersuchung in der Beckenregion und Traktion und Elevation der oberen Extremität waren seitengleich.

Regionale orientierende Untersuchungen

Obere Extremität und akzessorische Gelenke:

  • Fingergelenke frei,

  • rechtes Handgelenk Dorsalextension eingeschränkt,

  • Ellenbogen frei,

  • dezente Außenrotationseinschränkung rechte Schulter,

  • Skapulabeweglichkeit frei,

  • Kaudalgleiten humeroskapular im Sitz im Seitenvergleich frei,

  • passiv geführte Bewegungen im Akromioklavikular- (ACG) und Sternoklavikulargelenk (SCG) rechts fester,

  • isometrische Anspannung ohne Schmerzangabe allseits möglich.

HWS und orofaziales System:

  • endgradig festere Anteflexion, Kinn-Jugulum-Abstand 2 Querfinger,

  • Linksrotationseinschränkung etwa 10°,

  • Mundöffnung: Abstand zwischen den Zahnreihen 35 mm.

Palpation und Provokationstests:

  • Schmerzpunkte ohne auslösbaren „referred pain“ in Mm. trapezius pars descendens, Mm. scaleni, M. subclavius, jeweils rechts.

Ein erster Wertungszwischenschritt erforderte die gezielten Untersuchungen des Gelenkspiels der Schlüsselbeingelenke und lokal am Handgelenk, insbesondere der an der Dorsalextension beteiligten Gelenke der Handwurzel.

In diesem Zusammenhang war auch die HWS mit den Schlüsselregionen zervikothorakaler Übergang und Kopfgelenkregion auffällig. In der Zusammenschau mit den myofaszialen Zeichen und Hinweisen auf Einzelmuskeln und statische Dysbalancen sind, abhängig von den Ergebnissen der gezielten Untersuchung und des Verlaufs der Behandlung, Veränderungen des motorischen Stereotyps von Interesse.

Gezielte Untersuchung und Behandlung

Die Mobilisation einer Anteflexionsstörung in C0/C1und der Linksrotationsstörung C7/Th1 war erfolgreich; erste und zweite Rippe rechts sowie ACG und SCG rechts waren erst nach zusätzlicher Behandlung mit postisometrischer Relaxation (PIR) der Mm. scaleni und des M. subclavius frei beweglich.

Nach Manipulation des am deutlichsten als eingeschränkt gefundenen rechten Kapitatums war die freie Dorsalextension des Handgelenks möglich.

Die Schmerzpunkte im rechten M. trapezius, pars descendens, wurden mit PIR mit minimaler Spannung behandelt.

In der Nachuntersuchung traten die Spannungsphänomene der unteren Extremität und des unteren Thorax unverändert auf, Spannungsausgleich bei der Unterarmpronation und der Kompression des oberen Thorax. Die Befunde an der HWS waren weniger deutlich, aber mit gleichem Seitenbezug. Das Armpendel war beim Gang freier, die Außenrotation der Schulter ohne auffällige Spannungserhöhung.

Wiedervorstellung nach einer Woche

Der Patient schilderte, dass nach zwei Tagen deutlicher Linderung die bekannten Beschwerden wieder zunahmen. Die orientierende Untersuchung ergab ähnliche Ergebnisse wie zuvor, die nach gezielter Untersuchung erneut behandelt wurden.

Der Schwerpunkt der Behandlung verlagerte sich jedoch bei nur geringen Gelenkfunktionsstörungen, aber auffälliger Statik mit Hinweisen auf muskuläre Dysbalancen, auf die wahrscheinliche Verkettung und auf die Muskulatur.

Es wurde die linke untere Extremität untersucht und behandelt. Es fanden sich eine verminderte Pronation, eingeschränkte Dorsalextension im oberen Sprunggelenk (OSG) und ein hartes Endgefühl bei der Streckung des linken Kniegelenks. Entsprechend der Befunde der gezielten Untersuchung wurden Kuboid, OSG und Fibula erfolgreich mobilisiert. Nach Relaxation der als verspannt befundeten ischiokruralen Gruppe war die Kniestreckung frei.

Im Anschluss folgte eine erste Übungseinheit der propriozeptiven sensomotorischen Fazilitation nach Janda, um über eine verbesserte Aktivierung der haltenden Muskulatur über die aufsteigende Kette die Zentrierung des Humeruskopfes in der Pfanne zu verbessern und damit eine bessere muskuläre Führung zu erreichen. Der Patient lernte dabei den Ablauf zur Selbstübung.

Der Test auf Inkoordination der Schulterabduktion nach Janda (Tab. 1) ergab eine frühe Aktivität des homolateralen M. trapezius, pars descendens, und eine verminderte exzentrische Kontrolle der unteren Skapulastabilisatoren rechts mit deutlichem Abflügeln der Skapula bei Schulterabduktion ab 60° (Abb. 1).

Tab. 1 Normale Muskelaktionsfolge bei der Schulterabduktion
Abb. 1
figure 1

Normale (links) und gestörte Muskelaktion bei Armabduktion

Für die Störung des Stereotyps konnten jetzt (nach Behandlung und Kontrolluntersuchung) keine Blockierungen mehr ursächlich sein. Durch die gezielte Untersuchung waren zuvor auch Triggerpunkte ausgeschlossen. Die oberen Skapulafixatoren, Mm. scaleni, Zwerchfell, Mm. pectorales major et minor, M. subclavius und die ventralen Faszien von Hals und Thorax wurden jeweils aktualisiert in die Behandlung, zunächst mit Relaxation, einbezogen.

Therapeutisch wurde jetzt die Fazilitation der Mm. supraspinatus und deltoideus mit Taping eingesetzt, anschließend wurde kombiniert mit Skapulapattern aus dem Konzept der propriozeptiven neuromuskulären Fazilitation (PNF) mit den Techniken dynamische und agonistische Umkehr zur Verbesserung der intra- und intermuskulären Koordination gearbeitet.

Anschließend waren Gangbild und Auftrittsgeräusch symmetrisch und das Armpendel seitengleich.

Weiterer Behandlungsverlauf

Mit Hilfe der befundorientierten Behandlung und der eigenen Übungen zur Relaxation der verspannten Muskeln und zur Aktivierung, Koordinationsverbesserung und Fazilitation der gehemmten Muskeln war der Patient schmerzfrei.

Nach einer anstrengenden Proben- und Konzertarbeit mit langer Spieldauer traten wieder Beschwerden von geringer Intensität auf. Es zeigten sich geringe Gelenkfunktionsstörungen, diese wurden behandelt, anschließend wurde die Muskelaktionsfolge der Schulterabduktion überprüft. Die Aktivität des homolateralen M. trapezius war hoch, die Abduktorenaktivität verspätet und die der unteren Skapulafixatoren war erneut unzureichend. In simulierter Arbeitssituation am Piano wurde die Störung beim längeren Spielen der hohen Töne (ganz rechts außen, Abb. 2) offenkundig.

Abb. 2
figure 2

Arbeitshaltung vor (links) und nach Dehnungsbehandlung und anschließender Fazilitation

Nach gezielter Untersuchung von M. trapezius, pars descendens, M. levator scapulae und Mm. pectorales major et minor auf Verlängerungsfähigkeit nach Janda erfolgte nach der Relaxation bei gering beeinträchtigter Verlängerungsfähigkeit i. S. einer reversiblen strukturellen Verkürzung eine Dehnungsbehandlung von Mm. trapezius, pars descendens rechts und der Mm. pectoralis minor bds. Im Anschluss waren die Muskeln ausreichend verlängerungsfähig. Die unteren Schulterblattfixatoren und Abduktoren wurden danach nochmals fazilitiert. Mit Fortführung der Selbstübungen blieb der Patient daraufhin auch nach längerer beruflicher Belastung beschwerdefrei.

Fazit für die Praxis

Der Muskulatur und ihrer neurophysiologischen Steuerung und Verknüpfung kommt im Bereich des Schultergelenks eine besondere Bedeutung zu. Insbesondere bei Vorliegen einer konstitutionellen Hypermobilität ist mit dem Auftreten von muskulären Dysbalancen und Inkoordination zu rechnen. Zur Rezidivprophylaxe von Funktionsbeeinträchtigungen des Schultergelenks und der Klavikulagelenke in fast regelhaftem Zusammenhang mit auf- und absteigenden Ketten ist eine genaue Untersuchung der Muskulatur auf Verspannung und Verkürzung, Inhibition und Abschwächung und deren gezielte Behandlung unabdingbar. In der Behandlung der Gelenkfunktionsstörungen der Schulter führt eine Kombination von verschiedenen Herangehensweisen zu besseren Ergebnissen.