Geschichtliches

Die zahnärztliche Funktionslehre lässt sich geschichtlich im Wesentlichen auf die Problematik kondensieren, wie man Kiefermodelle am sinnvollsten für prothetische Arbeiten im Artikulator einstellt Ein Artikulator (Bewegungssimulator) hat die Aufgabe, Zahnmodelle des Patienten in der gleichen Lage zu fixieren, in der die Zähne in der vorhandenen oder erwünschten Interkuspitation stehen, und, diese so zu führen, dass man Kieferbewegungen des Patienten im zahntechnischen Labor nachvollziehen kann. Seit ca. 100 Jahren (Abb. 1) beschäftigt sich die zahnärztliche Wissenschaft und Praxis mit dieser Frage.

Abb. 1
figure 1

Einer der ersten volladjustierbaren Artikulatoren nach Oehlecker, um 1878

McCollum u. Stuart [1] formulierten 1955 eine Methode der Einstellung des Oberkiefer- sowie des Unterkiefermodells in neu entwickelte Artikulatoren. Die Grundlage hierfür bildete ein eingehend beschriebenes Konzept der kraniomandibulären Funktion mit den folgenden Eckpunkten:

  • Die Kiefergelenke bilden das zentrale Element für die Kieferbewegung, sie geben den Muskeln die Bewegungsbahn vor.

  • Die Kiefergelenke und deren biomechanische Bewegungsbahnen sind für jeden Menschen individuell und verändern sich über das gesamte Leben nicht mehr.

  • Durch die genaue Bestimmung dieser Bewegungsbahnen ist es möglich, die ideale Okklusion (Kontaktbeziehung) für die Zähne einzurichten.

Die Öffnungs- und Schließbewegung des Unterkiefers („zentrische Bewegung“) erfolgt durch die Rotation der Gelenkkondylen im unteren Gelenkspalt um eine Scharnierachse, eine imaginäre Verbindungslinie zwischen den Kondylen. Die Vorschub- und Seitbewegungen des Unterkiefers („exzentrische Bewegungen“) erfolgen durch Gleitbewegungen in den oberen Gelenkspalten.

Die korrekte Zuordnung des Unterkiefers hierfür entsprach der Stellung, bei der die kondyläre Scharnierachse am stabilsten war, nämlich der rückwärtigsten, kranialen Stellung (RKP) beider Kiefergelenke, bei der alle anderen Bewegungskomponenten ausgeschaltet sind und das Bewegungssystem auf eine rein rotative Funktion begrenzt ist. Dieses nannte man damals auch die „zentrische Relation“ der Kiefer.

Diese Methode setzte sich gegen anfangs vehemente Widerstände durch und bildet, auch wenn viele sich dieser Zusammenhänge nicht mehr bewusst sind, bis heute das Rückgrat der Vorstellungen über die Funktion des menschlichen Kauorgans. Bis in die heutige Zeit sind Artikulatoren nach diesen Prinzipien konstruiert. Vertikale Bewegungen erfolgen in einer Kreisbahn um die Kondylen, und alle anderen Bewegungen mit separat einstellbaren Gleitbewegungen.

Dieses Funktionsverständnis hätte eigentlich bereits Ende der 70er Jahre vollständig revidiert werden müssen, als Farrar u. McCarty [2] den ersten Mechanismus für die Kiefergelenkdysfunktion veröffentlichten, die reziproke anteriore Diskusverlagerung. Grundlegende Paradigmen wie Unveränderlichkeit, Stabilität und Führungseigenschaft der Kiefergelenke waren schließlich gegenstandslos geworden. Unterschiedliche Bewegungsbahnen der Kiefergelenke waren womöglich nicht mehr als individuelle Variationen zu verstehen, sondern als Ausdruck pathologischer Prozesse, welche keineswegs zur Konstruktion idealer Okklusionsprinzipien taugten.

Ein Problem war nun, anstatt die Kondylenposition bei Funktionsstörungen sorgfältig abzugrenzen [3], diese retrale Grenzstellung der Kondylen auch hier zur Basis der Diagnostik gemacht zu haben, ohne der Tatsache gebührend Rechnung zu tragen, dass Gelenke, z. B. beim Diskusvorfall, auch unnatürlich weit retrudierbar und komprimierbar sein können, und sich in solchen Fällen auch fast zwangsläufig Seitverschiebungen und/oder Kippungen der Mandibula hin zur betroffenen Seite und weg von der kranialbezogenen Mitte ergeben müssen. Selbst heute, da man die retrale Kondylenstellung nicht mehr generell als physiologisch betrachtet, wird diese Stellung weit verbreitet als Ausgangspunkt verwendet, von dem aus man den Kiefer um einen bestimmten Betrag nach vorne versetzt einstellt. Fatal dabei ist, dass dadurch ungewollt Seitverschiebungen des Unterkiefers provoziert werden, welche den Patienten fortan zu einer asymmetrischen Aktivität der Kaumuskulatur zwingen.

In diesem Zusammenhang ist interessant zu beobachten, dass die Zahl der an Dysfunktionen erkrankten Patienten immer weiter steigt, während einflussreiche Strömungen in der Funktionslehre glauben machen wollen, dass dem nur durch eine immer weiterführende technische Perfektion zu begegnen sei. Auch die technische Perfektionierung hat bei näherer Betrachtung jedoch keinen erkennbaren Unterschied bei der Prävalenz kraniomandibulärer Dysfunktionen (CMD) gebracht, sodass in manchen Literaturstudien bereits spekuliert wurde, die CMD habe womöglich gar nichts mit der Okklusion der Zähne zu tun [4].

Reflexe und Propriozeption

Was bei den mechanistischen Artikulationskonzepten von McCollum u. Stuart weitgehend gefehlt hatte, war die Erkenntnis der Rolle der gefühlsmäßigen, der reflektorischen Steuerung der Vorgänge im Kausystem durch die Muskulatur im Wechselspiel mit dem peripheren und zentralen Nervensystem.

Wo wir beißen, wie wir beißen und überhaupt, was wir mit unserem Unterkiefer tun, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie und wo wir uns dabei in der Okklusion gestört oder aber auch aufgehoben fühlen. Die Beseitigung eines Störkontakts kann den Wegfall eines Schutzreflexes nach sich ziehen, eine andere Bewegung des Kiefers und eine neue Kontaktsituation der Zähne zueinander erlauben, die nicht mit der im Artikulator hergestellten übereinstimmt. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass jeder tragende Höcker (zentrischer Höcker) über drei Kontaktpunkte in der Okklusion abgestützt werden muss (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Tripodisierungsplan nach Schöttl/Polz mit 52 Stopps

Jankelson und Jankelson et al. [5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20] hielten dieses Konzept der tripodisierten Okklusion [21] von Anfang an für nicht praktikabel und beschränkten sich in ihrem Okklusalkonzept daher auf solche Okklusalstopps, die eine axiale Kraftübertragung zwischen den antagonistischen Zähnen sicher stellten. Solche Stopps finden sich auf Randleisten und auf flach geneigten Stellen nahe der Höckerspitze bzw. der Fossa. Vorkontakte wurden hierbei nicht nach geometrischen Gesichtspunkten klassifiziert, sondern nach deren Wirkung auf die Propriozeption. Klasse-1-Vorkontakte sind beispielsweise dadurch gekennzeichnet, dass der Patient den Unterkiefer retrudiert, um ihnen auszuweichen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Klassifizierung der funktionellen Vorkontakte nach Jankelson

Solche Vermeidungsreaktionen können zu chronischen Verspannungen einzelner Areale oder insgesamt der Kaumuskulatur führen, die Ihrerseits dann zu Schmerzen oder auch projizierten Schmerzen im Sinne von Travel u. Simons [22] führen, wie auch zur chronischen Fehlbelastung kraniomandibulärer Strukturen, die sich dann durch Abnutzungserscheinungen, degenerative oder sonstige pathologische Veränderungen manifestieren können. Aufgrund solcher reflektorischen Reaktionen kann sich ein unklares Beschwerdebild aufbauen, das den Behandler von den ursächlichen Zusammenhängen eher ablenkt und eine klare Diagnose erschwert (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Myofasziale Triggerpunkte im M. temporalis können Zahn-, Kopf-, und Gesichtsschmerzen auslösen. (Nach [41])

Ein anderer Aspekt, der bei retral oder ansonsten fehleingestellten Kondylen vernachlässigt wird, ist die Tatsache, dass die Kaumuskulatur in Abhängigkeit von der Kieferstellung zu einer völlig unterschiedlichen Arbeitsweise gezwungen ist, die mehr oder weniger Leistung der beteiligten Muskeln bei unterschiedlicher Symmetrie mit sich bringt.

So haben Versuche des Autors immer wieder bestätigt, dass bei schrittweise nach anterior verlagerten Kiefergelenken in der Funktion die Massetermuskeln immer stärker in den Vordergrund treten, während die Temporalismuskeln zusehends an Funktionsfähigkeit einbüßen. Umgekehrt lässt sich meist bei retral eingestellter Okklusion darstellen, dass die Temporalisfunktion dominiert, während die Masseterfunktion zusehends einbricht, bis hin zum völligen Funktionsverlust dieser Muskeln.

Bei seitverschobenen Bisslagen lassen sich hingegen meist „diagonale“ Asymmetrien der Muskelaktivität beim Zubeißen beobachten, d. h., auf einer Seite dominiert der Masseter, auf der anderen der Temporalis.

Dieser Trend lässt sich auch ohne tatsächlichen Okklusalkontakt noch nachweisen, nämlich auch dann, wenn man auf einen zentralen Stützstift mit gleich bleibender Kraft bei verschiedenen Positionen des Unterkiefers beißt. Er scheint also in der Tat mit der Kieferposition zusammenzuhängen und nicht nur mit der Okklusion bzw. der Parodontalrezeption (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

EMG-Aufzeichnung zweier Bissanstrengungen, auf einen zentralen Stützstift bei gleichem Anpressdruck, einmal an der Pfeilwinkelspitze, einmal 2,5 mm anterior dazu. MM M. masseter, TA M. temporalis anterior, L links, R rechts

Die Wechselspiele zwischen Okklusalposition, Kieferhaltung und Muskelreflexen gehen aber auch noch weiter und können sogar bis zur Kopf- und Körperhaltung verfolgt werden [23]. Nur so sind die Beobachtungen zu erklären, dass Patienten mit Symptomen im Nackenbereich auf eine myozentrische Bissumstellung besonders gut reagieren [24].

Um dem Begriff „Funktionslehre“ gerecht zu werden, kann es eigentlich nicht ausreichen, sich auf die Betrachtung geometrischer bzw. biomechanischer Aspekte der Gelenkposition, bzw. -bewegung zu konzentrieren, vielmehr sollte die dahinter stehende Muskelfunktion mit einbezogen werden.

Myozentrik

Ein völlig anderes Konzept der Kieferrelationsbestimmung hat sich aus den Erkenntnissen von Bernard Jankelson ergeben. Jankelson hatte schon bald erkannt, dass das Problem nicht bei der Funktion der Zähne zueinander aufhört, sondern die Muskulatur mit einbezogen werden muss. Er postulierte, dass aus einer passenden Ruhelage heraus, der Zugrichtung der Elevationsmuskulatur folgend, gerade zugebissen werden kann. Eine ungünstig eingestellte Bisslage bringt also auch eine mehr oder weniger verkrampfte Ruhestellung der Mandibula mit sich, d. h. eine asymmetrische oder verkrampfte Funktion der Muskulatur nicht nur im Biss, sondern auch in der übrigen Zeit während der „Ruhe“, wenn gar kein Zahnkontakt besteht.

Zielsetzung von Jankelson war es daher, Verkrampfungen möglichst in jedem Fall vor der Registrierung zu lösen, während die Einnahme möglicherweise pathologischer Kieferstellungen unterbunden wurde, damit sich eine lockere, unverkrampfte Ruhelage des Unterkiefers einstellte, aus der heraus eine harmonische Interkuspitation ermittelt werden konnte, die Myozentrik.

Im Grunde geht es bei der Myozentrik also darum, die Interkuspitation (Okklusion) so einzustellen, dass die dazu gehörige Ruhelage möglichst einer anatomisch und physiologisch entspannten Länge der beteiligten Muskulatur entspricht (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Das ursprünglich von B. Jankelson spezifisch zur Entspannung der Kaumuskulatur entwickelte TENS-Gerät „Myomonitor“, Modell J1, aus dem Jahre 1967

Die bevorzugte Modalität zur Therapie der Ruhelage bzw. Entspannung der Muskulatur ist dabei eine bestimmte, weniger bekannte Form der transkutanen elektrischen Neuralstimulation (TENS) durch sehr niederfrequente Einzelimpulse von 500 µs Dauer mit ca. 12 mA/Seite bei einer Frequenz von 0,5–1 Hz. Diese Form der TENS-Therapie regt eine sehr kurze und daher schonende Eigenbewegung der verspannten Muskulatur an, quasi eine Massage von innen, bei im Vergleich zu den Anspannungsphasen extrem langen Erholungsintervallen, wodurch eine Erschöpfung selbst eines chronisch verspannten Muskels ausgeschlossen wird [25]. Diese Therapie wird für 30–60 min betrieben und bewirkt oft bereits in dieser Zeitspanne einen grundsätzlichen Wandel der Muskelfunktion.

Damit sich eine Neupositionierung der Mandibula einstellen kann, sollte während der Therapie der Okklusionskontakt unterbunden werden, entweder durch Wachs oder Watterollen, die zwischen die Zähne gelegt werden, oder besser noch durch den hydraulischen Ausgleich der okklusalen Auflagekräfte mit dem Aqualizer™ [26].

Die Anwendung hydrostatischer Hilfsmittel bei der Malokklusion wurde ursprünglich von Lerman [27, 28, 29, 30, 31, 32, 33] vorgestellt. Der Aqualizer besteht aus 2 Wasserpolstern, die zwischen den Seitenzähnen getragen werden und durch ihre gegenseitige Verbindung den Anlagedruck zwischen den Kiefern im Sinne kommunizierender Röhren egalisieren [34]. Lerman hat eine eigenständige Systematik in der Therapie mit hydrostatischen Registrierbehelfen entwickelt, und der Autor hat in über 10-jähriger Erfahrung in der Kombination der hydrostatischen Therapie zur Egalisierung des okklusalen Anpressdrucks mit der gleichzeitigen TENS-Therapie der Kaumuskulatur wertvolle synergistische Effekte feststellen können [35].

Bei leichten Myopathien kann oft durch die wiederholte Anwendung dieser Therapie, z. B. einmal/Tag für 5 Tage in Folge, einen Umschwung der metabolischen Situation der betroffenen Muskeln herbeigeführt werden, sodass sich die Situation auch ohne weitere Maßnahmen wieder stabilisiert. In schweren und chronischen Fällen ist die mehrfache TENS-Therapie als Vorbereitung zur Bissnahme sinnvoll, diese vorbereitenden Therapien können dann auch von dem Patienten selbst zuhause durchgeführt werden.

Das Wort „Myozentrik“ geht leicht über die Zunge, sodass es auch viele in den Mund nehmen, die mit deren Ursprüngen und Entwicklungen kaum vertraut sind. Daher sah sich der Autor veranlasst, mit Robert Jankelson [36, 37, 38, 39] eine exakte Definition der Myozentrik auszuarbeiten:

Die Myozentrik ist die UK-Position, die sich nach einer ungezwungenen isotonischen Elevation aus einer physiologisch entspannten Ruheschwebe (Ruhelage) nach Überbrückung einer vom Behandler festgelegten interokklusalen Distanz ergibt.

Das Element „physiologisch entspannten Ruheschwebe“ wurde bereits erörtert. Eine „isotonische Elevation“ ist eine Schließbewegung des Unterkiefers, die ohne Widerstand, Umwege oder Anpassungen erfolgt.

Das Endziel dieser Verfahrensweise ist einfach: Bei aufrechter Körperhaltung und entspannter Muskulatur soll die Unterkieferlage durch eine einfache Schließbewegung ohne Abgleiten spontan aufgefunden werden, nachdem das propriozeptive „Gedächtnis“ an die habituelle Interkuspitation „erloschen“ ist. Hat der Patient also lange genug einen Aqualizer, Watterollen oder ähnliches zwischen den Zähnen getragen, sodass die feinmotorische „Erinnerung“ an die zentrische Position verblasst ist, soll eine Schließbewegung bei aufrechter Haltung und entspannter Muskulatur spontan in der myozentrischen Position münden. Anders ausgedrückt, die Myozentrik sucht eine Unterkieferlage ausfindig zu machen, die frei von der Notwendigkeit der muskulären Korrektur oder Anpassung ist. Da die zu dieser Position gehörige Ruhelage des Unterkiefer der entspannten, physiologischen Position weitgehend entspricht, beinhaltet sie auch die idealen Voraussetzungen dafür, dass Muskelverspannungen, wenn sie wieder auftreten, sich von selbst schnellstmöglich lösen können.

Es muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass eine Kieferposition erst dann wirklich der Myozentrik entspricht, wenn sie folgenden Test besteht, d. h., wenn der Patient nach mindestens 30-minütiger Unterbrechung der Zahnkontakte bei entspannter Muskulatur, die gegebenen Falles durch eine geeignete Therapie sichergestellt werden muss, bei aufrechter Haltung diese Position spontan und ohne Korrekturen auffindet.

Der große Vorteil dieser Methode liegt darin, dass sie die Orientierung an völlig anderen, nämlich muskulären bzw. weichgeweblichen Parametern ermöglicht. Der Wert der Myozentrik ist daher gerade bei der Behandlung von Erkrankungen aus dem myoarthropathischen Formenkreis kaum zu überschätzen.

Oft können in Fällen, bei denen eine dentale Rekonstruktion nach den üblichen hartgeweblichen Gesichtspunkten nicht funktioniert hat, durch die myozentrische Technik therapeutische Erfolge entstehen, wie das nachfolgende Fallbeispiel zeigt.

Fallbeispiel

Frau W. stellte sich im Alter von 57 Jahren mit Schmerzen im Kopf und in beiden Kiefergelenken sowie Verkrampfungen in der Nacken- und Kopfmuskulatur zur neuromuskulären Funktionsuntersuchung vor. Als von den Hauptbeschwerden unabhängige Nebenbefunde wurde eine stark ausgeprägte Neurodermitis am gesamten Oberkörper sowie Haarausfall bis zum völligen Verlust des Haupthaares aufgenommen (Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Zustand wie z. Z. der neuromuskulären Funktionsuntersuchung, die Patientin muss inzwischen eine Perücke tragen

Im Mai 1999 waren nach einer Funktionsanalyse alle ihre Zähne überkront worden. Nach der Eingliederung der Kronen empfand es die Patientin als unangenehm, den Kiefer in eine für ihre Begriffe seitlich verschobene „Bissstellung“ bringen zu müssen. Im Laufe der Zeit habe sich eine „Verdrehung im Kopf“ eingestellt, die Patientin hatte das Gefühl, es habe sich nicht nur der Unterkiefer, sondern auch etwas im Oberkiefer verschoben, so als gehöre eine Gesichtshälfte gar nicht mehr zu ihr. Sie hatte große Schwierigkeiten beim Beißen, und die Schmerzsymptomatik hatte sich schrittweise zum gegenwärtigen Stand aufgebaut. Diverse Versuche einer Reihe von Therapeuten, der Patientin durch Einschleifen der Okklusion oder mit Aufbissschienen Linderung zu verschaffen, waren fehlgeschlagen und hatten teils eher noch zu weiteren Verschlechterungen geführt. Die Patientin präsentierte sich in einem depressiven Zustand, sie fühlte sich in ihrer Problematik unverstanden. Da sie den Einsatz der Symptome jedoch eindeutig in einen zeitlichen Zusammenhang mit der Eingliederung des Zahnersatzes bringen konnte, lehnte sie Diagnosen bzgl. psychosomatischer Begründungen für ihr Beschwerdebild ab und hatte die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass ihr irgendwie auf zahnärztlichem Wege geholfen werden könne.

Zu einem späteren Termin im Laufe der Behandlung, als die Patientin etwas Vertrauen gefasst hatte, brachte die Patientin Bilder mit, die zeigten, dass auch der Haarausfall und die Neurodermitis sich nach Eingliederung des Zahnersatzes sprunghaft entwickelt hatten (Abb. 8a–c und 9a, b).

Abb. 8a–c
figure 8

Fortschreitender Haarausfall in den Wochen und Monaten nach der dentalen Neuversorgung

Abb. 9a, b
figure 9

Die Neurodermitis nahm solch gravierende Formen an, dass die Patientin sich kaum mehr unter Menschen begeben wollte

Die Aufzeichnung der maximalen Kieferbewegungen ergab neutrale Bewegungsausmaße. Auffallend war jedoch der Verlauf der Öffnungsbewegung: Aus der habituellen Interkuspitation kommend, wich der Unterkiefer zunächst nach links aus, begradigte dann aber die Bewegung bis zur maximalen Öffnung. Die Schließbewegung verlief vertikal, wich aber ca. 8 mm vor Erreichen der habituellen Interkuspitation scharf nach rechts aus, kompensierte etwas über, und traf von rechts kommend wieder in die habituelle Okklusion ein. Dieses Bewegungsmuster konnte wiederholbar durch die Aufzeichnungen dargestellt werden (Abb. 10).

Abb. 10
figure 10

Die volontären Maximalbewegungen des UK in 2 Ebenen dargestellt, links sagittal, rechts frontal

Die Modellvermessung ergab eine Verschiebung der mandibulären Schneidezahnmitte um 5 mm nach rechts. Die Seitenzahnverzahnung auf der rechten Seite entsprach der Angleklasse II, auf der linken Seite der Angleklasse III. Hierdurch ergab sich bereits ein Verdacht auf eine mandibuläre Seitverschiebung nach rechts (Abb. 11a–c). Um diesen Verdacht zu testen, wurde ein Aqualizer „High“ zwischen den Seitenzähnen eingelegt, der die Zahnreihen in einer ausreichenden Vertikalen entkoppelte, sodass auch Störkontakte zwischen den Eckzähnen weitgehend eliminiert wurden. Gleichzeitig erfolgte eine Therapie der Kaumuskulatur durch Niederfrequenz-TENS sowie eine Therapie der verspannten Nackenmuskulatur durch Wärme.

Abb. 11a–c
figure 11

Bei der Modellvermessung ergaben sich Verdachtsmomente für eine mögliche körperliche Seitverlagerung der Mandibula in der Habituellen in einem größeren Ausmaß nach rechts

Nach 45 min wurde unter sorgfältiger Vermeidung vorzeitig auftretender Zahnkontakte eine Positionsanalyse des Unterkiefers aufgezeichnet. Stabilität und Reproduzierbarkeit der therapierten Ruhelage wurden mehrmals überprüft, nach Öffnungsbewegungen, nach Sprechübungen etc. In der Sagittalen zeigte sich hierbei ein hohes Maß an Reproduzierbarkeit innerhalb 2–3 Zehntel mm, in der Lateralen eine gewisse Unsicherheit im Bereich von ca. 0,8 mm. Als die Patientin dann aufgefordert wurde, in ihrer habituellen Position zuzubeißen, konnte sie diese zunächst gar nicht mehr finden. Sie musste sich erst in mehreren Versuchen an ihren Schneidezähnen nach retral tasten und entlang ihrem linken Eckzahn nach rechts. Gleichzeitig gab sie an, dass es ihr sehr unangenehm sei, diese Position erneut einnehmen zu müssen. Zum ersten Mal seit Jahren sei dieser zwanghafte Druck in ihrem Kopf und Kiefer von ihr abgefallen gewesen und sie habe sich irgendwie befreit gefühlt, sie spüre aber ganz deutlich, wie die Spannungen sich wieder aufbauten, während sie versuchte, die habituelle Okklusion wieder einzunehmen.

Die Auswertung ergab, dass die Entspannungstherapie bei dieser Patientin eine Änderung der Unterkieferlage nach links und nach anterior mit sich gebracht hatte, durch die sich die Schneidezahnmitten stimmig positioniert hatten und auch die Seitenzahnbeziehung nach Angle weitgehend neutral und symmetrisch wurde (Abb. 12).

Abb. 12
figure 12

Die Entkopplung der Okklusion bei gleichzeitiger TENS-Therapie der Kaumuskulatur bewirkte ohne Manipulation von außen einen weitgehenden Angleich der Mittellinien

Die Patientin nahm den Aqualizer mit nach Hause und sollte testen, ob sich ihre Symptomatik wiederholbar durch dessen Anwendung beeinflussen ließ. Nach einer Woche erstattete sie Rückmeldung, dass ihr der Aqualizer in der Tat vorhersehbar und wiederholt Linderung verschafft habe. Diese bereits im Vorfeld spontan erzielten Resultate ermutigten uns, einen okklusaltherapeutischen Versuch mit der Patientin zu wagen. Der 1. Schritt hierbei war die Eingliederung eines Myozeptors, einer speziell für die Initialtherapie der schmerzhaften CMD entwickelten volladjustierten, elastischen Okklusionsschiene, die schnell und kostengünstig herzustellen und einzugliedern ist und gleichzeitig relativ hohen Tragekomfort bietet. Aufgrund der eklatanten Diskrepanz in der Lateralen und einer gewissen Unsicherheit bei deren genauer Festlegung wurde beschlossen, diese nicht sofort im vollen Umfange zu inkorporieren, sondern erst in Schritten zu adaptieren (Abb. 13).

Abb. 13
figure 13

Der Myozeptor ist ein einfach herzustellender elastischer Aufbissbehelf, der eine exakte zentrische Position für den UK definiert

Bereits zum 1. Kontrolltermin 10 Tage später berichtete die Patientin von einer deutlichen Erleichterung und in den nächsten Wochen kam es zu einer deutlichen Verringerung der Verspannung der Kopf- und Nackenmuskulatur. Auffällig war auch eine deutlich erkennbare Verringerung der neurodermitischen Hautrötungen (Abb. 14).

Abb. 14
figure 14

Die Patientin bei einem Kontrolltermin. Da die mandibuläre Verschiebung ursprünglich extrem ausgeprägt war und in der Lateralen noch leichte Unsicherheit herrschte, erfolgte eine berührungsfreie elektronische Positionsanalyse des UK bei gleichzeitiger elektromyographischer Kontrolle

In den darauf folgenden 6 Monaten trat eine weitgehende Stabilisierung der Patientin ein. Die Neurodermitis war abgeklungen und trat nur noch bei besonderen Belastungen in diskreten Schüben auf. Die Schmerzen waren abgeklungen, die Verspannungen hatten sich bis auf einen leicht tolerierbaren Rest gelegt, den die Patientin auf das Hin und Her zwischen 2 Okklusionsstellungen zurückführte, wenn sie zum Essen den Myozeptor herausnehmen musste.

Durch diese Resultate ermutigt, wurde beschlossen, eine Neuversorgung mit Langzeitprovisorien in Angriff zu nehmen. Aufgrund der guten Erfahrungen mit nickelfreien Legierungen bei der Versorgung von Allergikern wurde ein solcher Metallkern für die Versorgung gewählt, die Verblendung erfolgte mit Herculite®-Hybridkunststoff der Firma Kerr. Bei der Anfertigung der Neuversorgung wurde im Bereich des Möglichen großer Wert auf den möglichst harmonischen Verlauf der Kauebene, auf eine symmetrische Kontaktsituation zwischen den Eckzähnen und eine symmetrische Ausgestaltung der Stützzonen gelegt (Abb. 15a, b; [40]).

Abb. 15a, b
figure 15

Die Okklusalebene wurde, soweit es umsetzbar war, in der Frontalen und der Sagittalen schädelbezüglich begradigt, unter Berücksichtigung von funktionellen Kompensationskurven. Vermessung hier mit dem HeadLines-Gerät

Diese Versorgung wurde inzwischen fast ein Jahr von der Patientin getragen und nach 3 Monaten remontiert. Inzwischen wurde das Recallintervall auf 6 Monate erweitert. Die Patientin ist sich seit vielen Monaten keiner Beschwerden mehr bewusst und fühlt sich nach eigenen Angaben „wie neu geboren“ (Abb. 16).

Abb. 16
figure 16

Die Patientin 6 Monate nach Eingliederung der Langzeitprovisorien. Laut eigenen Angaben ist die Neurodermitis völlig verschwunden und die Patientin schmerzfrei

Ausblick

Die Lösung dieses schwierigen Falles wäre ohne die Informationen, die sich durch die Entspannung der Weichgewebe und die Bestimmung der Myozentrik ergeben hatten, sicher kaum möglich gewesen. Die muskuloskelettaleSituation hatte sich nach Jahren der Fehlbelastung derart geändert, dass panthographische Auswertungen die eingestellte habituelle Interkuspitation immer wieder aufs Neue als quasi richtig bestätigten. Aufgrund dieser Daten war man zu der Überzeugung gelangt, dass keine Verbindung zwischen den okklusalen Faktoren und dem Beschwerdebild der Patientin bestünde.

Ganz besonders wichtig erscheint es in diesem Zusammenhang, gerade bei der Behandlung von Patienten mit CMD größte Vorsicht walten zu lassen. Irreversible Maßnahmen sind hier unbedingt zu vermeiden, bevor nicht die Wechselspiele zwischen den verschiedenen Wirkkreisen erforscht und für den Patienten individuell dargestellt sind [41].

Daher sollte es im Verständnis aller Beteiligten eine scharfe Trennung geben zwischen der prothetischen Versorgung eines Gesunden, bei dem gesunde Parameter lediglich zu reproduzieren sind, und der eines an einer chronischen Funktionsstörung Leidenden, bei dem solche Parameter nicht mehr vorliegen. Weiterhin kann es nicht sinnvoll sein, eine Neuversorgung auf pathologischen Messdaten degenerierter Kiefergelenke aufzubauen, sondern zuvor müssen eine Korrektur und eine Stabilisierung der Funktion erreicht sein, nach Möglichkeit mit einfachen und reversiblen Mitteln. Gerade in der Phase der Stabilisierung ist auch die Begleitung durch Manuelle Therapie meist unerlässlich. Aus zahnärztlicher Sicht ist es jedoch zwingend notwendig, dass zuerst das okklusale System in Einklang mit der Muskel- und Gelenkfunktion gebracht wird und erst dann andere Therapieansätze begleitend erfolgen, denn bei kraniomandibulären Dysfunktionspatienten können Therapieerfolge alleine durch manuelle Behandlungen sonst kaum langfristig stabilisiert werden. Die vorgestellte Technik der Myozentrik hat sich gerade in diesem Zusammenhang über die letzten 15 Jahre als sehr erfolgreich erwiesen.