Aufenthalts- und asylverfahrensrechtlich sind in der Bundesrepublik Deutschland die Minderjährigkeit und die Altersgrenze von 16 Jahren von besonderer Bedeutung [17]. Daher werden medizinische Gutachten zur Altersschätzung junger Ausländer, die ihr Lebensalter nicht zweifelsfrei belegen können, häufig nachgefragt.

Die Hauptversammlung der Bundesärztekammer hat diese Thematik bereits mehrfach aufgegriffen. In den Beschlussprotokollen sprach sich der Deutsche Ärztetag 1995 gegen den Einsatz von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung bei jungen Flüchtlingen aus. Im Beschlussprotokoll 2007 und 2010 wird die Beteiligung von Ärzten an diesen Verfahren generell abgelehnt. In den Begründungen wurde u. a. angeführt, dass die Anwendung von Röntgenstrahlen zu nichttherapeutischen Zwecken mit der ärztlichen Berufsordnung unvereinbar sei. Weiterhin wird die Methode der Altersbestimmung, hierbei insbesondere das Röntgen der Handwurzelknochen, als wissenschaftlich höchst umstritten angesehen [6]. Nicht beachtet wird hierbei, dass die Verfahren zur Altersschätzung von der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) seit vielen Jahren evaluiert und validiert worden sind.

Altersschätzungsverfahren wurden von der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik evaluiert und validiert

Auch öffentliche Medien kritisieren immer wieder die Beteiligung von Ärzten/Rechtsmedizinern an Verfahren zur Altersfeststellung junger Ausländer. Angeführt werden beispielsweise ein uneinheitliches Vorgehen und uneinheitliche Anwendung verschiedener Methoden in den Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland (Süddeutsche Zeitung „Rechenspiele in der Rechtsmedizin“, 15.03.2010; taz „Vom Eigensinn der Ausländerbehörde“, 23.04.2010).

Auch werden die Eignung der Methode des Handröntgens zur Lebensaltersbestimmung und die Anwendbarkeit der Standardtabellen, deren Referenzwerte sich maßgeblich auf weiße, englische und nordamerikanische Kinder aus der Mittelschicht bezögen, angezweifelt [13].

Schließlich wird der Untersuchung zur Altersschätzung ein traumatisierendes Potenzial zugesprochen. Sie wird als gravierender Eingriff in die Intimsphäre der Flüchtlinge dargestellt. Jungen Menschen, die häufig Gewalt, Flucht und Krieg erlebten, würde mit der Anzweiflung ihres Alters Misstrauen entgegengebracht, anstatt ihnen Schutz zu gewähren [20].

Rechtsgrundlagen und Besonderheiten in Hamburg

Der behördliche Umgang mit einreisenden Ausländern ist in Deutschland zunächst durch das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geregelt. Der mit Wirkung vom 28.08.2007 geänderte § 49 AufenthG zur „Überprüfung, Feststellung und Sicherung der Identität“ beinhaltet, dass, sofern Zweifel am Lebensalter des Ausländers bestehen, erforderliche Maßnahmen zu dessen Feststellung zu treffen sind. Als erforderliche Maßnahmen werden aufgeführt: Lichtbilder, Fingerabdrücke sowie Messungen und ähnliche Maßnahmen, einschließlich körperlicher Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zum Zweck der Feststellung des Alters vorgenommen werden, wenn kein Nachteil für die Gesundheit des Ausländers zu befürchten ist …“.

Nach der amtlichen Gesetzesbegründung wurde mit der Neuregelung des § 49 AufenthG „eine Rechtsgrundlage für körperliche Eingriffe zum Zwecke der Identitätsfeststellung eingeführt, auf die auch Röntgenuntersuchungen gestützt werden können.“ Zulässig sind diese Maßnahmen allerdings nur bei Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben. Nach der sog. Zweifelsregelung gehen Zweifel an der Vollendung des 14. Lebensjahres zulasten der/des Betroffenen (§ 49 Abs. 6 Satz 2 AufenthG; [12]).

Das deutsche Asylverfahren beinhaltet in der Regel folgende Stationen [7]:

  1. 1.

    Meldung als Asylsuchender in der nächstgelegenen Erstaufnahmeeinrichtung,

  2. 2.

    Erstverteilung nach Erstaufnahmesystem (EASY: bundesweites Verteilungssystem, das die für die Unterbringung zuständige Aufnahmeeinrichtung ermittelt),

  3. 3.

    Meldung in zuständiger Aufnahmeeinrichtung,

  4. 4.

    Asylantragstellung beim Bundesamt,

  5. 5.

    Anhörung des Asylbewerbers und

  6. 6.

    Entscheidung über das Asylbegehren.

Auch das Asylverfahrensgesetz beinhaltet einen Paragrafen zur „Sicherung, Feststellung und Überprüfung der Identität“. Dieser § 16 erlaubt als zulässige Maßnahmen die Anfertigung von Lichtbildern, Irisbildern, Fingerabdrücken und Sprachaufzeichnungen, nicht jedoch körperliche Eingriffe. Der Gesetzgeber unterscheidet demnach bezüglich der Zulässigkeit der Untersuchung zur Altersschätzung eindeutig zwischen Personen, auf die das Aufenthaltsgesetz Anwendung findet, und Asylsuchenden nach dem Asylverfahrensgesetz.

Das Verwaltungsgericht Hamburg bestätigte in seinem Beschluss vom 22.07.2009 (Az. 3 E 1152/09), dass eine Untersuchung zur Altersfeststellung einschließlich Röntgenuntersuchung auf der Grundlage des § 49 AufenthG an sich zulässig sei. Eine Anordnung für eine Untersuchung auf dieser Rechtsgrundlage sei jedoch nicht zulässig, wenn vor Erlass der Anordnung ein Asylgesuch geäußert wurde und damit das Asylverfahrensgesetz Anwendung finde. Ist dies der Fall, so seien die auf § 49 AufenthG gestützte Untersuchungsanordnung und auch die Bestimmung, der zu Untersuchende habe sich an dem Untersuchungsort einzufinden, rechtswidrig. Weiterhin wird in dem Beschluss eine durch ausländerbehördliche Verfügung verwaltungsverfahrensrechtlich allgemeinverbindliche Festsetzung eines fiktiven Geburtsdatums als rechtswidrig bezeichnet, da sie Auswirkungen auf „Entscheidungen auch außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches“ habe und die hierfür erforderliche Ermächtigungsgrundlage fehle.

Die Duldungspflicht bei der Altersuntersuchung gilt „allein für rein aufenthaltsrechtliche Zwecke“.

In Hamburg werden im Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes Untersuchungen zur Altersschätzung von Mitarbeitern der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung angeordnet, sofern „das von der vorsprechenden Person angegebene Lebensalter erheblich von seinem äußeren Erscheinungsbild abweicht“. Die Rechtsgrundlage für eine Untersuchungsanordnung bildet neben § 49 AufenthG das Hamburgische Verwaltungsverfahrensgesetz vom 09.11.77 (HmbVwVfG; [1]). Demnach bedient sich die Behörde „der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhaltes für erforderlich hält … Sie kann insbesondere den Augenschein einnehmen. Die Beteiligten sollen bei der Ermittlung des Sachverhaltes mitwirken.“

Für den Zuständigkeitsbereich der Abteilung für Ausländerangelegenheiten des Einwohner-Zentralamts besteht eine Dienstanweisung zur Altersfiktivsetzung vom 15.01.2002. In dieser Dienstanweisung wird ausgeführt: „Eine Feststellung des tatsächlichen Alters wird damit nicht getroffen. Vielmehr wird zur Vermeidung des Anscheins der Richtigkeit dieses fiktiv festgesetzten Geburtsdatums ausdrücklich vermerkt: ‚Fiktives Geburtsdatum aufgrund äußeren Anscheins‘ … Diese in Hamburg bereits seit Ende 1992, im übrigen Bundesgebiet seit 1993 bestehende Praxis ist in Hamburg seit November 1997 dahin gehend weiterentwickelt worden, dass auf Verlangen die Möglichkeit einer ärztlichen Untersuchung zum Beweis der Richtigkeit der erhobenen Altersbehauptung eingeräumt und hierzu für die Dauer von längstens einer Woche die asylverfahrensrechtliche Verteilung ausgesetzt wird … Die Untersuchungen werden auf freiwilliger Grundlage von den Betroffenen selbst veranlasst, um die Richtigkeit ihrer Altersangabe zu belegen“ [3].

Nach § 49 Abs. 10 AufenthG sind die Maßnahmen zur Feststellung der Identität, einschließlich körperlicher Eingriffe, zu dulden. Die Bundesregierung erklärt: „Die Feststellung des Alters eines jungen Menschen dient in diesem Zusammenhang in aller Regel der Klärung, ob überhaupt die Voraussetzung für eine Inobhutnahme – nämlich die Minderjährigkeit – vorliegt. Grundsätzlich hat die abschließende Klärung eines Sachverhaltes zu erfolgen, bevor hieran Rechtsfolgen geknüpft werden. Das heißt, die Altersfeststellung ist vor der Inobhutnahme vorzunehmen. Nur wenn dies nicht möglich ist, ist im Zweifel von einer Minderjährigkeit auszugehen, die Inobhutnahme durchzuführen und im Rahmen eines Clearingverfahrens eine Altersfeststellung vorzunehmen … Angesichts der sehr unterschiedlichen Konsequenzen für das weitere Verfahren, die mit der Altersfeststellung einhergehen, ist bei jedem Erstkontakt mit einem möglicherweise unbegleiteten Minderjährigen zunächst eine Altersfeststellung vorzunehmen, um auf dieser Grundlage die nächsten Schritte einzuleiten … Soweit keine gültigen Identifikationspapiere vorliegen, wird das Alter der jungen Menschen in der Regel durch fachlich geeignetes und erfahrenes Personal mittels Inaugenscheinnahme geschätzt. Medizinische Altersschätzungen durch visuelle Untersuchungen des Zahnstatus, durch Ganzkörperuntersuchungen oder durch den Einsatz ionisierender Strahlen werden überwiegend nur im Ausnahmefall vorgenommen“ [11]. Eine generelle Zuständigkeit der Vormundschafts- und Familiengerichte für die Altersfestsetzung wird nicht als erforderlich erachtet. Den Erstaufnahmeeinrichtungen bzw. Jugendämtern wird in diesem Zusammenhang explizit „ausreichende Erfahrung“ zugesprochen, um die Angaben Minderjähriger zu überprüfen.

Weiter heißt es: „Es gibt keine wissenschaftlich fundierte Untersuchungsmethode, mit der sich abschließende und/oder gar taggenaue Aussagen zum Alter treffen lassen. Die Inaugenscheinnahme ist in der Regel vor Ort das angemessene Mittel, um die Voraussetzungen für das weitere Vorgehen zu prüfen“ [11].

Die Behörde für Inneres Hamburg verweist auf § 6 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes, nachdem die zu duldende Maßnahme durch Verwaltungszwang durchgesetzt werden kann. Da die Behörde die in § 9 aufgeführten Zwangsmittel (Ersatzvornahme, Zwangsgeld, unmittelbarer Zwang) jedoch als ungeeignet bzw. unverhältnismäßig ansieht, greift sie im Bedarfsfall „auf die Inaugenscheinnahme als Beweismittel im Sinne des § 26 HmbVwVfG zurück“ [1].

In Hamburg wird bei Personen im Alter von 16 bis 18 Jahren von einer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung im Sinne des § 44 AsylVfG abgesehen. Es erfolgt eine Inobhutnahme durch das zuständige Jugendamt, überwiegend verbunden mit einer Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung. Von der asyl- und aufenthaltsrechtlich vorgesehenen Weiterleitung an die nach bundesweitem Verteilungsverfahren zuständige Aufnahmeeinrichtung wird in Hamburg derzeit mit Rücksicht auf die konkurrierende gesetzliche Vorschrift des § 42 des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII, der die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen regelt, abgesehen [1]. Allerdings wird zugleich die Auffassung vertreten, dass bei der Inobhutnahme junger, unbegleiteter Ausländer nach § 42 SGB VIII das Alter dieser Personen medizinisch zu überprüfen ist, wenn daran berechtigte Zweifel bestehen. Rechtsgrundlage für diese Begutachtung bilden §§20,21 SGB X in Verbindung mit §§ 62, 65 SGB I [2].

Material und Methoden

Untersuchung zur Altersschätzung im Institut für Rechtsmedizin Hamburg

Im April 2009 wurde in Hamburg eine durch die Ausländerabteilung des Einwohner-Zentralamts ausgearbeitete Verfügung erlassen, die eine Durchführung der Untersuchung ohne richterlichen Beschluss vorsieht. „Ziel der Verfügung ist eine wissenschaftlich fundierte, möglichst präzise Bestimmung des tatsächlichen Lebensalters“ [4]. Das Verfahren zur Altersschätzung im Institut für Rechtsmedizin Hamburg orientiert sich an den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (AGFAD; [15]).

Die körperliche Untersuchung erfolgt durch einen Arzt des Instituts im Rahmen der Dienstaufgaben unter Abstimmung des Ergebnisses mit einem Facharzt für Rechtsmedizin. Die zu untersuchende Person wird von einem Mitarbeiter des Einwohner-Zentralamts und einem Dolmetscher begleitet. Sie wird über den Untersuchungszweck aufgeklärt. Untersuchungsgrundlage bildet eine freiwillige körperliche Inspektion unter Einbeziehung der Genitalregion und des Gebissbefundes.

Die Untersuchung weiblicher zu untersuchender Personen erfolgt nach Möglichkeit durch eine Ärztin des Instituts. Die anfängliche Anamneseerhebung beinhaltet Fragen nach eigenen sowie familiären Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme, Operationen und Krankenhausaufenthalten. Bei weiblichen Personen werden der Zeitpunkt der Menarche und die Möglichkeit einer früheren oder zum Untersuchungszeitpunkt vorliegenden Schwangerschaft erfragt. Gegebenenfalls wird ein Schwangerschaftstest durchgeführt.

Grundsätzlich erfolgen die Erfassung anthropometrischer Maße (Körpergröße, -gewicht und Körperbau) sowie eine orientierende internistische Untersuchung zur Erfassung möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen. Die sexuellen Reifezeichen werden mithilfe der Stadieneinteilung nach Tanner und des Grades der Behaarung verschiedener Körperregionen erfasst. Weiterhin wird eine Hodentastuntersuchung durchgeführt.

Im Anschluss an die Untersuchung wird, sofern sich keine Anzeichen für altersrelevante Entwicklungsstörungen ergeben haben, der zu Untersuchende im Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) vorgestellt. Dem Arzt in der Rechtsmedizin kommt neben der untersuchenden eine koordinierende Funktion zu. Das zusammenfassende Gutachten wird durch den Rechtsmediziner erstellt. Er bewertet das Ergebnis der Röntgenuntersuchungen in der Zusammenschau mit seinem gewonnenen Eindruck aus der körperlichen Untersuchung kritisch. Sollten bei der orientierenden internistischen Untersuchung Auffälligkeiten festgestellt werden, so erfolgt eine Empfehlung zur weiteren diagnostischen Abklärung an den anwesenden Mitarbeiter des Einwohner-Zentralamts.

Ist die zu untersuchende Person augenscheinlich sehr jung und sind auch keine Weisheitszähne im Mund erkennbar, dann wird zunächst eine Röntgenaufnahme der linken Hand durchgeführt. Bei abgeschlossener Handskelettentwicklung ist zur weiteren Alterseingrenzung eine Panoramaaufnahme des Gebisses (Orthopantogramm, OPG) notwendig. Im Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde des UKE wird zunächst eine intraorale Inspektion durchgeführt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Entwicklungsgrad der Weisheitszähne (Sichtbarkeit und Bezug zur Kauebene). Eine Person mit ausgewachsenen Weisheitszähnen kann über 21 Jahre alt sein, aber auch, wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit, 17 Jahre alt. Dies macht es notwendig, die Untersuchungen zu präzisieren und weitere altersrelevante Merkmale einzubeziehen. Daher wird auch auf Knochenabbau und verschiedene Veränderungen im Weisheitszahnbereich wie Elongationen, Abnutzungserscheinungen sowie Kippungen und Wanderungen der Weisheitszähne geachtet.

Je mehr altersrelevante Merkmale vorliegen, desto sicherer wird die Altersschätzung.

Reichen diese im OPG erfassten Befunde für eine sichere Altersschätzung nicht aus, und es besteht der Verdacht, dass auch ein Alter über 18 Jahre möglich wäre, sind Aufnahmen der Schlüsselbeine gerechtfertigt.

Ergebnisse

Aktuelle und frühere Zahlen

Nach Angaben der Behörde für Inneres Hamburg wurde im Jahr 2009 der Zugang von 1443 Personen in der Aufnahmeeinrichtung erfasst. Seit Anwendung der im April 2009 erlassenen Verfügung erfolgten 172 Fiktivsetzungen mit Anordnung einer Altersuntersuchung [1]. Dies entspricht einem Anteil von 11,9%. Insgesamt wurden im Jahr 2009 in diesem Zusammenhang 181 Personen zum Zweck der Altersfeststellung im Institut für Rechtsmedizin Hamburg untersucht [4]. Die untersuchten Personen waren bis auf wenige Ausnahmen männlich. Von den 172 Fällen, in denen seit April 2009 eine Untersuchung zur Altersfeststellung nach § 49 AufenthG angeordnet wurde, wurde in 9 Fällen nach der Untersuchung die Fiktivsetzung durch die Ausländerbehörde rückgängig gemacht [1]. Dies entspricht einem Prozentsatz von 5,2%, bei denen die Altersfiktivsetzung durch die Ausländerbehörde unzutreffend war.

Der Senat beziffert die Zugänge „allein reisender Unbegleiteter“ unter 18 Jahre im Jahr 2009 auf 402 Personen. Im gleichen Jahr seien 226 Altersfiktivsetzungen auf mindestens 18 Jahre vorgenommen worden. Unter den 402 allein reisenden Unbegleiteten unter 18 Jahren stammten 231 aus Afghanistan, 25 aus Guinea, 17 aus Algerien, 12 aus Ägypten, jeweils 11 aus dem Irak und dem Iran sowie 32 aus sonstigen asiatischen Staaten. Aus den übrigen erfassten Staaten, überwiegend Afrikas, stammten jeweils weniger als 9 allein reisende Unbegleitete unter 18 Jahren [4]. Im Jahr 2008 wurde in Hamburg der Zugang von 164 allein reisenden Unbegleiteten unter 18 Jahren registriert, davon stammten 61 aus Afghanistan, 16 aus Algerien, 14 aus dem Irak sowie 11 aus dem Iran. Andere Staaten waren mit geringeren Zahlen vertreten [5]. Im Jahr 2008 registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Hauptherkunftsland der in Deutschland erfassten Asylbewerber den Irak mit 30,9%. Afghanistan war bei 2,97% der Asylbewerber Herkunftsland [8]. Bei der bundesweiten Erfassung der zugangsstärksten Herkunftsländer der Asylbewerber für den Zeitraum 01.01.2010 bis 31.03.2010 steht der Irak an der Spitze mit 18,4%, gefolgt von Afghanistan mit 17,5% und dem Iran mit 5,6%. Im April 2010 ist Afghanistan zugangsstärkstes Herkunftsland mit 15,4% vor dem Irak (13,4%) und Serbien (7,9%; [9]). Eine Auswertung der Altersgutachten im Rahmen von Strafverfahren bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen des Instituts für Rechtsmedizin Hamburg der Jahre 2001 bis 2005 ergab einen Personenanteil von 27,33% aus Burkina Faso, 13,81% aus Sierra Leone und 5,84% aus Afghanistan. Die übrigen Herkunftsländer wiesen geringere Prozentsätze auf [18].

Diskussion

Vor der Neuregelung des § 49 AufenthG stützten sich die Altersschätzungen auf die Erfassung der anthropometrischen Daten, der sexuellen Reifezeichen und auf die intraorale Inspektion [25]. Seit Ende August 2007 ist die Anwendung von Röntgenstrahlen zur Feststellung der Identität von Ausländern nach § 49 AufenthG explizit legitimiert. Durch die Möglichkeit des Einsatzes von Röntgenuntersuchungen ist davon auszugehen, dass sich die Validität der Ergebnisse der Altersschätzungen in letzter Zeit gesteigert hat.

Die effektiven Strahlendosen der am häufigsten im Zuge der Altersschätzung durchgeführten Röntgenuntersuchungen belaufen sich auf 0,1 µSv beim Handröntgen, 26 µSv bei einer OPG-Aufnahme und 220 µSv beim konventionellen Schlüsselbeinröntgen [21]. Laut Jahresbericht für Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung des Bundesamtes für Strahlenschutz betrug die Gesamtexposition durch ionisierende Strahlung in Deutschland 2001 durchschnittlich 4,1 mSv [10]. Die Strahlenexpositionen bei Röntgenuntersuchungen der Hand und des Gebisses sind demnach vergleichsweise niedrig und können als für einen routinemäßigen Einsatz geeignet angesehen werden. Die Strahlenexposition bei der Röntgenuntersuchung der Schlüsselbeine entspricht immerhin mehr als dem 8-Fachen einer OPG-Aufnahme und einem Achtzehntel der durchschnittlichen jährlichen Gesamtexposition an ionisierender Strahlung. Der Einsatz dieser Methode sollte daher zurückhaltend erfolgen, ist jedoch, wie hier dargelegt, auch nur in Ausnahmefällen notwendig [21]. Da beispielsweise in Österreich asylrechtlich die Volljährigkeit bedeutsam ist, kommt der Untersuchung der Schlüsselbeine mithilfe bildgebender Verfahren dort eine zentralere Rolle zu [19].

In nicht wenigen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland gilt als vorrangig und oftmals ausschließlich praktizierte Methode zur Altersfestsetzung die Inaugenscheinnahme, durchgeführt von Mitarbeitern von Jugendämtern, Verwaltungsorganen, Gesundheitsämtern und Ausländerbehörden. In Hessen beispielsweise werden eine sozialpädagogische Ausbildung des „schätzenden“ Personals und hinreichende Erfahrung im Hinblick auf spezifische Not- und Bedarfslagen sowie Erscheinungsformen unbegleiteter Minderjähriger vorausgesetzt [11].

In Hamburg erfolgt nach Altersfiktivsetzung durch Inaugenscheinnahme meist eine wissenschaftlich begründete Altersschätzung durch ärztliches Personal.

Die in Hamburg gängige Praxis der Altersfestsetzung erscheint im Vergleich zu den angewandten Methoden einiger anderer Bundesländer eher objektiv, standardisiert und wissenschaftlich begründet. Der geringe Prozentsatz (5,2%) der Fälle, in denen nach Altersschätzung durch Untersuchung Fiktivsetzungen durch die Ausländerbehörde rückgängig gemacht werden mussten, spricht eindrücklich dafür, dass die Zweifel am genannten Lebensalter im Allgemeinen berechtigt waren. Jedoch lässt dieses Ergebnis auch die Diskussion zu, dass die in der bedeutenden Mehrzahl der Fälle zutreffende Fiktivsetzung mithilfe der Inaugenscheinnahme die Untersuchung unnötig werden lassen könnte. Eine frühere Untersuchung von 290 vom Institut für Rechtsmedizin durchgeführten Altersschätzungen auf richterlichen Beschluss hin zeigte sogar, dass bei mehr als der Hälfte der Untersuchten ein Lebensalter festgestellt wurde, das mehr als 6 Jahre über dem lag, das angegeben worden war [14]. Eine Analyse erstatteter Gutachten am Institut für Rechtsmedizin der Charité Berlin im Zeitraum 2001 bis 2007 ergab sogar Diskrepanzen von bis zu 11 Jahren zwischen angegebenem und geschätztem Alter [26].

Im Jahr 2009 hat sich die Zahl der in Hamburg erfassten allein reisenden Unbegleiteten unter 18 Jahren im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Während die Untersuchungen zur Altersschätzung im Strafverfahren in Hamburg seit 2001 kontinuierlich abnehmen und in den letzten 3 Jahren nur noch vereinzelt durchgeführt wurden, ist aufgrund der steigenden Zahlen einreisender junger Ausländer zurzeit eher eine Zunahme der Anforderungen zur Altersschätzung für aufenthaltsrechtliche Belange zu erwarten.

Einer Kritik gegenüber der ethischen Zulässigkeit von Altersschätzungen kann entgegengehalten werden, dass Altersschätzungen, die lege artis durchgeführt werden, zur Gewährleistung der Rechtssicherheit beitragen. Sie können einen Beitrag dazu leisten, juristische Gleichbehandlung von Personen ohne und mit gültigen Ausweispapieren zu schaffen. Weiterhin können sie dabei helfen, ungerechtfertigte Inanspruchnahmen von Vorteilen durch unzutreffend behauptetes Unterschreiten juristisch relevanter Altersgrenzen zu verhindern. Auch kann das Ergebnis der auf Untersuchung basierenden Altersschätzung die untersuchte Person von dem Verdacht, ihr Alter falsch angegeben zu haben, entlasten [24, 26].

Ein weiterer Hauptkritikpunkt entspringt dem Sachverhalt, dass für die Altersschätzungen Standards für Mittel-, Nordeuropäer und weiße Nordamerikaner herangezogen werden. Literaturstudien zeigten jedoch, dass definierte Stadien der Dentition, Ossifikation und der Entwicklung sexueller Reifezeichen in den relevanten ethnischen Hauptgruppen derselben gesetzmäßigen Reihenfolge unterliegen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Referenzstudien grundsätzlich auf Gruppen anderer ethnischer Herkunft übertragbar sind. Mehr als der ethnischen Zugehörigkeit wird dem sozioökonomischen Status eine beeinflussende Wirkung auf die Skelettreifung zugesprochen. Ein im Vergleich geringerer sozioökonomischer Status hat eine Entwicklungsverzögerung zur Folge und würde daher zu einer Unterschätzung des Alters führen, die sich im Asylverfahren nicht nachteilig auswirkt [22]. Eine vergleichende Untersuchung der Mineralisationsstadien der Weisheitszähne auf OPG-Aufnahmen von Japanern, Deutschen und Südafrikanern zeigte jedoch, dass bei Japanern bestimmte Entwicklungsstadien 1 bis 2 Jahre früher im Vergleich zu gleichaltrigen Deutschen durchlaufen werden, andere Entwicklungsstadien bei Südafrikanern dagegen 1 bis 2 Jahre später [16]. Dies verdeutlicht, dass weiterer Forschungsbedarf zur Erarbeitung populationsspezifischer Standards besteht. Weiterhin sollte grundsätzlich die Bewertung mehrerer Entwicklungssysteme zur Altersschätzung hinzugezogen werden [23]. Die Kombination verschiedener Untersuchungsmethoden bewirkt außerdem eine Verringerung der Streubreite der Altersdiagnose im Vergleich zu den Streubreiten der Einzelmerkmale [24].

Sofern ein Vergleich zwischen den Herkunftsländern der Tatverdächtigen in Strafverfahren 2001–2005 mit den der eingereisten Ausländer vor Asylbeantragung zulässig ist (neben dem Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz waren am häufigsten „ausländerspezifische“ Delikte, wie Falschbeurkundung und illegaler Aufenthalt Gegenstand der Ermittlungsverfahren), ist festzustellen, dass der Anteil der aus Afghanistan und dem Irak stammenden Personen in den letzten Jahren stark gestiegen ist, während der Anteil der Personen aus West- und Zentralafrika rückläufig ist [18].

Fazit für die Praxis

Eine Altersschätzung mithilfe der von der AGFAD empfohlenen Untersuchungsmethoden ist, im Gegensatz zur Methode der reinen äußeren Inaugenscheinnahme, standardisiert und objektivierbar. Eine ärztliche Untersuchung zur Altersschätzung ist gemäß § 49 AufenthG einerseits und zur Realisierung des § 42 SGB VIII andererseits zulässig. Bei Vorliegen des Status eines Asylsuchenden ist eine Untersuchungsanordnung nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Hamburg auf der Grundlage des § 49 AufenthG rechtswidrig, bleibt jedoch im Rahmen des jugendhilferechtlichen Inobhutnahmeverfahrens nach § 42 SGB VIII in Verbindung mit § 62 SGB I zulässig. Die Kriterien, auf die sich der Status des Asylsuchenden begründet, sollten daher im Gesetz und in dessen behördlicher Anwendung eindeutig gegenüber den Ausländern, auf die das Aufenthaltsgesetz Anwendung findet, abgegrenzt werden, auch zur Rechtssicherheit der Untersuchenden. Die zur Untersuchung vorstelligen Personen sind fast ausschließlich männlich und ihrer Herkunft nach überwiegend muslimisch geprägt. Einer im Einvernehmen durchgeführten körperlichen Untersuchung ist in der Regel kaum traumatisierendes Potenzial zuzusprechen. Die Gewährleistung einer Untersuchung durch einen gleichgeschlechtlichen Arzt könnte dazu beitragen, die Intimität dieser jungen Menschen zu wahren.