Definition des Polytraumas nach Otmar Trentz [83]: Das Polytrauma ist ein „Syndrom von mehrfachen Verletzungen von definiertem Schweregrad (Injury –Severity Score ISS ≥17) mit konsekutiven systemischen Reaktionen, die zu Dysfunktion oder Versagen von entfernten, primär nicht verletzten Organen oder Organsystemen mit vitaler Bedrohung führen können.“

In industrialisierten Ländern stellen Unfälle die Haupttodesursache junger Menschen unter 45 Jahren dar [9, 87]. Allein in Deutschland verunfallen jährlich etwa 4–5  Mio. Menschen, wovon über 20.000 Patienten an ihren Verletzungen versterben [9, 27, 28, 58]. Für die traumabedingte Sterblichkeit sind 3 Hauptursachen maßgebend [1]:

  • Sekundentod („sudden death“) am Unfallort durch immediat letale Verletzungen, wie z. B. Abscherverletzungen des Hirnstamms oder die Aortenruptur mit freier Blutung

  • Frühe Sterblichkeit innerhalb der ersten Stunden nach Trauma („golden hour“) durch Verletzungen der Atemwege, Spannungspneumothorax, traumatisch-hämorrhagischen Schock infolge intraabdomineller oder intrathorakaler Verletzungen oder Beckenringzerreißungen mit retroperitonealen Massenblutungen oder durch das schwere Schädel-Hirn-Trauma (SHT) mit akutem Hirnödem und/oder intrakraniellen Massenverschiebungen

  • Späte Sterblichkeit innerhalb von 2–3 Wochen nach Trauma durch Sepsis und Multiorganversagen oder durch therapierefraktäre Hirndruckanstiege im Rahmen des sekundären Hirnödems nach SHT [38]

In den letzten Jahrzehnten haben bedeutende Innovationen in den Behandlungsstrategien von schwerverletzten Patienten zu einer signifikanten Reduktion der polytraumabedingten Sterblichkeit von etwa 40% in den 1970er Jahren auf knapp 10% im Jahr 2000 geführt [59]. Diese Errungenschaft ist vorwiegend auf verbesserte Standards der Traumaversorgung durch die Integration definierter Algorithmen für das präklinische und klinische Management polytraumatisierter Patienten zurückzuführen [7, 8, 13, 37, 38, 45, 52, 65, 74, 86].

Da die Prognose direkt abhängig ist vom Zeitintervall zwischen Unfall und der definitiven Versorgung schwerverletzer Patienten, hat die Verkürzung von Bergungs- und Transportzeiten beim Polytrauma zu einer erheblichen Reduktion therapiefreier Intervalle geführt, insbesondere durch die Vermeidung unnötiger Sekundärtransporte infolge einer inkohärenten Wahl der Primärklinik (Regel der „drei R“ nach Donald Trunkey: „Get the Right patient to the Right hospital in the Right time“) [9, 27, 37, 59, 84, 88]. Die Verbreitung des „Damage control“-Konzepts zur Schadensbegrenzung bei schwerstverletzten Patienten in kritischem Zustand und die Verbesserung der intensivmedizinischen Möglichkeiten haben weiterhin substanziell zur Reduktion der unfallbedingten Sterblichkeit geführt [21, 41, 57, 68, 69, 77, 83].

Die adäquate initiale Behandlung polytraumatisierter Patienten erfordert eine rasche und systematische Bestandsaufnahme des Verletzungsmusters und die vordringliche Therapie der akut lebensbedrohlichen Verletzungen [13, 74, 83]. Da hierbei der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist, wurden in den letzten Jahren validierte Konzepte und Algorithmen zur initialen Diagnostik und Erstbehandlung polytraumatisierter Patienten etabliert. Die aktuellen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) für das Polytraumamanagement wurden kürzlich in einer umfassenden übersichtsarbeit publiziert [76]. Das Advanced-Trauma-Life-Support- (ATLS-)Konzept des American College of Surgeons‘ Committee on Trauma (ACS-COT) als Standardprozedur für die frühe Phase der Abklärung und Therapie schwerverletzter Patienten ist inzwischen in über 30 Ländern etabliert und wurde 2003 durch die DGU auch in Deutschland offiziell eingeführt [1, 8, 13, 39, 65, 71, 86].

Basierend auf dem Prinzip der „golden hour of shock“ werden gemäß den ATLS-Richtlinien diejenigen Verletzungsmuster, die unbehandelt innerhalb der ersten Minuten bis zu wenigen Stunden nach Trauma letal verlaufen würden, gemäß standardisierten diagnostischen Algorithmen und validierten Behandlungskonzepten versorgt [1, 13, 71]. Bei Patienten mit nichtpenetrierenden Verletzungen kann hierbei die frühe Phase der „golden hour“ über die ersten 60 Minuten hinaus auf die ersten Stunden nach dem Trauma ausgedehnt werden [53].

Die weitere Behandlung erfolgt in zeitlich abgestimmten Phasen, die den maßgebenden Verletzungskomponenten sowie dem Gesamtverletzungsmuster und dem Ansprechen der Patienten auf die initiale Therapie angepasst werden [1, 13, 71].

Über das ATLS-Protokoll hinaus bietet der Kurs des „Definitive Surgical Trauma Care“ (DSTC) der International Association for the Surgery of Trauma and Surgical Intensive Care ein international standardisiertes Konzept zur Notfallbehandlung schwerverletzter Patienten mit stumpfen oder penetrierenden Verletzungen [14].

Bei schwerstverletzten Patienten, die sich trotz adäquater Notfallbehandlung der akut lebensbedrohlichen Verletzungen weiterhin in einem labilen physiologischen Gleichgewicht befinden, muss auf langdauernde und belastende chirurgische Interventionen im Rahmen der Primärversorgung verzichtet werden und eine frühzeitige Verlegung auf die Intensivpflegestation zur Stabilisierung der Organfunktionen angestrebt werden [47, 61, 62, 68, 69].

Dieses sog. „Damage control“-Konzept (Schadensbegrenzung) wurde im letzten Jahrzehnt etabliert und basiert auf der Beobachtung, dass die posttraumatische Sterblichkeit bei Vorliegen einer persistierenden metabolischer Azidose, Hypothermie und Koagulopathie (sog. „letale Trias“, Abb. 1) signifikant erhöht ist und durch langwierige chirurgische Eingriffe weiter gesteigert wird [38, 47, 61, 62, 68, 69].

Abb. 1
figure 1

Die „letale Trias“ in der Pathophysiologie polytraumatisierter Patienten als Grundlage für die Rationale der „Damage control“ [62]

Bei diesen Patienten ist das höchste primäre Ziel das Überleben durch eine Vermeidung der „letalen Trias“ [47, 61, 62]. Aus diesem Grund müssen Polytraumapatienten in extremis nach Stabilisierung der Vitalfunktionen zu einem raschestmöglichen Zeitpunkt auf die Intensivpflegestation zur Wiederherstellung der physiologischen Parameter (Normotension, Normoxämie, Normothermie, normale Koagulation, Reversion der Laktatazidose, suffiziente Diurese) verlegt werden [38, 47, 61, 62, 68, 69, 83].

Das gängige Verständnis des „Damage control“-Konzepts umfasst 4 zeitlich gestaffelte Phasen für Primärdiagnostik und Akutmanagement schwerstverletzter Patienten [35, 68, 83]:

  • Lebensrettende Sofortmaßnahmen mit früher Sichtung derjenigen Patienten, die einer „Damage control“-Prozedur bedürfen (sog. „ground zero recognition phase“)

  • Notoperationen zur chirurgischen Blutungskontrolle (sog. „OR phase“)

  • Intensivmedizinisches Management zur Wiederherstellung der physiologischen und immunologischen Basisfunktionen (sog. „ICU phase“)

  • Geplante chirurgische Folgeeingriffe (sog. „reconstructive phase“)

In dieser Übersichtsarbeit sollen nachfolgend die Prinzipien der Schockraumdiagnostik und Primärversorgung schwerverletzter Patienten anhand der etablierten systematischen Konzepte und Algorithmen dargestellt werden.

Schockraummanagement

Nach Eintreffen im Schockraum ist das primäre Ziel der Polytraumaversorgung das Überleben schwerverletzter Patienten. Hierfür ist eine strikte Abstimmung der zeitlichen Abläufe und Prioritäten anhand definierter Algorithmen obligat [1, 13, 19, 27, 38, 41, 68, 76, 83]. Das von uns propagierte Schockraummanagement schwerverletzter Patienten umfasst die folgenden zeitlich gestaffelten Versorgungsphasen (Abb. 2):

Abb. 2
figure 2

Vorschlag eines Algorithmus für das initiale Management polytraumatisierter Patienten unter Einbezug der Protokolle von ATLS und „Damage control“

  • Initiale Bestandesaufnahme, Basisdiagnostik und Sicherstellung der Vitalfunktionen entsprechend dem A-B-C-Algorithmus des ATLS-Protokolls („Primary survey“)

  • „Damage control“-Prozedur bei schwerstverletzten Patienten, die auf die initialen Maßnahmen der Schockbehandlung nicht ansprechen: chirurgische Blutungskontrolle und Dekompression von Körperhöhlen („life-saving surgery“)

  • Zweitsichtung mit klinischer Kopf-bis-Fuß-Untersuchung und erweiterter Diagnostik (Spiral-CT, Angiographie, konventionelle Rx etc.) bei hämodynamisch stabilen Patienten („Secondary survey“)

  • Verzögerte Primäreingriffe: Dekontamination, chirurgische Exploration und Versorgung von nicht akut lebensbedrohlichen Verletzungen, temporäre Frakturfixation („delayed primary surgery“)

Lebensrettende Noteingriffe und „Damage Control“

Im Rahmen der initialen Bestandesaufnahme („Primary survey“) erfolgt eine blitzschnelle, standardisierte Beurteilung der Vitalfunktionen mit unverzüglicher Behebung der akut vitalen Bedrohungen anhand des „A-B-C-D-E“-Algorithmus im ATLS-Protokoll [1, 13, 71] (Tabelle 1):

Tabelle 1 “Primary survey“ mit A-B-C-D-E-Algorithmus zur Beurteilung und Sicherstellung der Vitalfunktionen, entsprechend dem ATLS-Protokoll [1]
A::

„Airway maintenance with cervical spine protection“

(Sicherung der Atemwege unter Schutz der HWS)

B::

„Breathing and ventilation“

:

(Sicherstellen einer adäquaten Ventilation)

C::

„Circulation with hemorrhage control“

(Schockbehandlung, Blutungskontrolle)

D::

„Disability — brief neurological evaluation“

(kursorischer Neurostatus, GCS)

E::

„Exposure with environmental control“

(komplette Entkleidung unter Hypothermieschutz)

Mit Hilfe dieses Leitfadens werden im „Primary survey“ die potenziell lebensbedrohlichen Verletzungen bei Polytraumapatienten erkannt und unverzüglich behoben. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei eine engmaschig wiederholte Erhebung der Vitalparameter nach dem A-B-C-Schema, um einerseits den Effekt der getroffenen Maßnahmen zu überprüfen und andererseits eine akute Verschlechterung im weiteren Verlauf nicht zu verpassen (sog. „re-assessment“; Abb. 2) [1].

Der entscheidende Faktor des erfolgreichen Managements schwerstverletzter Patienten liegt in einer klar definierten Priorität von „Damage control“-Maßnahmen gegenüber allen anderen potenziell zeitraubenden diagnostischen und therapeutischen Prozeduren.

A — „Airway maintenance with cervical spine protection“ (Sicherung der Atemwege unter Schutz der HWS)

Die höchste Priorität bei der Behandlung von Polytraumapatienten hat die unverzügliche Sicherung der Atemwege, ggf. durch endotracheale Intubation oder Notkoniotomie [1]. Die korrekte Tubuslage wird mittels Auskultation, Karboxymetrie und Thoraxröntgen verifiziert. Alle Patienten erhalten zusätzlich Sauerstoff, entweder über eine Gesichtsmaske (4–10 l/min) bei wachen und nichtintubierten Patienten, oder mit 50–100% FIO2 nach Intubation. Sämtliche notwendigen Manöver zur Sicherung der Atemwege müssen unter strikter Einhaltung der HWS-Protektion durchgeführt werden, zumal bei Polytraumapatienten a priori von einer HWS-Verletzung ausgegangen werden muss, bis zum radiologisch gesicherten Ausschluss [1].

Die Bedeutung der exogenen O2-Zufuhr für Polytraumapatienten wird pathophysiologisch erklärt anhand der „Nunn-Freeman-Formel“ von 1964 [51]:

O2av = CO × SaO× Hb × 1,34

Diese Formel besagt, dass der dem Gewebe zur Verfügung stehende Sauerstoff („available O 2 “; O2av) das Produkt aus Herzminutenvolumen („cardiac output“; CO in ml/min), arterieller O2-Sättigung (SaO2“; in %), Hämoglobinkonzentration (Hb in g%) und O2-Bindungskapzität des Hämoglobins (1,34 ml/g als Konstante) darstellt.

Während unter physiologischen Bedingungen der O2-Bedarf entsprechend der Nunn-Freeman-Formel adäquat abgedeckt wird (z. B. mit 1000 ml/min bei CO von 5250 ml/min, SaO2 von 0,95% und Hb von 0,15 g%), sind beim Polytrauma in der Regel gleichzeitig mehrere der genannten Variablen kompromittiert, bedingt durch akuten Blutverlust (Hb), Lungenkontusionen (SaO2), und Myokardkontusionen oder Perikardtamponade (CO), was im Produkt schlussendlich zu einem signifikanten Sauerstoffdefizit führt (z. B. Reduktion auf 300 ml/min bei CO von 3500 ml/min, SaO2 von 0,64% und Hb von 0,10 g%) [73].

B — „Breathing and ventilation“ (Sicherstellen einer adäquaten Ventilation)

In zweiter Priorität zur Sicherung der Atemwege muss das Vorliegen eines Spannungspneumothorax klinisch ausgeschlossen werden [1]. Die klassischen Symptome umfassen die akute Dyspnoe bei ipsilateral abgeschwächtem Atemgeräusch und hypersonorem Klopfschall, fakultativ mit palpablem Hautemphysem und/oder gestauten Jugularvenen. Das klinische Zeichen der oberen Einflussstauung kann jedoch beim hämorrhagischen Schock durch die Hypovolämie und Zentralisation maskiert sein. Die arterielle Hypotension und/oder eine Trachealdeviation zur Gegenseite, die bei Inspektion der Halsregion erfasst werden kann, stellen Spätzeichen des Spannungspneumothorax dar.

Bedingt durch die akute Lebensbedrohung dieser Verletzung muss die akute Behandlung auf Basis einer rein klinischen Verdachtsdiagnose ohne weiterführende bildgebende Untersuchungen erfolgen. Die Therapie besteht in einer unverzüglichen Entlastung durch Punktion des zweiten ICR in Medioklavikularlinie mit einer großlumigen Braunüle [1]. Dieses Manöver verwandelt den Spannungspneumothorax in einen simplen Pneumothorax ohne Druckkomponente. Anschließend muss unverzüglich die offene Einlage einer Bülau-Drainage über eine Minithorakotomie erfolgen.

Die häufigste Ursache des Spannungspneumothorax stellt die mechanische Ventilation nach endotrachealer Intubation bei Patienten mit Thoraxtrauma und Verletzungen der viszeralen Pleura dar. Aus diesem Grund ist bei intubierten und mechanisch ventilierten Polytraumapatienten mit Rippenfrakturen die „prophylaktische“ Einlage einer Bülau-Drainage zur Vermeidung eines späteren Spannungspneumothorax zwingend [1].

Der traumatische Hämatothorax bzw. Hämatopneumothorax wird analog durch unverzügliche Einlage einer Bülau-Drainage über eine Minithorakotomie drainiert. Der größte Teil aller stumpfen Thoraxverletzungen kann mit diesem raschen und simplen Manöver definitiv behandelt werden [1, 42, 85].

Die Indikation für eine Notthorakotomie wird beim Thoraxtrauma vordergründig durch einen massiven Hämatothorax mit kontinuierlicher Blutung über die Bülau-Drainagen oder durch eine Perikardtamponade gestellt, wobei beide Entitäten in der Regel eine Folge penetrierender Verletzungen darstellen [1, 5, 14, 33, 42, 85].

C — „Circulation with hemorrhage control“ (Schockbehandlung, Blutungskontrolle)

In dritter Priorität müssen äußere und innere Blutungen erkannt und kontrolliert werden, ggf. durch chirurgische Maßnahmen. Für die korrekte Einschätzung des Gesamtblutverlustes ist es entscheidend zu wissen, dass der Blutdruck trotz kritischem hypovolämischem Schockzustand für eine beschränkte Zeit noch normal sein kann, bedingt durch die individuellen kompensatorischen Regulationsmechanismen, die v. a. bei jungen Patienten und bei Sportlern ausgeprägt sind.

So kann beispielsweise der systolische Blutdruck bei akutem Blutverlust von bis zu 30% des zirkulierenden Volumens (äquivalent zu 1,5 l bei 70 kgKG) durch eine kompensatorische Erhöhung des peripheren Widerstands noch im normalen Bereich gehalten werden, wodurch der akute Schockzustand augenscheinlich maskiert bleibt [1]. Hierbei sinkt jedoch das Herzminutenvolumen bereits auf die Hälfte des Normwertes ab, was zu einer kritisch verminderten Organperfusion, anärober Stoffwechsellage und metabolischer Azidose mit erhöhtem Serumlaktat und Anstieg des Laktat-Pyruvat-Quotienten im Serum führt [26].

Aus diesem Grund muss während dem „Primary survey“ die kritische Frage: „Ist der Patient im Schock?“ unverzüglich durch klinische Zeichen der kompromittierten Organperfusion geklärt werden [1]. Durch die sog. „drei Fenster zur Mikrozirkulation“ lassen sich die Symptome einer inadäquaten Organperfusion indirekt klinisch beurteilen:

  • Mentaler Status und Bewusstsein (zerebrale Perfusion): Agitiertheit, Verwirrtheit, Somnolenz oder Lethargie

  • Periphere Durchblutung: kaltschweißige und blasse Extremitäten, verzögerte Kapillarfüllung, Tachykardie

  • Renale Perfusion: Oligurie (<0, 5 ml/kgKG/h) oder Anurie.

Diese klinischen Zeichen helfen in der frühen Phase zu beurteilen, ob ein Polytraumapatient tatsächlich „hämodynamisch normal“ ist oder nur augenscheinlich „hämodynamisch stabil“, mit dem imminenten Risiko einer akuten Verschlechterung im Verlauf (sog. „transient responders“ und „non-responders“) [1].

Neben den klinischen Schockzeichen hilft die arterielle Blutgasanalyse (aBGA) im Schockraum zur Beurteilung des Schweregrades eines traumatisch-hämorrhagischen Schocks. Klinische Studien konnten diesbezüglich den Nachweis erbringen, dass die Laktatwerte und das Basendefizit in der aBGA hochsensitive Parameter zur Erkennung eines maskierten Schockzustands (sog. „hidden shock“) beim Polytrauma darstellen [3, 16, 17, 26]. Hierbei ist ein Basendefizit unter -6 mEq/l in der initialen aBGA mit einer signifikant erhöhten posttraumatischen Komplikationsrate und Letalität assoziiert [16, 17]. Bei einem Wert <−10 mEq/l besteht eine hohe Letalität nach Polytrauma von 40–70% [16, 17].

Im Gegensatz dazu liegt die Sterblichkeit von Polytraumapatienten mit einem initial normalen Basendefizit oder Basenexzess (+2 bis −2 mEq/l) bei einer niedrigen Rate von etwa 6% [16, 17]. Der Laktatwert stellt neben dem Basendefizit ebenfalls einen hochsensitiven Parameter dar, der den tatsächlichen Schweregrad eines traumatisch-hämorrhagischen Schocks reflektiert [3]. Klinische Studien konnten nachweisen, dass die Zeit ab Beginn der Schockbehandlung bis zur Normalisierung des Laktatwertes unterhalb des Normwerts von 2 mmol/l signifikant mit der Prognose quo ad vitam korreliert [3].

Während Polytraumapatienten mit einer therapierefraktären Laktatazidose (>2 mmol/l) für mehr als 48 h nach Unfall eine hohe Letalität von bis zu 85% aufweisen, haben Patienten, deren Laktatwerte sich innerhalb von 24 h normalisieren, eine niedrige Sterblichkeit um 1% [3].

Parallel zur aggressiven Schockbehandlung mit Volumensubstitution müssen bei Polytraumapatienten mit hämorrhagischem Schock bzw. mit vermutetem „hidden shock“ die Hauptblutungsquellen anhand standardisierter Protokolle während des ersten Untersuchungsgangs eruiert werden. Die primären diagnostischen Schritte umfassen eine fokussierte Abdomensonographie zum Ausschluss einer intraperitonealen Blutung inklusive der kursorischen Sonographie des Brustkorbs zum Ausschluss von Hämatothorax oder Hämatoperikard (sog. „focused assessment sonography for trauma“; FAST) [1]. Übersichtsaufnahmen von Thorax und Becken gehören weiterhin zum „golden standard“ der primären Diagnostik schwerverletzter Patienten [1].

Die weiteren Algorithmen zur Erfassung von intrathorakalen, intraabdominellen oder retroperitonealen Massenblutungen im Rahmen von schweren Beckenringzerreißungen werden im Kapitel zur „Damage control“ erläutert (s. unten). Zur Klarstellung ist wichtig zu betonen, dass die „Damage control“ kein integrales Konzept des ursprünglichen ATLS-Protokolls darstellt [1].

D — „Disability“ (kursorischer Neurostatus, GCS)

Nach Sicherung der Vitalfunktionen wird eine kursorischer neurologischer Status zur Beurteilung des Bewusstseinszustands (Glasgow-Coma-Scale; GCS) und der Pupillensymmetrie und Lichtreaktion durchgeführt [1, 29]. Ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) muss so früh wie möglich erkannt werden, um der verzögerten Entwicklung eines Hirnödems und sog. „sekundärer Hirnschäden“ präventiv entgegenzuwirken und adäquate Maßnahmen zur zerebralen Protektion zu treffen [15]. Die posttraumatische Hypoxämie und Hypotension stellen die entscheidenden Parameter für eine sekundäre Verschlechterung nach schwerem SHT dar, bedingt durch die zerebrale Hypoperfusion und die resultierende Entzündungsreaktion, die zur Entwicklung des posttraumatischen Hirnödems signifikant beiträgt [50, 66].

Aus diesem Grund ist die frühe Wiederherstellung der „A-B-C“ Parameter die wichtigste Grundlage zur Verhinderung sekundärer Hirnschäden nach SHT [15]. Der Schweregrad des SHT wird mittels GCS als mild (GCS 14–15), mittelschwer (GCS 9–13) und schwer (GCS 3–8) klassifiziert. Die endotracheale Intubation ist indiziert bei einem GCS ≤8, zumal diese Patienten per definitionem als komatös gelten [1]. Patienten mit einem GCS ≤13 müssen in ein Traumazentrum mit neurochirurgischen Kapazitäten verlegt werden. Bei diesen Patienten ist ein natives CT des Neurokraniums obligat, zumal die Wahrscheinlichkeit einer intrakraniellen Blutung oder Nachblutung signifikant erhöht ist gegenüber Patienten mit mildem SHT (GCS 14 oder 15) [1, 24].

E — „Exposure with environmental control“ (Komplette Entkleidung unter Hypothermieschutz)

Jeder Polytraumapatient muss durch komplettes Entkleiden am gesamten Körper inklusive der Rückseite untersucht werden, damit keine äußeren Verletzungen übersehen werden [1]. Da der Patient hierbei rasch auskühlt, muss die Untersuchung unter strikter Protektion vor einer Hypothermie erfolgen. Dies wird erreicht durch Verwendung von Wärmelampen, mittels vorgewärmter Infusionen und Transfusionen und durch Abdecken mit vorgewärmten Decken bzw. mit einer Wärmedecke. Ein sog. Log-roll-Manöver durch achsengerechtes Drehen ist obligatorisch zur Inspektion des Rückens auf mögliche okkulte Verletzungen.

Eine wiederholte Evaluation der Vitalparameter (sog. „re-assessment“; Abb. 2) während der gesamten Phase des Schockraummanagements ist von entscheidender Bedeutung, um sowohl eine akute Verschlechterung im Verlauf, als auch das Ansprechen auf die durchgeführten Maßnahmen zu evaluieren [1].

Das „Damage control“-Konzept

Seit der Erstbeschreibung des Konzepts einer abgekürzten Laparotomie mit intraabdomineller Tamponade (sog. „Packing“) bei Patienten mit schwerem hämorrhagischem Schock durch Massenblutungen vor mehr als 2 Jahrzehnten [75] hat diese sog. „Damage control“-Vorgehensweise eine weltweite Verbreitung in allen chirurgischen Disziplinen erfahren [68]. Die Rationale hinter dem Konzept der Verkürzung chirurgischer Prozeduren auf reine akut-lebensrettende Aspekte liegt in dem Ziel, den schwerstverletzten Patienten zu einem frühest möglichen Zeitpunkt zur Wiederherstellung der physiologischen Parameter (sog. „endpoints of resuscitation“) und zur Vermeidung der „letalen Trias“ (Abb. 1) auf die Intensivpflegestation zu verlegen [38, 83].

Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Gesamtprognose in Bezug auf das Überleben von Patienten mit schwerem traumatisch-hämorrhagischem Schock in extremis zu verbessern [47, 57] (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Fallbeispiel von akuter „Damage control surgery“: 21-jährige Patientin mit Dezelerationstrauma nach Frontalkollision als Motorradfahrerin. Bei Aufnahme im Schockraum bestand ein schwerster hämorrhagischer Schock mit ultrasonographischem Nachweis von massiver freier Flüssigkeit in der Bauchhöhle infolge einer zentralen Leberruptur. Die Patientin wies weiterhin ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit initialem GCS von 3 Punkten sowie multiple Frakturen der langen Röhrenknochen auf. Der „Injury Severity Score“ (ISS) betrug 50 Punkte (a). Das unverzügliche Management bestand aus einer Crashlaparotomie, einem Pringle-Manöver zur temporären Blutungskontrolle und dem „Packing“ aller 4 Quadranten der Bauchhöhle (b) sowie einer temporären externen Frakturfixation der langen Röhrenknochen. Die Bauchwand wurde zur Vermeidung eines abdominellen Kompartmentsyndroms primär nicht verschlossen, sondern als provisorisches Laparostoma mit einer Netzplastik gedeckt (c). Die postoperativ durchgeführte CT (d) zeigt das „Packing“ der Leber bei zentraler Lazeration (Pfeil). Die weiteren Folgeeingriffe wurden innerhalb von 24–48 h („Second look“, Tamponadenwechsel, sekundärer Bauchwandverschluss) sowie im zeitgünstigen Fenster zwischen dem 5. und 10. Tag (Verfahrenswechsel von externer Frakturfixation auf definitive Osteosynthese) durchgeführt

Die „letale Trias“ Hypothermie, Koagulopathie und Azidose (Abb. 1) stellt einen der wesentlichsten Risikofaktoren für Polytraumapatienten dar, an ihrer Verletzung zu versterben [55, 61, 62]. Aus diesem Grund kann die initiale Fehleinschätzung, bzw. Unterschätzung des echten Ausmaßes des traumatisch-hämorrhagischen Schocks („hidden shock“) und der physiologischen Reserven fatal sein, zumal die Durchführung unnötiger und verlängerter diagnostischer und therapeutischer Prozeduren signifikant zur letalen Trias beiträgt und dadurch die posttraumatischen Sterblichkeit erhöht [38, 47, 55, 61, 62, 68].

Basierend auf dieser Erkenntnis ist man in den letzten Jahren zunehmend vom „klassischen“ Konzept der primären definitiven Frakturversorgung bei schwerverletzten Patienten (sog. „early total care“) abgekommen zugunsten des vereinfachten Vorgehens im Sinne einer „damage control orthopedic surgery“ (DCO), was insgesamt zu einer höheren Überlebensrate dieser Patienten geführt hat [20, 21, 25, 55, 56, 64, 80].

Entsprechend dem DCO-Konzept haben lebensrettende Maßnahmen die allerhöchste Priorität, während andere chirurgische Eingriffe, wie z. B. die definitive Frakturfixation, prioritär zurückgestellt werden müssen [38, 55, 64, 83]. Die zwei eigentlichen Säulen der „Damage control“-Prozedur umfassen die akute Dekompression von Körperhöhlen und die chirurgische Kontrolle von Massenblutungen.

Dekompression von Körperhöhlen

Akut lebensbedrohliche Verletzungen mit pathologisch gesteigerten Druckverhältnissen in Körperhöhlen erfordern ein unverzügliches chirurgisches Management. Dies umfasst die notfallmäßige Drainage von Spannungspneumothorax und Hämatothorax, wie bereits anhand des ATLS-Protokolls beschrieben. Weiterhin muss der Verdacht einer Perikardtamponade unverzüglich durch subxyphoidale Punktion und/oder offene Dekompression über eine Notthorakotomie geklärt werden [1, 5, 33, 42, 85]. Pathologisch gesteigerte intrakranielle Druckverhältnisse, wie z. B. bei Vorliegen eines perakuten Epiduralhämatoms, erfordern ebenfalls eine unverzügliche chirurgische Entlastung durch Bohrlochtrepanation und/oder Kraniotomie [60]. Diese Eingriffe müssen wegen der immanenten Lebensbedrohung in erster Priorität durchgeführt werden.

Kontrolle von Massenblutungen

Das Vorliegen eines hämorrhagischen Schocks muss im „Primary survey“ erkannt und zeitgleich behandelt werden. Das grundlegende Behandlungsprinzip ist es, die Blutung zu stoppen und den Volumenverlust zu substituieren. Hierbei muss die Schocktherapie entsprechend der „3:1-Regel“ erfolgen, d. h. 1 Einheit Blutverlust muss durch 3 Einheiten Volumen ersetzt werden, um dem Flüssigkeitsverlust in das 3. Kompartment Rechnung zu tragen [1]. Zur Illustration: z. B. eine Femurschaftfraktur mit geschätztem Blutverlust von 1500 ml muss durch 4,5 l Volumen substituiert werden, um eine adäquate Restitution der Flüssigkeitsbilanz zu erreichen.

In dieser ersten Phase der Schockbehandlung muss bereits abgeschätzt werden, ob der Patient ein Kandidat für eine chirurgische Blutungskontrolle darstellt. Während signifikante äußere Blutungen durch Kompressionsverbände im Schockraum temporär gestillt werden können, stellen die inneren Blutungen im Thorax, Abdomen und Retroperitoneum die wichtigste Lebensbedrohung schwerverletzter Patienten dar.

Die wichtigsten inneren Blutungsursachen, die eine chirurgische Blutstillung erfordern, sind:

  • Massiver Hämatothorax: Initiales Management durch offene Einlage einer Bülau-Drainage über eine Minithorakotomie. Eine Notthorakotomie ist indiziert in Fällen von penetrierenden Verletzungen und/oder beim stumpfen Thoraxtrauma mit massiver Blutung über die Drainage (>1500 ml akut oder kontinuierliche Blutung >400 ml/h über 2 Stunden oder >200 ml/h über 5 Stunden) [1, 5, 33, 42, 85].

  • Intraabdominelle Massenblutung: Indikationen für eine unverzügliche Laparotomie umfassen hämodynamisch instabile Patienten mit stumpfem Bauchtrauma und positivem Ultraschall (FAST) sowie Patienten mit penetrierenden abdominellen Verletzungen [1]. Schwerstverletzte Patienten in extremis haben eine signifikant verbesserte Überlebenschance, wenn die Laparotomie abgekürzt wird und die definitive Versorgung von Hohlorganverletzungen zweizeitig erfolgt. Hierfür hat sich das Konzept der Crashlaparotomie mit Tamponade („Packing“) und temporärem Laparostoma durch Offenbelassen der Bauchwand und provisorischer Deckung (z. B. Ethizip, künstliches Netz oder „Bogota-bag“) durchgesetzt [14, 32, 47, 61, 62, 78]. Die definitive chirurgische Versorgung und der sekundäre Bauchdeckenverschluss erfolgt innerhalb von 24–48 h nach Stabilisierung der Vitalfunktionen auf der Intensivstation.

  • Beckenringzerreißung mit massiver retroperitonealer Blutung: Instabile Beckenverletzungen mit Zerreißung des hinteren Beckenrings gehen mit einer retroperitonealen Massenblutung von bis zu 5 l aus den venösen präsakralen und paravesikalen Plexus und aus den spongiösen Frakturzonen einher [72]. Patienten mit Zerreißung des hinteren Beckenrings haben deshalb ein hohes Risiko, akut zu verbluten. Die unverzügliche Therapie im Schockraum besteht in einer geschlossenen Reposition des Beckenrings und externen Fixation mit einer Beckenzwinge (für den hinteren Beckenring) und/oder einem Fixateur externe (für den vorderen Beckenring) [20, 21, 25, 72, 81].

    Wenn durch diese Maßnahmen — in Kombination mit einer aggressiven Schockbehandlung — keine hämodynamische Stabilität erreicht werden kann, muss zur weiteren Blutungskontrolle eine explorative Laparotomie mit Tamponade des kleinen Beckens und des Retroperitoneums („pelvic packing“) durchgeführt werden [20, 21, 25, 72, 81]. Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass >80% aller Patienten mit Beckenringverletzungen, deren hämorrhagischer Schock auf eine retroperitoneale Blutung zurückzuführen ist, sog. „non-responders“ sind [48]. Dies impliziert, dass diese Patienten ohne unverzügliche chirurgische Therapie verbluten würden. Dies reflektiert sich in der weiterhin hohen Letalität von 50%–60% bei dieser Patientengruppe [18, 20, 48].

    Interventionelle Maßnahmen wie Angiographie und Embolisation sind in der Akutphase als obsolet zu betrachten, zumal signifikante arterielle Blutungen in weniger als 10% aller Fälle vorliegen und eine erfolgreiche Embolisation in weniger als 2% durchgeführt werden kann [4, 48]. Die Angiographie weist beim Polytrauma außerdem erhebliche Nachteile auf, bedingt durch die Notwendigkeit des Transports hämodynamisch instabiler Patienten und des erheblichen Zeitaufwands von durchschnittlich 2,5 h, was deutlich außerhalb der „golden hour“ des Traumas liegt [4, 48].

    Entsprechend dem ATLS-Algorithmus dürfen weiterführende diagnostische Untersuchungen, wie die CT oder die Angiographie, nur im Rahmen des zweiten Untersuchungsgangs („Secondary survey“) durchgeführt werden, weshalb die angiographische Embolisation zur akuten Blutungskontrolle in der Frühphase nach ATLS-Richtlinien nicht in Frage kommt [1].

    Das propagierte „Damage control“-Vorgehen bei Beckenringzerreißungen mit hämodynamischer Instabilität besteht aus einer unverzüglichen geschlossenen Reposition und externen Fixation des Beckenrings, explorativer Laparotomie, „pelvic packing“ und provisorischem Bauchdeckenverschluss mit einem chirurgischen Reißverschluss (Ethizip) im Sinne eines temporären Laparostomas [20, 21, 25, 72, 81].

    Die institutionalisierte Anwendung dieser therapeutischen Modalität hat in den letzten Jahren dazu verholfen, die hohe Letalität dieser Patienten von 50–60% [18] auf 20–25% zu reduzieren [21, 25].

    Tamponadenwechsel und sekundärer Bauchdeckenverschluss erfolgen in der Regel im Intervall von 24–48 h, während die definitive osteosynthetische Versorgung des Beckenrings im physiologisch günstigen Zeitfenster zwischen dem 5. bis zum 10. Tag nach dem Trauma erfolgen sollte (sog. „time window of opportunity“; Tabelle 2).

  • Intrakranielle Blutung: Neben der akuten arteriellen Blutung beim Epiduralhämatom (s. oben) stellen die venösen Sinus eine wesentliche intrakranielle Blutungsquelle dar, die eine unverzügliche chirurgische Intervention mittels Trepanation und/oder Kraniotomie erforderlich machen [60].

  • Pentrierende und stumpfe Gefäßverletzungen, „mangled extremity“: Arterielle Verletzungen mit klinischen Ischämiezeichen infolge penetrierender oder stumpfer Traumen erfordern ein unverzügliches chirurgisches Management ohne weitere Diagnostik [2, 49, 63]. Der Mangled-Extremity-Severity-Score (MESS) wurde als Leitlinie zur klinischen Entscheidungsfindung etabliert, ob eine schwerverletzte Extremität mit arterieller Gefäßdurchtrennung erhalten werden kann/soll gegenüber der Option einer frühen Amputation, wobei der „Cut-off“ zugunsten der Amputation bei einem MESS ≥7 Punkten liegt [11, 12, 30, 34, 79]. Selbstverständlich gilt beim Polytraumapatienten die Prämisse „life before limb“, weshalb eine schwerstverletzte Extremität, die beim Monotrauma unter Umständen durch aufwendige rekonstruktive Maßnahmen gerettet werden könnte, beim Polytraumatisierten zur Erhaltung des Lebens möglicherweise amputiert werden muss.

„Secondary Survey“

Die Phase des zweiten Untersuchungsganges beginnt erst, wenn die Vitalfunktionen im Rahmen des „A-B-C-D-E“-Algorithmus sichergestellt worden sind, weshalb der „Secondary survey“ ausschließlich bei hämodynamisch stabilen Patienten durchgeführt werden soll [1, 13, 71] (Abb. 2). Dieser zweite Untersuchungsgang umfasst eine extensive Anamnese hinsichtlich der Vorerkrankungen und dem Mechanismus und den Begleitumständen des Unfalls. Weiterhin erfolgt im „Secondary survey“ eine eingehende Kopf-bis-Fuß-Untersuchung inklusive eines kompletten neurologischen Status [1]. Zu den diagnostischen Zusatzuntersuchungen gehört in dieser Phase die CT — idealerweise als „Polytraumaspirale“ im Mehrzeiler — die derzeit als schneller und hochsensitiver Standard der Polytraumadiagnostik beim hämodynamisch stabilen Patienten gilt [6, 36, 44]. So hat sich die Spiral-CT inzwischen als diagnostisches Mittel der Wahl zum Ausschluss einer traumatischen Aortenruptur etabliert und hat dadurch die konventionelle Aortographie in ihrer Bedeutung als „golden standard“ weitgehend verdrängt [6, 36, 44, 46, 67, 82].

Die Indikation für eine transösophageale Echokardiographie wird in der Regel zur sekundären Klärung missverständlicher — zumeist falsch-positiver — Befunde in der Spiral-CT empfohlen [6, 82]. Konventionelle Röntgenbilder der Extremitäten und eine komplette Serie des Achsenskeletts werden im „Secondary survey“ in Abhängigkeit des individuellen Verletzungsmusters gezielt durchgeführt [1].

Verzögerte Primäreingriffe: „Day-1-surgery“

Chirurgische Interventionen, die nicht unverzüglich im Sinne von lebensrettenden Soforteingriffen notwendig sind, werden im Anschluss an die komplettierte Primärdiagnostik nach dem „Secondary survey“ durchgeführt. Hierbei impliziert der Terminus „verzögert“, dass diese Eingriffe erst nach Sicherstellung der Vitalfunktionen durchgeführt werden, jedoch sicher innerhalb des 1. Tages (sog. „Day-1-surgery“). Diese chirurgischen Interventionen haben zum Ziel, den sog. „Antigenic load“ zu senken, verletzte Extremitäten und Gelenke zu retten, das Rückenmark vor einer drohenden oder bestehenden Kompression zu entlasten und die therapeutischen Modalitäten auf der Intensivstation zu unterstützen [38, 40, 57, 77, 83].

Die chirurgischen Maßnahmen im Rahmen der „Day-1-surgery“ umfassen:

  • Dekompression von unter Druck stehenden Kompartimenten im Rahmen von nicht akutlebensbedrohlichen Zuständen: instabile Wirbelsäulenverletzungen mit manifester oder drohender Spinalkanalstenose, subdurale Hämatome und Kompartmentsyndrom der Extremitäten

  • Laparotomie zur Versorgung von Hohlorganverletzungen

  • Revaskularisierung bei Gefäßverletzungen

  • Stabilisierung instabiler Wirbelkörperfrakturen mit dorsalem Fixateur interne

  • Externe Frakturfixation der langen Röhrenknochen

  • Débridement von kontaminiertem und nekrotischem Gewebe und von offenen Frakturen und Gelenksverletzungen

Diese operativen Maßnahmen sollten zeitlich so kurz wie möglich gehalten werden, um einen iatrogenen „Second hit“ [10, 38] zu vermeiden, der in der Summe der Belastungsreaktion zur schlechten Prognose nach Polytrauma beiträgt, insbesondere bei Vorliegen eines schweren SHT [43, 55, 60, 70, 80].

Intensivphase und geplante Sekundäreingriffe

Im Anschluss an die operative Versorgung erfolgt die Verlegung auf die Intensivstation unter Vorgabe der folgenden Zielgrößen zur Stabilisierung der physiologischen Systeme und Organfunktionen (sog. „end points of resuscitation“) [38, 57, 77, 83]:

  • Stabile Hämodynamik ohne vasoaktive oder inotrope Unterstützung

  • Keine Hypoxämie, keine Hyperkapnie

  • Serum-Laktat <2 mmol/l

  • Normale Gerinnung

  • Normothermie

  • Diurese >1 ml/kg KG/h

Die pathophysiologische Phase der Hyperinflammation im Zeitraum zwischen dem 2.–4. Tag nach Trauma (Tabelle 2) stellt eine hochvulnerable und labile Zeit dar, in der sich die körpereigenen Defensivsysteme erholen und daher eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber eines „Second hit“ besteht [10, 38, 73, 83]. Die Durchführung zeitraubender und blutreicher Operationen ist während dieser Phase deshalb verboten, da die operative Zusatzbelastung zum postoperativen Multiorganversagen und zur Entwicklung von sekundären Hirnschäden beitragen kann [10, 38, 66, 73, 83].

Tabelle 2 Zeitpunkt und Prioritäten der operativen Versorgungsphasen beim Polytrauma in Abhängigkeit des physiologischen Status [83]

Aus diesem Grund sind während dem 2.–4. Tag nach Trauma nur strikt notwendige, schonende und kurze Interventionen erlaubt, wie z. B. sterile Verbandwechsel, sog. „Second looks“ mit Nachdébridement von nekrotischem und kontaminiertem Gewebe, Epigardwechsel, Tamponadenwechsel und Sekundärnähte [54, 83]. Diese Eingriffe sind nötig, um den Gesamtstress auf den Organismus zu reduzieren, zumal kontaminiertes nekrotisches Gewebe sich zu einem eigentlichen „inflammatorischen Organ“ entwickeln kann, wodurch der „Antigenic load“ die Defensivsysteme weiter schwächt und zu infektiösen Komplikationen bis hin zum septischen Multiorganversagen beitragen kann [22, 23, 38, 73].

Der 5.–10. Tag nach Trauma stellt für geplante Folgeeingriffe und Verfahrenswechsel bei polytraumatisierten Patienten ein sog. „time window of opportunity“ dar, zumal die anschließende Phase der Immunsuppression keine ausgedehnten Operationen zwischen der 2.–3. Woche zulässt [38, 73, 83] (Tabelle 2).

Während dieser physiologisch günstigen Phase werden größere geplante Eingriffe wie frühe operative Verfahrenswechsel von externer auf interne Fixation von Frakturen (Platten- oder Marknagelosteosynthesen), definitive Versorgung von Gelenksverletzungen, komplettierende ventrale Spondylodesen und plastische Weichteildeckungen bzw. sekundäre Wundverschlüsse durchgeführt [31, 43, 54, 55, 70, 80, 83].

Während der Phase der Immunosuppression (Tabelle 2) sollten keine chirurgischen Eingriffe durchgeführt werden, bedingt durch das immanent hohe Risiko für einen iatrogenen „Second hit“ mit konsekutiver Entwicklung des septischen Multiorganversagens [10, 38, 73, 83]. Erst im Anschluss an die dritte Woche nach Unfall sollte die Durchführung sekundärer rekonstruktiver Interventionen erwogen werden. Dazu gehören sekundäre autologe Spongiosaplastiken und größere orthopädische Rekonstruktionen mit dem Ziel eines optimalen funktionellen Langzeitresultates.

Verlegung zur definitiven Behandlung

Bereits während der präklinischen Phase muss der verletzte Patient adäquat triagiert und die Verlegung in eine passende Zielklinik entsprechend definierter und validierter Entscheidungsalgorithmen festgelegt werden („3R-Regel“ nach Trunkey; siehe oben) [84, 88]. Bei Unfallpatienten, welche primär in ein regionales Spital verlegt werden, stehen dem behandelnden Arzt während der ersten Beurteilungsphase („Primary survey“) in der Regel genügend Informationen zur Verfügung, um über die Notwendigkeit einer frühzeitigen Verlegung des Patienten in ein Traumazentrum zu entscheiden. Wichtig ist, dass die Zielklinik unverzüglich informiert und deren Aufnahmekapazität erfragt wird. Lebensrettende Maßnahmen werden entsprechend den zur Verfügung stehenden Mitteln nach dem ATLS-Konzept kontinuierlich fortgesetzt [1]. Im Gegensatz zu diesen lebensnotwendigen Maßnahmen sollen jedoch auf keinen Fall erweiterte diagnostische oder therapeutische Maßnahmen durchgeführt werden, die eine Verlegung des Patienten unnötig verzögern [1].

Im Rahmen der „golden hour“ nach Trauma kann jede zeitliche Verzögerung zu einer negativen Gesamtprognose des Patienten beitragen, weshalb unnötige diagnostische Untersuchungen, die in einer Klinik ohne Zentrumskompetenz einer entsprechenden therapeutischen Maßnahme entbehren (z. B. bei Durchführung eines Schädel-CT in einer Klinik ohne neurotraumatologische Kompetenz), strikt vermieden werden sollen [1]. Diese Vorgaben entsprechen dem klassischen Prinzip: „Primum nil nocere!“ und sollen dazu beitragen, die Gesamtletalität polytraumatisierter Patienten zu senken.

Fazit für die Praxis

Das komplexe Management von Polytraumapatienten kann durch die Implikation standardisierter Algorithmen wie dem ATLS-Protokoll im klinischen Alltag deutlich vereinfacht und optimiert werden. Neue Konzepte haben in den letzten Jahren den Nachweis erbracht, dass Polytraumapatienten in extremis mit schwerstem hämorrhagischen Schock eine signifikant verbesserte Prognose in Bezug auf das überleben aufweisen, wenn chirurgische Interventionen abgekürzt werden mit dem Ziel einer Verlegung auf die Intensivstation zum frühestmöglichen Zeitpunkt.

Diese Einsicht — die im Widerspruch zum „klassischen“ Konzept der primären definitiven Frakturversorgung (sog. „early total care“) steht — führte zur Einführung des „Damage control“-Konzepts als Rückzugslinie zur Schadensbegrenzung bei schwerstverletzten Patienten. Die Kinetik der physiologischen Reaktionen auf ein schweres Trauma muss bei der Bestimmung von Zeitpunkt und Priorität chirurgischer Interventionen berücksichtigt werden. So stellt das Zeitintervall zwischen dem 5. und 10. Tag ein zeitgünstiges physiologisches Fenster („time window of opportunity“) für geplante Folgeeingriffe und definitive operative Versorgungen dar.

Im Gegensatz dazu sind Polytraumapatienten während der Phase der Hyperinflammation (2.-4. Tag) und Immunsuppression (2.-3. Woche) hochgradig anfällig für einen iatrogenen „Second hit“ durch verlängerte und blutreiche operative Eingriffe, was in der Summe zur Entwicklung des posttraumatischen septischen Multiorganversagen beitragen kann. Diese „goldene Balance“ zwischen den absolut notwendigen primären und sekundären chirurgischen Interventionen und dem Verständnis der pathophysiologischen Reaktionen auf ein schweres Trauma soll dazu verhelfen, die Versorgungsstrategie polytraumatisierter Patienten mit dem Ziel zu verbessern, das Überleben zu sichern und ein möglichst optimales Langzeitresultat zu garantieren.