Zusammenfassung
Eine Steinbildung in den ableitenden Harnwegen ist immer Folge einer Übersättigung harnsteinbildener Substanzen und der damit verbundenen vermehrten Kristallisation. Neben den typischen Harnsteinen, bestehend aus Kalziumoxalat, anorganischen Phosphaten, Harnsäure oder Zystin, gibt es immer wieder Hinweise auf seltene Substanzklassen. Obwohl in der internationalen Literatur bereits >50 silikathaltige Steine dargestellt wurden, ist diese Steinentität weiterhin relativ unbekannt. Insbesondere das Auftreten von Silikatsteinen ohne den medikamentösen Abusus von Magnesiumtrisilikat stellt eine absolute Rarität dar.
Wir berichten von einem 54-jährigen Patienten, bei dem mittels Ureterorenoskopie ein mittlerer linksseitiger Harnleiterstein extrahiert wurde, der in der Röntgendiffraktion eindeutig als Mischstein mit einem 40%igen Silikatanteil identifiziert werden konnte. Aktuell ließ sich bei dem Patienten, der 1986 in der unmittelbaren Nähe des Kernkraftwerkunfalls von Tschernobyl lebte, keine kontinuierliche Aufnahme von Magnesiumtrisilikat feststellen. Vor 4 Monaten wurde bei ihm jedoch eine 2/3-Magenresektion aufgrund eines medikamentenrefraktären Ulcus ventriculi durchgeführt, welches seit Ende der 80er Jahre bestand und bis zur Magenoperation mit einem magnesiumtrisilikathaltigen Antazidum in unkontrollierter Überdosierung therapiert wurde. Weiterhin besteht seit 1986 eine instabile Angina pectoris, die seit 17 Jahren mit Pentalong® (Pentaerythrityltetranitrat) behandelt wird. Auch in den Bestandteilen dieses Medikaments konnten wir durch die Röntgendiffraktion Siliziumdioxid sichern.
Obwohl silikathaltige Harnsteine sehr selten sind, lassen sie sich in der Röntgendiffraktion oder Infrarotspektroskopie eindeutig verifizieren und von einem Artefakt bzw. einem Quarzkieselstein abgrenzen. Die Steinprophylaxe besteht neben der Diureseerhöhung in einem Medikamentenwechsel bzw. einer Reduzierung der Dosierung.
Abstract
Formation of calculi in efferent urinary passages is always due to supersaturation of urinary calculi substances and associated increased crystallization. Apart from the typical calculi, consisting of calcium oxalate, inorganic phosphates, uric acid or cystine, there are occasional signs of rare substance classes. Although more than 50 silicate stones have already been reported internationally, this stone entity remains relatively unknown. In particular, the occurrence of silicate stones in the absence of magnesium trisilicate abuse is extremely rare.
A medium-sized left-sided ureterolith was removed from a 54-year-old male patient using a ureteroscope. X-ray diffraction showed it to be a compound stone consisting of 40% silicate. The patient, who in 1986 was living close to the nuclear reactor accident in Chernobyl, showed no signs of a constant uptake of magnesium trisilicate. However, he had undergone partial (2/3) gastrectomy 4 months before for a drug-refractory gastric ulcer, which had been diagnosed at the end of the 1980s and treated with excessive dosages of a magnesium trisilicate antacid preparation until the time of the operation. The patient had also been suffering from unstable angina pectoris since 1986 and treated with Pentalong (pentaerythrityltetranitrate) for 17 years. We were also able to detect silicium dioxide in components of this drug using X-ray diffraction.
Silicate uroliths are extremely rare but they can be clearly identified by X-ray diffraction or infrared spectroscopy and distinguished from artifacts or quartz pebbles. Formation of calculi can be prevented by increasing diuresis as well as switching to a different drug and reducing the dosage.
Avoid common mistakes on your manuscript.
Fallberichte über das Vorkommen silikathaltiger Harnsteine unterliegen aufgrund der Seltenheit dieser Steinspezies immer dem Verdacht, dass es bei der Steinasservierung zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, es sich somit um ein Artefakt bestehend aus einem Quarzstein oder einem Sandkorn handelt. Neben diesem Umstand erschweren auch die früher gebräuchlichen und ungenügend sicheren Verfahren der chemischen Harnsteinanalyse definitive Angaben zur Inzidenz des Silikatsteinleidens. Nur die analytischen Methoden der Röntgendiffraktometrie oder Infrarotspektrometrie gestatten eine eindeutige Unterscheidung zwischen silikathaltigem Artefakt und Harnstein, wobei hierdurch jedes Sandkorn als Artefakt identifiziert werden kann.
Patienten mit nachgewiesener Silikatsteinbildung sind hinsichtlich einer Dauereinnahme von Magnesiumtrisilikat suspekt, obwohl diese Medikation offensichtlich keine Conditio sine qua non für die Steinentstehung darstellt [1, 2].
Wir berichten über einen 54-jährigen Patienten, bei dem nach ureteroskopischer Steinextraktion ein Mischstein mit 40%igem Silikatanteil nachgewiesen wurde. Neben der genauen Darstellung der Anamnese und des klinischen Verlaufs des Patienten wurde der Versuch unternommen, die internationale Datenlage zur Inzidenz, Diagnostik und Metaphylaxe des Silikatsteins konzise zu diskutieren.
Kasuistik
Ein 54-jähriger Patient einer ukrainischen Umsiedlerfamilie stellte sich in unserer Klinik mit seit 10 Tagen bestehenden linksseitigen Kolikbeschwerden und sonographisch imponierender zweitgradiger Harnstauungsniere vor. Der Patient befand sich 1986 in der unmittelbaren Umgebung des Kernkraftwerkunfalls von Tschernobyl und ist seitdem multimorbide. Im Jahre 1993 wurde ein Lymphosarkom der linken Axilla operiert und adjuvant bestrahlt. Seit 1986 besteht bei ihm eine instabile Angina pectoris, die mit Pentalong® (Pentaerythrityltetranitrat) in relativer Überdosierung (400 mg/Tag) therapiert wird. Vor 4 Monaten wurde bei ihm eine 2/3-Magenresektion aufgrund eines ebenfalls seit 1986 bestehenden Ulcus ventriculi durchgeführt. In den letzten 10 Jahren wies er gehäuft spontane Harnsteinabgänge auf, eine Harnsteinanalyse oder eine metabolische Abklärung erfolgten bisher nicht.
Alle relevanten laborchemischen Blutparameter einschließlich des Säuren-Basen-Status befanden sich im Normbereich, im Urin wurden 150 Erythrozyten/Gesichtsfeld, ein pH-Wert von 7 und Silikatkristalle festgestellt. In der Abdomenübersicht bestand der Verdacht auf ein ca. 5 mm großes und schwach schattengebendes Konkrement im mittleren Harnleiter, das Ausscheidungsurogramm dokumentierte eine stumme linke Niere bei kontralateraler Normalfunktion. Es wurde umgehend die Indikation zur Entlastung der linken Niere gestellt, wobei mittels Ureterorenoskopie (URS) eine problemlose Zangenextraktion dieses im Röntgenbild dargestellten Konkrements erreicht wurde. Es bestand darüber hinaus kein weiterer Steinanhalt in der URS und der Eingriff verlief ohne Harnleitertraumatisierung, sodass auf die Einlage eines Double-J-Katheters verzichtet wurde. Das braune und rundkonfigurierte Konkrement wurde umgehend der Harnsteinanalyse mittels Röntgendiffraktion zugeführt, die eine Zusammensetzung dieses Mischsteins aus 60%igem Whewellit- und 40%igem Silikatanteil ergab (Abb. 1).
Gegenwärtig war bei dem Patienten kein Silikatabusus festzustellen. Die eingehende Medikamentenanamnese ergab jedoch die 17-jährige Einnahme von Simagel® (Almasilat) in einer täglichen Überdosierung von 5 g, die erst nach der 2/3-Magenresektion unterbrochen wurde. Die röntgendiffraktometrische Untersuchung von Pentalong wies auch für dieses Medikament Bestandteile von Siliziumdioxid nach (Abb. 2).
Der weitere postoperative Verlauf nach Steinextraktion war komplikationslos, hinsichtlich der Angina-pectoris-Medikation wurde der Patient auf ein silikatfreies Präparat eingestellt. Im Follow-up nach 6 Monaten war kein Steinrezidiv feststellbar, der Urin blieb wiederholt ohne polarisationsmikroskopischen Nachweis von Silikatkristallen.
Diskussion
Die Erstbeschreibung des Silikatsteins im menschlichen Harntrakt erfolgte durch Hammarsten im Jahre 1953 [3]. Tabelle 1 zeigt eine chronologische Auflistung über die wichtigsten bisher erschienenen Arbeiten zum Silikatharnstein. Seit dem Erstbericht konnte die Existenz von etwas mehr als 50 Silikatsteinen dargestellt werden [4, 5], obwohl in einigen Fällen aufgrund einer geringen Patientencompliance oder ungenügender Steinanalyseverfahren Zweifel an der Authentizität des Silikatsteins bestehen bleiben. Es ergibt sich aus der Erfahrung heraus der Verdacht, dass den Patienten beim Sammeln ihrer Harnsteine Missgeschicke unterlaufen sind, also auch aufgelesene Fremdkörper zur Analyse gelangen, die dann das Spektrenbild bestimmen. Somit ist zur definitiven Artdiagnose eines Silikatsteins die lückenlose Steinasservierung mit anschließender Harnsteinanalyse als Röntgendiffraktion oder Infrarotspektroskopie zu fordern.
In dem beispielgebenden Harnsteinanalyseregister der ehemaligen DDR waren an 133.797 untersuchten Steinen 76 Silikatgemische festgestellt worden, wovon jedoch 55 als Artefakt identifiziert werden konnten. Die 21 verbliebenen Mischsilikatsteine repräsentieren somit einen Anteil von 0,016%, knapp 50% von ihnen (10/21) lagen in der Verbindung mit Whewellit vor. Eine lokale Bevorzugung der Silikatanreicherung im Steinkern oder der Hülle war hierbei nicht zu beobachten, sodass auch die Rolle des Siliziums als Auslöser der Harnsteinbildung unklar bleibt [6].
Gesichert ist der Zusammenhang zwischen der kontinuierlichen Zufuhr von Magnesiumtrisilikat, dem Wirkstoff diverser Antazida, und der Silikatharnsteinbildung. Gesunde Personen ohne Silikatabusus scheiden über den Urin ca. 10–16 mg Silikat am Tag aus, was ca. 5,2% des über die Nahrung (Gemüse, Körner und Meeresfisch) aufgenommenen Silikats entspricht. Steigert man die exogene Zufuhr auf 5 g Magnesiumtrisilikat/Tag erhöht sich die tägliche Urinsilikatausscheidung auf durchschnittlich 171 mg. Bereits 2 Tage nach Absetzen des Medikaments reduziert sich die Silikatausscheidung wieder auf das Ausgangsniveau [7].
Ungefähr 1,6% aller Harnsteine waren 1999 in Frankreich durch Medikamente induziert worden. Nach Indinavir (31,4%), Vitamin-D-Präparaten (15%), Triamteren (11,1%), Sulfonamiden (10,5%), Karboanhydrasehemmern (8%) nahm Magnesiumtrisilikat hierbei mit 4,5% den 6. Platz ein [8]. Inwieweit neben dem Magnesiumtrisilikat auch von dem Dimethylpolysiloxan, einem Medikament zur Therapie meteoristischer Beschwerden, eine Silikatsteinbildung ausgehen kann, bleibt momentan noch offen.
Obwohl die Silikatharnsteinbildung auch ohne silikathaltige Medikamente dokumentiert ist [1, 2], sollte immer eine exakte Medikamentenanamnese und -analyse erfolgen. Hierbei sind auch die Nebenbestandteile der Medikamente unter Nutzung der Herstellerangaben oder mit der Methodik der Röntgendiffraktion zu berücksichtigen. In unserem Fallbericht konnte dadurch auch in der seit 17 Jahren währenden Pentalong-Dauermedikation ein Silikatdioxidanteil identifiziert werden. Inwieweit hiervon eine Promotion der Silikatsteinbildung ausging, muss jedoch spekulativ bleiben.
Nach bisherigem Wissenstand bevorzugen Silikatharnsteine das männliche Geschlecht und treten durchschnittlich im 6. Lebensjahrzehnt auf [4, 5]. Als reine Silikatsteine besitzen sie meist eine hellbraune Farbe und weisen eine niedrige Röntgendichte auf. Veränderungen kann es hierbei naturgemäß bei den Silikatgemischen geben, die sich dann nach der Art und dem Anteil der anderen Steinkomponente richten [5]. Die Oberfläche von Silikatsteinen ist häufig weicher als bei anderen Harnsteinen, ihr Vorkommen im gesamten Harntrakt (Niere, Harnleiter, Harnblase) ist gesichert [4, 6]. Der Urin-pH-Wert von Patienten mit Silikatsteinen ist unspezifisch und variiert vom sauren bis in den alkalischen Bereich [5].
Da konkrete Leitlinienempfehlungen für die Therapie und Metaphylaxe des Silikatharnsteins weiterhin ausstehen, können die nachfolgend dargestellten Erkenntnisse Allgemeingültigkeit erlangen:
-
Die Akuttherapie bzw. interventionelle Therapie unterscheidet sich nicht von der anderer schwach schattengebender Harnsteine.
-
In der Rezidivprophylaxe ist es notwendig, das silikathaltige Medikament abzusetzen oder dieses gegen ein nichtsilikathaltiges Ersatzpräparat auszutauschen (Tabelle 2).
-
Ansonsten gelten die Empfehlungen der allgemeinen Harnsteinmetaphylaxe [20].
Literatur
Ichiyanagi O, Sasagawa I, Adachi Y, Suzuki H, Kubota Y, Nakada T (1998) Silica urolithiasis without magnesium trisilicate intake. Urol Int 61 (1): 39–42
Koroku M, Tanda H, Katoh S, Onishi S, Nakajima H, Nitta T, Akagashi K (2000) Silicate calculi: report of two cases. Hinyokika Kiyo 46 (5): 339–340
Hammarsten G, Helldorff I, Magnuson W, Rilton T (1953) Dubbelsidiga njurstenar av kiselsyra efter bruk av siliksthaltigt antacidum. Swensk Latartid 50: 1242–1246
Inahara M, Amakasu M, Nagata M, Yamaguchi K (2002) Silicate calculi: report of four cases. Hinyokika Kiyo 48(6): 359–362
Haddad FS, Kouyoumdjian A (1986) Silica stones in humans. Urol Int 41 (1): 70–76
Berg W, Bothor C, Erler I, Lange P (1983) Are silicates only gravel stones? Z Urol Nephrol 76 (5): 319–325
Page RC, Heffner RR, Frey A (1941) Urinary excretion of silica in humans following oral administration of magnesium trisilicate. Am J Dig Dis 8: 13–15
Daudon M (1999) Drug-induced urinary calculi in 1999. Prog Urol 9 (6): 1023–1033
Law J (1912) Special report on diseases of cattle. USDA, Washington, p 113
Mutch N (1936) The silicates of magnesium. Br Med J 1936: 143–148
Nicholas HO, Leifeste HF (1958) Classification of urinary calculi found in the Southeast Texas area. Clin Chem 4: 267–270
Herman JR, Goldberg AS (1960) New type of urinary calculus caused by antacid therapy. J Am Med Ass 174: 1206–1207
Lagergren C (1962) Development of silica calculi after oral administration of magnesium trisilicate. J Urol 87: 994–996
Lipworth E, Bloomberg BM, Reid FP (1964) Urinary calculi containing silica: A case report. S Afr Med J 18 (38): 50–51
Takemoto M, Itatani H, Kinoshita K, Yachiku S (1978) Silica calculi. Nippon Hinyokika Gakkai Zasshi 69 (6): 664–668
Watson RA, Ettinger B, Deshon GE Jr, Agee RE, Oldroyd NO (1981) Triamterene stone: advantage of crystallographic analysis. Urology 118 (3): 238–240
Millette CH, Snodgrass GL (1983) Acute renal failure associated with chronic antacid ingestion. Am J Hosp Pharm 38 (9): 1352–1355
Farrer JH, Rajfer J (1984) Silicate urolithiasis. J Urol 132 (4): 739–740
Alpaugh HB, Johnson FB (1984) Silicon dioxide calculi in humans in the absence of silicate antacid medication. Scan Electron Microsc 2: 969–972
Straub M, Hautmann RE (2004) Prevention of nephrolithiasis-established strategies and new concepts. Urologe A 43 (4): 440–449
Interessenkonflikt:
Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
May, M., Helke, C., Kubenz, K. et al. Silikathaltige Harnsteine im Klinikalltag. Urologe [A] 44, 68–72 (2005). https://doi.org/10.1007/s00120-004-0730-3
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00120-004-0730-3