Vor 60 Jahren löste Karl Jaspers’ Veröffentlichung des Aufsatzes „Zur Kritik der Psychoanalyse“ in Der Nervenarzt [17] erhebliche Diskussionen aus [5, 18, 25, 27]. Wir greifen einen berechtigten, aber infolge des nachhaltigen Einflusses der hermeneutischen Methode auf die psychoanalytische Theoriebildung lange Zeit vergessenen Aspekt seiner Kritik auf. Entlang Jaspers’ methodenkritischer Einstellung kann dargestellt werden, welche Aussagen zu den Fragen der persönlichen Lebensführung mittels psychotherapeutischer Verfahren überhaupt möglich sind. In einem ersten Schritt stellen wir hierzu die Entwicklung seines Methodenbewusstseins vor und erörtern anschließend sein späteres („reifes“) Verständnis der Psychotherapie, um dann seine Kritik der Psychoanalyse kritisch zu würdigen. Abschließend wird der aktuelle Gehalt seiner Psychotherapiekritik ermittelt.

Vom Methodendualismus zur methodenkritischen Einstellung

Im Jahr 1913 stellt Karl Jaspers im Rahmen seiner „Allgemeinen Psychopathologie“ einen sog. Methodendualismus vor [10]. Dieser Methodendualismus ergibt sich durch die streng gemeinte Unterscheidung von Erklären vs. Verstehen („verstehende Psychologie“), welche Jaspers erstmalig unter Bezug auf die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften bei Max Weber in seinem Artikel „Kausale und,verständliche’ Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose bei der Dementia praecox (Schizophrenie)“ (1913) einführt ([15], bes. S 329 ff; vgl. dazu auch [9], S 12 ff)Footnote 1. Jaspers’ Einfluss auf die übergreifenden methodologischen Debatten ist aufgrund seiner nahezu apodiktischen Trennung der Methoden minimal, wohingegen er in der Psychiatrie oftmals als methodisch grundlegend angesehen wird (so beispielsweise auch [8]).

Sein ausgeprägtes Methodenbewusstsein erfährt zwischen 1913 und 1941/42 eine Radikalisierung. Er verschärft seine methodenkritische Einstellung und betont zunehmend die Grenze allen methodengeleiteten Verstehens und Handelns (insbesondere des zielgerichteten therapeutischen Handelns), weil er den Menschen von dessen Ausrichtung auf Freiheit und Transzendenz her versteht. Diese methodenkritische Einstellung scheint, trotz wichtiger Unterschiede [19], stärker durch die Phänomenologie Edmund Husserls geprägt zu sein, welche er bereits in dem Aufsatz „Zur phänomenologischen Forschungsrichtung in der Psychiatrie“ (1912, [15], S 314–328) in die Psychiatrie einführte. Die Methodenkritik kann in phänomenologischer Manier entlang der Unterscheidung von Analyse und Anschauung konzeptualisiert werden. Denn die Analyse einer gegebenen Erfahrung weist eine zumindest minimale reflexive Qualität auf, während die Anschauung in natürlicher Einstellung das Erfahrene intuitiv-anschaulich „voll und ganz“ gibt [21]. Freiheit und Transzendenz sind also – laut Jaspers – nicht „zu machen“, sondern nur zu erfahren. Sie werden in existenzieller Kommunikation philosophierend artikuliert ([20], S 39). Diese Einsicht stellt für die Medizin, und insbesondere für die Psychotherapie, einen wichtigen Aspekt heraus, ereignet sich doch in Krankheiten immer auch ein Verlust von Freiheitsgraden. So zielt jede Therapie darauf, dass der Patient Freiheitsgrade wieder zurückgewinnen kann, die sie ihm nicht instrumentell zur Verfügung stellt, jedoch perspektivisch vermittelt, sodass der Patient die erweiterten Möglichkeiten als neuen Freiraum erfahren kann. Insofern ist für Jaspers der gute Arzt (und Psychotherapeut) „unausweichlich Philosoph“ ([16], S 674; vgl. auch [11], S 401).

Vor dem skizzierten Hintergrund der methodischen Überlegungen, die Jaspers von einem strikten Methodendualismus zu einer methodenkritischen Einstellung weiterentwickelte, wird verständlich, dass er die spezifischen Gefahren und Grenzen der Psychotherapie für die individuelle Lebensführung zunehmend kritisiert, insbesondere übereilte Schließungen ihrer Wissenssysteme betont und auf die Notwendigkeit des Philosophierens aufmerksam macht (vgl. Tab. 1, [23]). Trotz einer gewissen Überzeichnung des psychotherapeutischen Wissens und Handelns ([3]; später bes. [24, 25, 27]) stellt sich die Frage, ob nicht bestimmte Aspekte seiner Psychotherapiekritik richtig sind und auch für unsere Zeit gelten, sodass wir von einer neuen Auseinandersetzung mit dem Denken Jaspers’ profitieren können.

Tab. 1 Die drei Verständnislinien der Psychotherapie bei Karl Jaspers. (Mod. nach [23])

Jaspers’ Verständnis der Psychotherapie

In der 1. Auflage der „Allgemeinen Psychopathologie“ (1913) stellt Jaspers Psychotherapie im Sinne einer „verstehenden Psychologie“ als eine Mischung aus Erziehung, Suggestion und Beichte dar ([9], S 322f). Zunehmend benennt er die (existenz-)philosophischen Grenzen der psychotherapeutischen Methoden, weil das „Existenziellwerden“ nicht durch ein „Psychologisieren“ der Grenzsituationen be- oder verhindert werden dürfe. Wie Jaspers in der heute bekannten, vollständig umgearbeiteten (und gewissermaßen „gültigen“) Fassung der „Allgemeinen Psychopathologie“ ausführt, die in der Zeit des Publikationsverbots in den Jahren 1941/42 entstand (Publikation 1946; vgl. dazu bes. [18]), versteht er unter Psychotherapie „Behandlungsmethoden, die auf die Seele oder den Körper wirken, die über die Seele führen“ ([16], S 695). Einen „therapeutischen Nihilismus“ lehnt er ebenso ab wie „therapeutische Schwärmerei“ ([16], S 662).

Jaspers differenziert vier Stufen der ärztlichen Therapie: 1. technisch-kausal (z. B. in der Chirurgie); 2. diätetisch, Selbsthilfe anregend (hier würde Jaspers evtl. auch Medikamente einordnen); 3. informativ-edukativ, Lebensführung einfordernd ([16], S 665f). Die Psychotherapie ist die 4. und höchste, methodisch erlernbare Stufe ärztlicher Therapie:

Psychotherapie [ist] der Versuch, dem Kranken durch seelische Kommunikation zu helfen, sein Inneres bis in die letzten Tiefen zu erforschen, um die Ansätze zu einer Führung auf den Weg der Heilung zu finden. ([16], S 665)

Erfolgreiche Therapie ist ein Klärungsprozess, der in das „philosophierende Selbstwerden des Menschen“ hineinführt ([16], S 668), welches sich in der „existenziellen Kommunikation“ zwischen Menschen als Schicksalsgefährten ereignet (und die höchste, nicht mehr mit begrenzten Methoden erlernbare Stufe im Arzt-Patient-Miteinander ist; s. unten). Jaspers versteht unter psychotherapeutischen Verfahren Methoden, die unabhängig vom weltanschaulichen Hintergrund des Therapeuten bzw. Patienten angewendet werden können und deshalb dem methodenkritischen (Nerven-)Arzt bzw. Psychotherapeuten zur Verfügung stehen. Wissenschaftlichen Methoden vergleichbar, benötigen auch die psychotherapeutischen Verfahren einen übergeordneten Rahmen, aus dem heraus sich Zielrichtungen, die auch Lebensführungsideale beinhalten, in der konkreten Behandlung ergeben: „Fehlt diese Bindung, so tritt an die Stelle der Religion eine säkularisierte Weltanschauung“ ([16], S 79; s. unten). Es ist die Rückbindung an das Ganze, welche der methodenbewusste Arzt und Psychotherapeut außerhalb seiner psychotherapeutischen Techniken suchen muss und welche er im Philosophieren erlernen kann. Die letzte Stufe der ärztlichen Therapie ist – im besten Fall – die existenzielle Kommunikation ([16], S 668 f.), eine Kommunikation zwischen Menschen als Schicksalsgefährten, „in der jeder er selbst wird, indem der andere er selbst wird“ ([17], S 65]).

Die Grenze allen therapeutischen, also methodengeleiteten Handelns ergibt sich aus dem Umstand, dass Menschen über ihre leiblichen und psychischen Verstrickungen hinaus, und zwar trotz der gewissen Unveränderlichkeit bestimmter Verstrickungen, auf ihre Freiheit im Angesicht des Ganzen zielen (und sich dann als Existenz erhellen wie ergreifen). Zusammengefasst: Sie ergreifen ihre Freiheit als Subjekt ([16], S 667). Es gilt folglich, dieses „ursprüngliche Sosein“ ([16], S 672) anzuerkennen und „anzunehmen“, „eine Lebensform zu finden“, in welcher dem eigenen Subjektcharakter vom Betreffenden selbst Rechnung getragen wirdFootnote 2. Der Subjektcharakter des Menschen muss deshalb nicht mehr, wie Jaspers in „Arzt und Patient“ (1953) gegen Viktor von Weizsäcker einwendet, in die Medizin eingeführt werden, da er infolge der Subjektivität des Patienten (und derer des Arztes bzw. Psychotherapeuten) schon immer bereits vorhanden ist ([17], S 27 ff; zum Verhältnis zwischen Jaspers und von Weizsäcker [5]). Aus Jaspers’ Sicht geht es, wie im Vortrag „Der Arzt im technischen Zeitalter“ (1958) erörtert, um die Anerkennung dieses einfachen Umstands und der daraus zu ziehenden Folgerungen, dass a) dieser Freiheit mit keiner wissenschaftlichen Methode beizukommen ist, dass b) in der Arzt/Psychotherapeut-Patient-Beziehung nur an sie appelliert werden kann und c) sie nur philosophierend sichtbar wird ([17], S 47 ff, vgl. Abb. 1).

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Jaspers zunehmend die Gefahren der Psychotherapie als (mögliche) Weltanschauung benennt. Denn übernehme der Arzt „Funktionen des Priesters“, sei Psychotherapie in der Gefahr, „nicht mehr nur ein Mittel zu sein, sondern Auswirkung einer mehr oder weniger unklaren Weltanschauung zu werden, einer unbedingten oder chamäleonartig spielenden, einer ernsten oder schauspielerischen, aber immer nur einer persönlichen oder privaten“ ([16], S 663).

Am Beispiel der Psychoanalyse, welche für Jaspers leitend in seiner Auseinandersetzung mit psychotherapeutischen Verfahren war, zeigt sich für Jaspers, dass eine Weltanschauung, die sich nicht als Weltanschauung begreift, sondern als Wissenschaft missversteht, zu einer Art Religionsersatz wird:

Gemeinsam ist allen Richtungen, daß sie sich auf eine vermeintlich vorhandene Wissenschaft stützen, in dem Vorgeben, diese sei wahr und richtig und objektiv lernbar und in ständigem Fortschritt. ([17], S 52)

In dieser Position kulminiert auch Jaspers’ Kritik der Psychoanalyse in den 50er Jahren, die in früheren Schriften auf den Vorwurf der Verwechslung von Verstehen und Erklären abgestellt war (etwa angesichts der psychoanalytischen Psychosentheorie) und 1932 in „Die geistige Situation der Zeit“ auch einen politischen Akzent erhielt, als er die Psychoanalyse als dritte große „Verschleierung“ des Menschen neben „Rassentheorie“ und „Marxismus“ verkannte ([13], S 142f). Den Hintergrund für die Positionierung in der Nachkriegszeit bilden wohl die zeitgenössischen Auseinandersetzungen in Heidelberg mit Viktor von Weizsäcker und Alexander Mitscherlich [5], aber auch die Berichte Hannah Arendts, die die Psychoanalyse aufgrund ihres zunehmenden Einflusses auf die geistige Elite in den USA als „wahre Pest“ und „Verrücktheit“ bezeichnete ([1], S 147).

Zur zeitgenössischen Kritik des Psychotherapieverständnisses Jaspers

Jaspers’ 1950 in Der Nervenarzt publizierter Beitrag rief Widerspruch aus psychoanalytischer Sicht hervor. So betonte Harald Schultz-Hencke in einer Replik von 1951, dass sich die aktuelle Psychoanalyse den von Jaspers behaupteten „Totalanspruch“ keineswegs (mehr) anmaße, den er, hierin Jaspers beipflichtend, in den Vorkriegsjahren selbst in psychoanalytischen Kreisen wahrzunehmen meinte. Vielmehr verweist er darauf, dass es die Regelhaftigkeit der unbewussten Strukturen sei, welche erlaube, auf indirektem Weg Zusammenhänge zu verstehen, die in direkter Introspektion unverständlich blieben ([24]; vgl. auch [25, 27]).

Ohne hier näher auf die (zum Teil berechtigte) Replik Schultz-Henckes und anderer Fachvertreter der damaligen Psychoanalyse einzugehen, ist anzumerken, dass sein Verweis auf eine interpretierbare Vorstruktur des Verstehens, welche Rückschlüsse auf Vorstrukturen der Erfahrung der beteiligten Menschen zulässt, damals keineswegs neu war (vgl. bereits die frühe Kritik 1922 [3]). Jaspers’ in der „Allgemeinen Psychopathologie“ dargelegter Methodendualismus vernachlässigte, wie später Wolfgang Blankenburg [4] verdeutlichte, die interpersonale Dimension in ihrer wechselseitig-gemeinsamen Erfahrungsqualität. Der Schritt vom „statischen Verstehen“ der Phänomene als solche zum „genetischen Verstehen“ von Zusammenhängen, den Jaspers als ein „Hineinversetzen“, als ein „Einfühlen“ bezeichnet ([9], S 13 f., 17 f.), erfordert ein gemeinsames hermeneutisches Vorverständnis, innerhalb dessen dieses „Hineinversetzen“ in den anderen Menschen überhaupt gelingen kann, wie Erwin Straus 1963 festhält:

Mit dem Hinweis auf die anschauliche Vergegenwärtigung individuellen seelischen Erlebens, auf das Hineinversetzen in Seelisches, wird ein, wenn nicht das Grundproblem der Psychiatrie, das ist die Frage nach der Möglichkeit der Verständigung und des Verstehens, übersprungen. ([26], S 940)

Dieser Kritikpunkt verweist darauf, dass, wie Sonja Rinofner-Kreidl ausführt, Jaspers’ methodische Besinnung letztlich, insbesondere in seinen späteren Schriften, auf die „fundamentalste Ebene methodologischer Reflexion […] von Anschauung und Analyse“ ausgerichtet ist ([21], S 86). Jaspers’ fehlende Aufklärung in den frühen Jahren betrifft diese notwendige „Vorstruktur des Verstehens“, welche im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft hätte verstanden und die weitere methodenkritische Besinnung auf den Unterschied von Analyse und Anschauung hätte beschleunigen können. Interessanterweise gilt dieser Kritikpunkt auch für Jaspers’ nachlässige Aufnahme der „Phänomenologie“, in der er sich auf eine Art Deskription des Gegenübers in Begriffen einer intentionalen Psychologie beschränkt, ohne im Sinne Husserls eine Reduktion der Generalthesis der natürlichen Einstellung (also der Einstellung unserer gewöhnlichen, selbstverständlichen Erfahrung) vorzunehmen. Diese Generalthesis besagt: Die Welt existiert. Das fehlende, wenn auch nur im methodischen Kunstgriff eines (reflexiven) Einstellungswechsels vorübergehende Außerkraftsetzen dieser fundamentalen Grundannahme (sog. epoché) ist der wesentliche Unterschied zwischen der „Phänomenologie“ Jaspers’ und der Phänomenologie Husserls [19, 28]. Selbstverständlich gilt auch für die phänomenologische Methode der Gegensatz von „Analyse und Anschauung“ bzw. die fehlende Möglichkeit, die wie selbstverständlich gemachte (und stets weiterfließende) Erfahrung in „phänomenologischer Einstellung“ vollständig zu beschreiben – ein in der Phänomenologie durchgängig thematisierter Umstand ([2], S 74 ff).

Jaspers’ frühe methodische Gegenüberstellung verschiedener deskriptiver Zugänge zu seelischen Gegebenheiten behauptet dennoch nicht, dass es sich um jeweils unterschiedliche Gegebenheiten handelt. Bereits in diesen frühen Phasen ist ihm als methodisch reflektiertem Wissenschaftler die Begrenztheit seiner jeweiligen (wissenschaftlichen) Beschreibungsweise bewusst, sodass er sowohl die Unabschließbarkeit dieser Beschreibungen als auch die gegebene Identität des unterschiedlich analysierbaren Gegenstandes anerkennt. Von hier aus gelingt ihm (später) der Wechsel in eine methodenkritische Einstellung (der zugleich eine Annäherung an die phänomenologische Einstellung darstellt). Der Gegenstand kann nur direkt anschaulich in seiner Ganzheit erfahren und erfasst, aber eben nicht vollständig beschrieben werden. In diesem Sinn formuliert er 1947, die Grenzen möglichen Wissens aufzeigend: „Das Ganze ist nicht zu wissen“ ([14], S 346). Den (modernen) Anspruch auf Sinngebung, der an die Psychotherapie und Psychotherapeuten herangetragen wird, weist Jaspers insofern entschieden ab:

Ein Bewußtsein der Verlassenheit, der Überflüssigkeit hat eine so radikale Glückslosigkeit erzeugt, daß immer mehr Menschen den Heilbringer suchen. Weil er Glück verlangt, drängt dieser moderne Mensch zum Arzt der Seele. Er ist ihm der Mann der modernen Wissenschaft und der große Techniker der Seele, der das Glück wiederherstellen kann. Er wird zum Priester der Glaubenslosen. ([17], S 52 f)

Diese pathetisch formulierte Kulturkritik erinnert an seine 1913 eindringlich formulierten Warnungen vor Vorurteilen in der (theoretischen) Psychopathologie [10]. Hier findet sich indessen eine andere, 1913 unbenannte Form des Vorurteils, nämlich die Verwechselung von „Verstehen“ als „Erklären“ (als ein Kategorienfehler verstanden), welche den Denkmodellen der Psychotherapieschulen einen „Glaubenscharakter“ zuweise.

Diskussion

Psychotherapie zeigt sich für Jaspers im besten Fall als methodenbewusstes Verfahren mit Grenzen grundsätzlicher wie unterschiedlicher Art, die den jeweils Beteiligten bewusst sind. Über die grundsätzliche Grenze – und auf das Ganze hin – weist aber die Existenzphilosophie, sodass die Grenzen der methodenbewusst betriebenen Fachdisziplin ihrerseits zum „Existenziellwerden“ auffordern. Psychotherapie könne zwar – auf die Person bezogen – Selbsterhellung bedeuten, doch nicht als Psychotherapie Existenzerhellung sein. Letzteres ist für Jaspers das Privileg der gelingenden existenziellen Kommunikation, welche sich zwar in der Arzt/Psychotherapeut-Patient-Beziehung ereignen kann, aber weder deren Ziel noch deren ursprüngliche Aufgabe ist ([16], S 667 f und 683). Obwohl sich in der Arzt-Patient-Beziehung existenzielle Kommunikation ergeben kann und sie eine stete Möglichkeit im Miteinander darstellt, wäre es im Verständnis Jaspers’ für die Arzt-Patient-Beziehung eine Überforderung, wenn in ihr existenzielle Kommunikation tatsächlich regelhaft erwartet würde.

Karl Jaspers’ Verständnis der Psychopathologie und der Psychotherapie hat sich im Lauf der Jahre verändert. Seine existenzphilosophische Grundüberzeugung „Verstehende Psychologie aber muß sich bescheiden“ ([12], Bd. 2, S 312) gilt für ihn durchgängig sowohl für die psychopathologische Erkenntnis als auch für die psychotherapeutischen Verfahren. Seine anfängliche methodische Rückbesinnung bleibt jedoch unzureichend hinsichtlich der hermeneutischen Vorstruktur des Verstehens und kann nur so die Trennung von „Verstehen“ und „Erklären“ im Sinne einer (lebensweltlichen) Neutralität der „Erklärungswissenschaften“ strikt durchhalten (vgl. hierzu Blankenburg [4]). Insofern erschweren Jaspers’ frühe psychopathologische Schriften das Ausbuchstabieren seiner späteren existenzphilosophischen Einsichten für die mitmenschliche Verständigung im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie aufgrund ihrer auf einen Dualismus begrenzten methodischen Besinnung. Jedoch eröffnet sein späteres, auf die Differenz von Analyse und Anschauung zielendes Methodenbewusstsein gerade für die zugehörigen Disziplinen eine kritische Wiederaufnahme (vgl. [6, 22]).

Dies betrifft besonders seinen in der „Psychologie der Weltanschauungen“ entwickelten Begriff der Grenzsituation ([10], S 202 ff). Erkrankungen führen, wie Jaspers betont, Menschen ganz von selbst in Grenzsituationen. Die Aufmerksamkeit hierfür bereichert therapeutische Prozesse, obwohl die Aufgabe des Psychotherapeuten nicht darin liegt, seine Patienten in die Verzweiflung zu treiben, um sie zum Ergreifen der Existenz zu zwingen. Zwar mögen, wie Jaspers kritisiert, übereilte Schließungen im therapeutischen Miteinander das „Existenziellwerden“ verhindern, dennoch bleibt auch bei vermindertem Leidensdruck die Frage bestehen: Warum kann bzw. konnte der Betreffende sein Leben trotz bester Absichten nicht so gestalten, wie er es selbst gerne möchte bzw. wollte? Wie Thomas Fuchs ausführt, kann die Fähigkeit zur Aufnahme eigener Situationen als Grenzsituationen nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern benötigt eine persönliche Kompetenz, die gerade im therapeutischen Miteinander durch den Therapeuten bei entsprechender Offenheit für die Gegebenheit „letzter“ Fragen unterstützt werden kann [7]. Die Thematisierung von Sinnfragen ist in der Psychotherapie zwar problematisch, aber dennoch unvermeidlich. Zum einen, weil die Fragen immer dann (zumindest hintergründig) gegeben sind, wenn Menschen sich ihrer vergewissern (wenngleich allgemein gültige Antworten darauf fehlen). Zum anderen auch deshalb, weil die Therapie (aus der Sicht des Patienten und des Therapeuten) ihrerseits sinnvoll sein soll (auch wenn aus einer dritten Perspektive manche Therapie sinnlos erscheinen mag). Zudem ist jede Therapeut-Patient-Beziehung bereits eine Schicksalsgemeinschaft und hat die (vorbewusste) existenzielle Qualität: „Dies ist mein Therapeut“ bzw. „Dies ist mein Patient“.

Jaspers deutet jedoch den (verstärkten) Wunsch des Patienten nach existenzieller Kommunikation mit seinem Arzt/Therapeuten als problematische Folge der Moderne bzw. des erfahrenen Sinndefizits in der „entzauberten Welt“ (Max Weber; [17], S 51 f.; s. oben). Diese Interpretation ist verkürzend und zeigt das ungenutzte Potenzial seines methodenkritischen Ansatzes hinsichtlich eines Psychotherapieverständnisses. Denn Jaspers’ Kritik der Psychotherapie bleibt in einem wesentlichem Punkt zutreffend: Die gegebene Situation und Erfahrung kann durch keine Analyse der Vorstrukturen des Verstehens und Erfahrens aufgelöst, sondern nur beeinflusst und verändert werden, und die Schicksalhaftigkeit einer therapeutischen Gemeinschaft kann nicht verhindert, sondern nur thematisiert und „existenziell ergriffen“ werden. Die Sinnfrage des Einzelnen als Mensch bleibt bestehen und bewahrt sich darüber hinaus, so sie vom Betroffenen gestellt wird, eine gewisse Unabhängigkeit von allen präreflexiven Strukturen – also auch vom therapeutischen Prozess. Die Existenzphilosophie macht diese Unabhängigkeit stark und übersieht dabei, dass bereits das Miteinander in einer ärztlich-psychotherapeutischen Situation eine ganz gewöhnliche Schicksalsgemeinschaft darstellt, eine von Krankem und Arzt oder Therapeut, welche vorübergehend, asymmetrisch und fragil sein kann – und sich von den „normalen“ Lebensgemeinschaften, die ein Mensch im Verlauf seines Lebens bildet, unterscheidet. Aber gerade deshalb ist es für Ärzte und Therapeuten immer wieder erforderlich, die seit Hippokrates’ Zeiten bekannte und von Jaspers in methodenkritischer Einstellung erneut virulent gemachte Wahrheit zu bedenken:

Therapie kann nicht ersetzen, was allein das Leben selber bringt. ([16], S 672)

Fazit für die Praxis

Nach Karl Jaspers besteht ein existenzieller Zusammenhang zwischen der Art und Weise der (eigenen) Lebensführung und dem erfahrenen (übergeordneten) Sinn des eigenen Lebens.

Dieser Zusammenhang ist oftmals Ansatzpunkt psychotherapeutischer Verfahren, ohne notwendigerweise explizites Thema zu sein (er ist beispielsweise in der Schicksalhaftigkeit der Gemeinschaft von Therapeut und Patient stets hintergründig gegeben).

Die Einsicht in die methodische Gebundenheit psychotherapeutischer Verfahren und Erkenntnisse gehört zu den Kernkompetenzen eines aufgeklärt-kritischen Psychotherapeuten, da psychotherapeutische Verfahren und Erkenntnisse hinsichtlich dieses Zusammenhangs sonst überstrapaziert würden. Zum einen zielt Psychotherapie darauf, dem Patienten die Fähigkeit zu einer selbstbestimmten Lebensführung wiederzugeben, zu erweitern oder zu verbessern; zum anderen aber bleiben die aus der Psychotherapie ableitbaren Aussagen bezüglich der konkreten Art und Weise der (eigenen) Lebensführung dennoch begrenzt.