Anwendungsziel und Historie

Der Grundgedanke jeder Kodierung ist Reduzierung auf das Wesentliche und damit das Schaffen einer Vergleichbarkeit unterschiedlicher Fälle. Während sich einzelne Krankheitsbilder relativ einfach kodieren lassen, bereitete die Kodierung von Verletzungen bei Verkehrsunfallopfern Anfang der 60er Jahre noch große Probleme. Nachdem die Kodierung der technischen Unfallschwere zum einen durch Parameter wie Kollisionsgeschwindigkeit und Fahrzeugdeformation sowie zum anderen durch die Unfallkonstellation ohne nähere fahrzeugtechnische Kenntnisse möglich war, wurde von den Ingenieuren versucht, diesen Ansatz auf die Verletzungen von Fahrzeuginsassen anzuwenden [17]. Klassisches Beispiel für eine der Verletzungskategorien ist die Thoraxkompression durch Aufprall auf das Lenkrad bzw. die Lenksäule. Schnell stellte sich heraus, dass eine Bewertung der Verletzungsschwere innerhalb dieser Kategorie ein sehr breites Spektrum aufwies. Dies konnte auch durch Korrelationen mit der technischen Unfallschwere nur bedingt eingegrenzt werden.

Entwicklung der AIS-Skala

Als Ausweg wurde die Bildung von Verletzungskategorien verlassen und auf die Kodierung von Einzelverletzungen umgestellt: Die AIS (engl. Abbreviated Injury Scale für „verkürzte Verletzungsskala“) bewertet alle als relevant angesehenen Verletzungen bzgl. ihres Letalitätsrisikos. Eine Gesamtverletzung wird für die Kodierung in im AIS-Katalog enthaltene Einzelverletzungen aufgeteilt, für die wiederum im Katalog eine klassifizierte Überlebenswahrscheinlichkeit angegeben ist. Die Klassifikation soll nur die Verletzung beschreiben, sie ist unabhängig von der Art der Behandlung, der Behandlungsqualität oder der Behandlungsdauer. Es hat sich hierbei gezeigt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit als sehr valide Proxyvariable für die Schwere einer Verletzung genutzt werden kann.

Die AIS wurde entwickelt, um die Verletzungsschwere objektiv zu beschreiben

Auch wenn durch die Aufteilung der Verletzungen eines Patienten in Einzelverletzungen das Problem der Kodierung der Verletzungen gelöst ist, muss das sinnvolle Zusammenführen von Einzelverletzungen zu Verletzungsmustern oder allgemein die Aggregation von Einzelverletzungen als ein noch nicht abschließend gelöstes Problem angesehen werden.

Gründung der Association for the Advancement of Automotive Medicine

Vor über 40 Jahren wurde die AIS entwickelt, um die Schwere von Verletzungen am menschlichen Körper möglichst objektiv zu beschreiben [22]. Die AAAM (Association for the Advancement of Automotive Medicine) ist eine professionelle, multidisziplinäre Organisation, die der Untersuchung und Prävention von Unfällen mit motorisierten Fahrzeugen gewidmet ist. Sie wurde 1957 vom Medizinischen Beratungskomitee des Sportwagenklubs von Amerika gegründet. Die Gründungsmitglieder waren 6 Ärzte mit einer Leidenschaft für Autorennen. Sie hatten die Vision, Kliniker direkt in die Prävention und öffentlichen Maßnahmen zur Unfallverhütung zu integrieren. Seit 1964 dürfen auch Nichtärzte Mitglieder werden. Diese Maßnahme berücksichtigte, dass die Untersuchung von Verletzungen und ihre Prävention einen interdisziplinären Ansatz haben müssen. Im Jahr 1969 stellte John D. States als Vorsitzender des ad hoc Injury Scaling Committee die Abbreviated Injury Scale auf der Stapp-Konferenz vor [21]. Die Verletzungsschwere reicht bereits von „unverletzt“ (Grad 0) über „gering“, „ernsthaft“, „schwer (nicht lebensbedrohend)“, „schwer (lebensbedrohend)“ bis „kritisch (überleben ungewiss“, Grad 5). Die Veröffentlichung im Journal of the American Medical Assocciation (JAMA) gilt aufgrund der eher technischen Ausrichtung der Stapp-Konferenz für die meisten Mediziner als die Geburtsstunde der medizinischen Einzelverletzungsbewertung [16]. Neben der AAAM-AIS gibt es aus dem nordamerikanischen Raum noch die AIS von der National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) und dem National Transportation Safety Board (NTSB [5], Grundzüge in Tab. 1).

Tab. 1 Schweregradeinteilung der AIS. (Aus [5])

AIS-Codebooks

Nach fast jährlichen Zwischenschritten [3, 15, 23] wurde 1976 das erste AIS-Codebook als Broschüre herausgegeben [14]. Hauptziel der Ausgabe von 1976 war die Konsolidierung der unterschiedlichen AIS-Code-Ausprägungen für Verstorbene (6, 7, 8 und 9). Die Bewertung einer Verletzung sollte nicht mehr abhängig vom Überleben der Unfallopfer sein, da eine Erhöhung des AIS-Codes im Falle des Versterbens zu einer Reduktion der Letalität der niedrigen AIS-Code-Ausprägungen führt. Die AIS-Code-Ausprägung von 6 steht ab dem AIS-76 für Verletzungen, die beim gegebenen Rettungssystem unweigerlich zum Tod führen. Für Verletzungen mit unbekannter Schwere wurde die neue Ausprägung 9 eingeführt. Die ursprüngliche Definition des Injury Severity Score (ISS) basierte auf dem AIS-76.

Mit der AIS-Revision von 1980 wurde der MAIS („M“ steht für „maximal“, s. unten) eingeführt [22]. Mit dem AIS-85 wurde jede Verletzung durch einen „identifier“ (AIS-ID) eindeutig beschrieben [1]. Der AIS-ID spezifiziert neben der Körperregion auch das betroffene Organsystem sowie das Ausmaß der Verletzung. Die Bewertung der Verletzung erfolgt weiterhin durch den AIS-Code. Jedem AIS-ID ist eindeutig ein AIS-Code zugeordnet. Aufgrund der größeren Akzeptanz des AIS in der Traumatologie wurde die anatomisch geprägte Terminologie um die klinische erweitert [2, 3, 13].

Mit dem AIS-Codebook von 1990 und der damit weitgehend identischen Revision von 1998 wurde hauptsächlich auf den Kodierungsprozess und die Vermeidung von Fehlkodierungen eingegangen [7, 8]. Es wurden aber auch spezielle IDs für Kinder eingeführt und die Differenzierung der Gehirnverletzungen stark erweitert [9]. In vielen Unfalldatenbanken ist das AIS-90/98-System noch immer die Grundlage der Verletzungscodierung (z. B. CCIS).

Die AIS ist als Basis für Verletzungsschwereklassifikationen universell akzeptiert und wird weltweit in der Traumatologie für therapeutische und wissenschaftliche Fragestellungen wie z. B. der Biomechanik genutzt. Ingenieure ziehen sie insbesondere in der interdisziplinären Unfallforschung zur Bewertung technischer Fragestellungen in Bezug auf Verletzungen, deren Ursachen, sowie deren Prävention zu Rate.

Klassifikation mit der AIS

Die Grundidee des AIS-Codes ist das Zusammenfassen von Verletzungen mit annähernd gleicher Letalität. Die in den ersten AIS-Codebüchern vorgenommene Unterscheidung von Verletzten und Getöteten wurde mit der Version von 1976 aufgegeben. Alle Versionen kategorisierten die Verletzungen in 6 Verletzungsklassen. Später wurde noch eine Klasse (9) für Verletzungen, die nicht mit ausreichender Sicherheit diagnostiziert wurden, hinzugefügt. Erweitert man die Klassen um die Unverletzten (0) und schließt die nicht ausreichend diagnostizierten Patienten aus, erhält man eine ordinal skalierte Rangfolge nach Überlebenswahrscheinlichkeit: Eine Verletzung mit der Ausprägung 1, auch AIS-Code genannt, führt ziemlich sicher nicht zum Ableben des Patienten, wogegen eine Verletzung mit dem AIS-Code 6 sicher zum Tode führt (Tab. 2).

Tab. 2 Anzahl AIS-ID pro AIS-Code für AIS-90/98 und AIS-2005/2008

Das Besondere des AIS ist, dass die Überlebenswahrscheinlichkeiten für die einzelnen Verletzungen nicht explizit spezifiziert werden, sondern eben nur Gruppen von Verletzungen mit annähernd gleichem Risiko gebildet werden. Somit werden Verletzungen aus unterschiedlichen Körperregionen in Bezug auf ihre Letalität vergleichbar. Innerhalb eines Datenbestands von mit AIS kodierten Verletzungen können den AIS-Codes Überlebenswahrscheinlichkeiten zugeordnet werden. Problemlos ist dies jedoch aufgrund des erwähnten Aggregationsproblems nur für Einzelverletzungen möglich.

Zu beachten ist ferner die Wahl der Ordinalskalierung: Zwar geht eine AIS-Code-Ausprägung 2 mit einem größeren Letalitätsrisiko als eine Ausprägung 1 einher, über die Größe des Unterschiedes lässt sich aufgrund der Skalierung jedoch keine Aussage machen. Somit sind 2 Verletzungen mit der Ausprägung 1 auch nicht mit dem gleichen Letalitätsrisiko behaftet wie eine Verletzung mit einem AIS-Code 2. Allgemein gesagt ist die AIS-Bewertung von Verletzungen eine Bewertung einzelner Verletzungen und die mit der Kodierung ermittelte Letalitätsklasse gilt auch nur für diese einzelne Verletzung.

Die vom AIS gebildeten Letalitätsrisikoklassen erfüllten die ursprünglichen Anforderungen an eine Bewertung der Insassengefährdung. Erst später zeigte sich, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit als eine sehr valide Proxyvariable für die Schwere einer Verletzung genutzt werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die technische Unfallschwere und die Überlebenswahrscheinlichkeit als Proxyvariablen für die Verletzungsschwere genutzt werden.

Die aktuelle Weiterentwicklung AIS-2008 versucht durch eine genauere anatomische Gliederung des AIS-Identifiers neben dem AIS-Code auch ein Maß für die Spätfolgen einer Verletzung („functional capacity index“) an den AIS-Identifier zu koppeln [11].

In den ersten Versionen der AIS-Skala konnten ausschließlich Verletzungen mit morphologischem Korrelat kodiert werden, also Verletzungen, bei denen man mit diagnostischen Verfahren einen objektiven Befund erheben und direkt, z. B. durch Fotografie, Röntgen oder Obduktion, dokumentieren kann. Durch so genannte „modifier“ konnten die behandelnden bzw. kodierenden Ärzte anfangs den AIS-Code, insbesondere im Rahmen der Verletzungsaggregation, um 2 Punkte, später um einen Punkt, heben oder senken [14, 21]. Im Rahmen der Objektivierung der Erhebung (ab AIS-80) wurde diese Möglichkeit der Wertung des eigenen Falls gestrichen [22]. Verletzungen mit funktionellen Einschränkungen ohne direktes morphologisches Korrelat (z. B. Bewusstlosigkeit) können erst seit dem AIS-90 kodiert werden. Zur Verbesserung der Objektivität der Kodierung dürfen nur von den direkt behandelnden Ärzten diagnostizierte und dokumentierte Befunde verwendet werden. Eine ausführliche, für alle Anwender verbindliche Codierungsanweisung ist den AIS-Codebooks jeweils vorangestellt.

Zur Verbesserung der Kodierungsobjektivität dürfen nur von den direkt behandelnden Ärzten diagnostizierte und dokumentierte Befunde verwendet werden.

Nachdem sich der AIS-Code als ausgesprochen valides Mittel zu Beschreibung der Überlebenswahrscheinlichkeit von Einzelverletzungen etabliert hat und auch als Proxyvariable für die medizinische Verletzungsschwere stabile Ergebnisse zeigte, wurde mit dem AIS-2005 der Versuch unternommen, einen detaillierteren „numerical injury identifier“ bereitzustellen, der das direkte Abschätzen der langfristigen Beeinträchtigung der verletzten Personen ermöglicht [10]. Die Versuche, ein als „functional capacity index“ (FCI) beschriebenes Maß mit den AIS-98-ID zu verknüpfen, waren nur innerhalb einzelner Körperregionen erfolgreich. Analysen zeigten hierbei, dass insbesondere die Gehirn- und Extremitätenverletzungen für eine Abschätzung der Langzeitfolgen einer Verletzung nicht ausreichend fein gegliedert waren. Ausprägungen des FCI für jede AIS-ID fanden jedoch erst im AIS-2005-Update-2008-Codebook ihre Abbildung [11].

Zur Bewertung der Letalität von in Krankenhäusern behandelten Traumata wurde für den ICD-9-CM eine Konvertierungsliste für die automatische Erzeugung eines AIS-85-ID und AIS-Codes erstellt [18]. Die Liste konnte auch auf den AIS-90 und auch das Update von 1998 übertragen werden (Tab. 3). Die Konvertierungsliste ist nicht veröffentlicht und die darauf aufbauende Software nicht frei verfügbar.

Tab. 3 Anzahl der AIS-ID pro AIS-Körperregion für AIS-90/98 und AIS-2005/2008

Mit der verpflichtenden Nutzung des krankheits- und abrechnungstechnisch orientierten ICD-10 in Deutschland ging jedoch die Möglichkeit einer Verknüpfung von ICD und AIS verloren. In den USA müssen die Krankheitsursachen noch immer nach ICD-9-CM kodiert werden.

Verletzungsschwere bei Einzelverletzungen

Der AIS-Code beschreibt Einzelverletzungen, die zur Betrachtung der Verletzungsschwere einer Person oder auch nur einer Körperregion zusammengefasst werden müssen. Aggregierte Bewertungen von Verletzungen, die mittels unterschiedlicher AIS-Codebook-Revisionen kodiert wurden, sind nicht miteinander vergleichbar. Dies liegt zum einen daran, dass die Möglichkeiten zur Verletzungskodierung aufgrund der Erweiterungen des Einsatzgebiets der Skala, zum anderen durch die Entwicklung der bildgebenden Diagnoseverfahren (Ultraschall, CT, MRT) auch immer detaillierter wurden. Weiterhin mussten zahlreiche AIS-Codes über die Codebookrevisionen angepasst werden, und das, obwohl das Messsystem AIS nicht die Behandlung der Verletzungen, sondern nur deren Schwere, besser deren Letalitätsrisiko bei ihrer Entstehung bewerten will. Somit müssen für Langzeitstudien alle Verletzungen nach den Regeln und mit der AIS-Code-Bewertung einer definierten AIS-Codebookrevision durchgeführt werden. Aufgrund der im AIS-Codebook integrierten und damit vorgeschriebenen medizinischen Diagnosetechnik, z. B. bei der Unterscheidung von Gehirnschwellung und -ödem, ist eine retrospektive Kodierung alter und sehr alten Verletzungen nach den neueren AIS-Codebüchern in der Regel nicht (mehr) möglich.

Overall-AIS

Der Overall-AIS (OAIS) ist die klinische Einschätzung der Verletzungsschwere aller Verletzungen einer Person durch einen in der Behandlung von Unfallopfern erfahrenen Arzt [14, 21]. Bei der Bildung des OAIS sollen gegenseitige Beeinflussungen der Einzelverletzungen in Bezug auf die Schwere der Verletzung berücksichtigt werden. Die OAIS-Skala ist identisch mit der ihr zugrunde liegenden AIS-Skala. Im Codebook ist angemerkt, dass es für die Bildung des OAIS keine Formel gibt, es handelt sich nicht um die Summe der AIS-Codes, sondern um eine subjektive Bewertung der Gesamtverletzungsschwere. Explizit wurde darauf hingewiesen, dass die Ausprägung des OAIS auch größer als die größte AIS-bewertete Einzelverletzung ausfallen kann, niemals kann der OAIS jedoch kleiner als der MAIS (s. unten) sein [14]. Durch eine Tendenz der Kodierer, das Gesamtverletzungsbild möglichst hoch zu bewerten, kam es zu einem Bias (Verschiebung) der kodierten OAIS-Ausprägungen in Richtung hoher OAIS-Ausprägungen. Aufgrund dieser fehlenden Objektivität der Verletzungsaggregation durch den OAIS wird seine Nutzung seit der AIS-Revision von 1980 nicht mehr unterstützt [22].

Maximaler AIS-Wert

In medizinischen und v. a. technisch orientierten Darstellungen wird – in Umsetzung eines Vorschlags aus dem AIS-Codebook von 1980 – die Verletzungsschwere eines Patienten häufig als maximaler AIS-Wert (MAIS, seltener auch maxAIS) angegeben [22]. Eine Maximalwertbildung setzt mindestens eine ordinale Skalierung der Ausprägungen voraus. Bezogen auf AIS-Verletzungskodierungen bedeutet dies, dass nur Verletzungsausprägungen zwischen 1 und 6 aggregiert werden dürfen, wenn gleichzeitig keine der betrachteten Verletzungen mit einer 9 kodiert wurde. Bei der Betrachtung der Verletzung von Körperregionen ist es üblich, für diese einen MAIS-Wert anzugeben (z. B. MAIS-Thorax). Hierbei darf entsprechend keine die Körperregion betreffende Verletzung mit einem AIS-Code von 9 kodiert sein. Die Definition der Körperregionen muss sich dabei nicht unbedingt an denen des AIS-Codebooks orientieren, siehe z. B. die Körperregionen des Injury Severity Scores (ISS).

Der Injury Severity Score (ISS) ist eine Verletzungsaggregation von mit der AIS-Skala bewerteten Verletzungen [2, 3]. Für die Berechnung werden die AIS-Codes der 3 am schwersten verletzten Körperregionen herangezogen. Die hierbei verwendeten Körperregionen entsprechen noch denen des AIS-76, die mit denen der neueren AIS-Codebooks nicht übereinstimmen. Vor der Berechnung des ISS ist deshalb eine Umkodierung der Körperregionen vorzunehmen.

Die gegenwärtigen Polytraumadefinitionen basieren auf dem ISS.

Neben diesen rein auf der Verletzungsschwere beruhenden Aggregatoren gibt es zahlreiche, die zusätzlich noch physiologische Parameter mit in Betracht ziehen. Durch diese zusätzlichen Informationen kann der tatsächliche klinische Zustand des Patienten in der Regel besser abgeschätzt werden, nachteilig ist jedoch der große Einfluss der Notfallversorgung und der Kodierungsqualität, insbesondere bei der Notfallversorgung, auf das Scoreergebnis. Bei vielen Scores (z. B. Trauma and Injury Severity Score [TRISS], Mangled Extremity Severity Score [MESS]) wird beispielsweise die initiale Atemfrequenz zur Berechnung benötigt – ein Parameter, der in eher geringerem Maße erfasst wird.

Für viele Bereiche sind 6 Ausprägungen von Verletzungsschwere (zusätzlich „0“ für „unverletzt“ und „9“ für „nicht ausreichend spezifiziert“) zu detailliert: Entweder wird durch das zu seltene Auftreten einzelner Verletzungsschweregrade die statistische Bewertung erschwert oder gar unmöglich gemacht oder eine Aufspaltung der medizinischen Betrachtung eines Zusammenhangs in 8 Fälle steht in keinem Verhältnis zur technischen Genauigkeit.

Die Verletzungsaggregation über MAIS-x+ wandelt die ordinalskalierte MAIS-Variable in eine binäre Variable um. Hierbei werden den Werten unterhalb von x die eine Ausprägung (z. B. „0“), den Werten oberhalb und gleich x eine weitere Ausprägung (z. B. „1“) zugeteilt. In der Regel werden bei den MAIS-x+-Betrachtungen Personen mit einer Verletzung mit einem AIS-Code von 9 ausgeschlossen. Eine Zuweisung der mit AIS-9 kodierten Verletzungen auf die unterschiedlichen MAIS-x+-Ausprägungen ist häufig nach einer Einzelfallanalyse möglich.

Gruppenzusammenfassung

Diese Klassifikation richtet sich nach der Letalität der Verletzungen. AIS-Ausprägungen von 0, 1 und 2 haben eine sehr geringe Letalität und werden deshalb zu einer Gruppe zusammengefasst. Durch den Einschluss der AIS-Code-Ausprägung von 0 ergibt sich die Möglichkeit, auch nachträglich die Zahl der Verletzten der Grundgesamtheit der erhobenen Personen (oder Körperregionen) gegenüber zu stellen. Es werden also nicht nur verletzte Personen/Körperregionen betrachtet, sondern auch unverletzte, erhobene Personen. Verletzungen mit einem AIS-Code 3 weisen schon ein nicht unerhebliches Sterberisiko auf, das aber deutlich unter dem der AIS-4-,-5- und -6-Verletzungen liegt. Aus den so aggregierten Daten lassen sich MAIS-3+ und MAIS-4+ bestimmen.

Unterschieden wurde nach der Schwere der Verletzung aus Sicht des Verletzten. Fälle mit keiner oder leichten Verletzungen (AIS-Code 0 und 1) werden zu einer Gruppe zusammengefasst. Bei verschiedenen Erhebungen konnte gezeigt werden, dass es keine scharfe Grenze zwischen „unverletzt“ und „leicht verletzt“ gibt: Alleine durch die Möglichkeit einer finanziellen Kompensation für eine Verletzung führt ein vorher Unverletzter, möglicherweise Verletzungen an, die mit einem AIS-Code 1 bewertet werden müssen. Umgekehrt ist es möglich, dass Personen, die eine AIS-1-Verletzung bei einem Unfall erleiden (z. B. Prellung am Schienbein), dies nicht angeben, da sie die Prellung nicht als eigentliche Verletzung wahrnehmen. Durch den Einschluss der AIS-Code-Ausprägung von 0 lässt sich bei dieser Aggregation ebenfalls der Bezug zu der Zahl der insgesamt erhobenen Personen herstellen. Verletzungen mit einer AIS-Ausprägung von 2 und 3 sind aus Sicht des Patienten schwere und schmerzhafte Verletzungen, die sich aber deutlich von denen mit einem AIS 4, 5 oder 6 nach unten abgrenzen. Aus den aggregierten Daten lassen sich MAIS-2+ und MAIS-4+ berechnen.

Aus den Ausführungen über die Aggregation der Ausprägungen der Verletzungsschwere ergibt sich die in der Literatur häufig anzufindende Form: Unverletzte und leicht verletzte Personen (AIS 0 und 1) werden zusammengefasst. Die zahlenmäßig häufigen Ausprägungen von 2 und 3 werden separat kodiert. Durch Zusammenfassen der Ausprägungen 4, 5 und 6 befinden sich in den meisten Erhebungen auch in der Gruppe der sehr schwer Verletzten für eine statistische Auswertung genügend Fälle (Abb. 1). Aus den aggregierten Daten lässt sich neben MAIS-2+, MAIS-3+ und MAIS-4+ auch das Polytraumakriterium „ISS ≥16“ berechnen.

Abb. 1
figure 1

Halblogarithmische Darstellung der Letalität über dem aggregierten AIS-Code am Beispiel GIDAS. AIS Abbreviated Injury Scale, MAIS maximaler AIS-Wert, GIDAS German in Depth Accident Study

Nutzen einer standardisierten Klassifikation der Verletzungsschwere

Im unfallchirurgischen Fachgebiet sind zahlreiche Systeme etabliert wie z. B.

  • International Classification of Diseases (ICD),

  • Glasgow Coma Scale (GCS),

  • Injury Severity Score (ISS),

  • Trauma Score (TS),

  • Revised Trauma Score (RTS),

  • Hannover Polytraumaschlüssel (PTS),

  • New Injury Severity Score (NISS),

  • Acute Physiology and Chronic Health Evaluation (APACHE) oder

  • TRISS (Trauma Injury Severity).

Die AIS kann hier als universeller Grundscore für Einzelverletzungen verstanden werden. Mehrfachverletzte werden mit dem ISS und MAIS (maximaler AIS) oder dem NISS beschrieben. Beide korrelieren mit der Letalität und der durchschnittlichen Hospitalisationszeit [4].

Traumascoresysteme sind meist für ganz unterschiedliche Ziele definiert [19].

Da beim ISS nur die schwerste Verletzung einer Körperregion berücksichtigt wird und weitere Verletzungen der gleichen Körperregion vernachlässigt werden, kann es bei bestimmten Patienten zu einer Unterschätzung der Verletzungsschwere kommen [24]. Der NISS ignoriert die Körperregionen und bewertet die 3 schwersten Einzel-AIS zum Quadrat. Neuere Arbeiten sprechen diesem System eine mindestens gleichwertige Aussagekraft gegenüber MAIS und ISS zu [12].

Nutzen und Grenzen der Systeme

Nutzen und Grenzen der einzelnen Scoresysteme werden kritisch aufgrund der AIS-Einstufungen diskutiert. Hier sind die unterschiedlichen Verletzungsarten zwischen Nordamerika und Europa ein Hauptargument. Bei Extremitätenverletzungen kommen andere Kriterien in den Vordergrund, die nicht in ihrer Schwere ausreichend abgebildet sind [6]. Weiterhin berücksichtigt die AIS das Patientenalter nicht. Außerdem ist der Unfallmechanismus nicht damit abgebildet (Hoch- vs. Niedrigenergietrauma).

Beispielhaft sei hier die Datenerfassung der Unfallforschung der Medizinischen Hochschule Hannover und der Technischen Universität in Dresden im Rahmen der German In Depth Accident Study (GIDAS) dargestellt. Die Verkehrsunfallforschung untersucht in Hannover seit über 30 Jahren kontinuierlich Unfälle im Straßenverkehr mit Personenschäden im Großraum Hannover und im Rahmen der GIDAS seit 1999 an 2 Standorten. Die Datenerhebung beginnt am Unfallort und wird bis in die erstversorgende Klinik fortgesetzt. An beiden Standorten werden nach einem statistischen Stichprobenplan jährlich etwa 1000 Unfälle mit Personenschaden repräsentativ erfasst und dokumentiert (http://www.gidas.org [20]). Mit Hilfe der erstversorgenden Klinik werden die Verletzungsarten registriert und dokumentiert. Eine Übersicht der aktuellen Datenbanken der Unfallforschungen Hannover und Dresden mit über 35.000 erfassten Personen bis Anfang 2010 geben Tab. 4 und Abb. 1.

Tab. 4 Häufigkeit der AIS-Codes in der National Trauma Database [10][11]) und in GIDAS, Einzelverletzungen (AIS), verletzte Personen (MAIS)

In der GIDAS-Datenbank wird jede Verletzung im Detail kodiert. Die genaue Definition erfolgt anhand der AIS, wobei wenn immer möglich weitere Klassifizierungen (z. B. Aitken, Weber, LeFort) hinzugefügt werden. Da die Unfallaufnahmeteams auch die weitere Behandlung in der Klinik verfolgen, werden gleichermaßen Informationen über Soforttherapie, Klinikbehandlung und Rehabilitation dokumentiert.

Einführung der AIS-2005 in die GIDAS-Datenbank

Mit der Einführung der AIS-2005 in die GIDAS-Datenbank wurden zahlreiche Schwierigkeiten identifiziert. Als wichtigster Punkt ist hier die korrekte Zuordnung der Verletzung und des adäquaten AIS-Codes zu nennen, der immer wieder zu fehlerhaften Kodierungen in der Datenbank führte (Tab. 3). Gleichermaßen fanden sich wiederholt nichtexistierende AIS-Spezifikationen in der Datenbank, die auf Eingabefehlern oder irrtümlichen Rekombinationen beruhten. Weiterhin gab es einzelne Verletzungen, die verschiedene Kodiermöglichkeiten erlaubten und zu inkonsistenten Codes führten und damit Filterstrategien in der Datenanalyse behinderten. Nicht zuletzt war eine sinnvolle Kodierung unbekannter Verletzungen nahezu unmöglich.

Die neue AIS-2005 war eine attraktive Gelegenheit, diese Schwierigkeiten anzugehen. Nach der Übersetzung wurde die AIS über eine ID direkt mit der Datenbank in Relation gesetzt, um Eingabefehler sofort zu vermeiden. Durch die noch bessere Übereinstimmung der Version 2005 mit anderen Klassifikationssystemen und dem GIDAS-Codebook selbst konnte sogar eine automatisierte Eingabe spezifizierender Variablen für einige Verletzungen umgesetzt werden. Weiterhin ist so die gleichzeitige Erfassung der AIS in den Versionen 2005-Update 2008 und 1990-Update 1998 möglich, um in der Datenanalyse eine kontinuierliche und vergleichbare Auswertung existierender und zukünftiger Unfälle zu gewährleisten und eine Verzerrung auf Grund der Kodierung von realen Trends im Unfallgeschehen zu unterscheiden.

Da weiterhin Codes für die Erfassung unbekannter Verletzungen notwendig waren, um die Tatsache festzuhalten, dass mehr Verletzungen vorlagen als tatsächlich Kodiert werden konnten, wurden neue AIS-Codes für diese Traumata mit begrenzten Informationen erstellt. So wurden 3 Codes eingeordnet, welche die Erfassung einer unbekannten tödlichen Verletzung im Falle des Todes eines Beteiligten, einer unbekannten schweren Verletzung bei stationär aufgenommenen Patienten und einer unbekannten leichten Verletzung bei ambulant versorgten Patienten ermöglichen. Ein weiterer hinzugefügter Code ermöglicht die Beschreibung einer gänzlich unbekannten Verletzung.

Durch diese Schritte ist eine Harmonisierung der Daten möglich und eine Grundlage für ein einfacheres Filtern in der Datenbank geschaffen. Als weitere Schritte sind die breitere Zuordnung zusätzlicher Klassifikationen zum AIS-Katalog geplant (z. B. die Arbeitsgemeinschaft-für-Osteosynthesefragen- [AO-]Klassifikation), um den höheren Detaillierungsgrad der Version 2005-Update 2008 für die Kodierung in GIDAS zu nutzen. Durch diese direkte Zusammenführung können immer mehr Daten automatisiert zugeordnet werden, um eine höhere Fehlerfreiheit und damit bessere Grundlagen für die Datenanalyse mit GIDAS zu ermöglichen.

Fazit für die Praxis

Die Abbreviated Injury Scale (AIS) ist weiterhin als universelles Werkzeug zur methodischen Erfassung von Verletzungen anzusehen. Mit dem Update 2008 wurden etliche Klassifikationsdefizite verbessert. Die Kodierungsmöglichkeiten sind jetzt präzisier und v. a. für die Extremitätenverletzungen dank der „localizer“ detaillierter möglich. Auf dieser Basis könnten auch bekannte Defizite der auf der AIS aufbauenden Scoringsysteme verbessert werden. Die computergestützte Verarbeitung und Analyse wurde durch strukturelle Veränderungen ebenfalls optimiert. Die AIS-2005-Update 2008 bietet eine exzellente Möglichkeit, Verletzungen objektiv zu klassifizieren und so medizinisch Informationen auch fachfremden Nutzern zukommen zu lassen.