Zusammenfassung
Hintergrund
Rückenschmerzen sind eine der häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit in den Industrienationen. Operative Tätigkeiten gehen häufig mit starken HWS-Beschwerden einher. Bislang existieren hierzu im HNO-Bereich kaum Untersuchungen, inwieweit die Arbeitshaltung oder unterschiedliche Operationstechniken als Belastungsindikatoren zu bewerten sind.
Material und Methoden
Haltung und Bewegung der Wirbelsäule wurden mit Hilfe eines neu entwickelten Analyseverfahrens (3-D-SMG, „SpineMoveGuard“) erfasst. Die explorative Einzelfallstudie dokumentiert insgesamt 6 Nasennebenhöhlenoperationen in unterschiedlicher Operationstechnik (Mikroskop, Endoskop oder Stirnlampe).
Ergebnisse
Sagittale Abweichungen von der Neutral-Null-Position (Flexion) waren am stärksten ausgeprägt. Zusätzlich waren HWS und LWS überwiegend mehrdimensional verdreht. Die Analyse der Wirbelsäulendynamik ergab für 65–90% der Tätigkeitsdauer statische Arbeitshaltungen. Arbeiten mit dem Mikroskop waren am stärksten mit der Isometrie verknüpft.
Schlussfolgerungen
Die Daten der explorativen Einzelfallanalyse sprechen aufgrund der ermittelten Zwangshaltungen in verdrehter Oberkörperposition für eine hohe tätigkeitsspezifische Wirbelsäulenbelastung. Neben Ableitung individueller Empfehlungen ermöglicht die Methode auch die objektive Evaluierung ergonomischer Maßnahmen.
Abstract
Background
Back pain is a common cause of sick leave in industrialized countries. Performing surgery is often associated with considerable cervical spine disorders. However, only a few studies have examined to what extent working posture or individual surgical techniques can be seen as stress indicators.
Material and Methods
Posture and movement of the spine and trunk were assessed by means of a newly developed analysis system (3-D-SMG). The individual-case study was carried out during six sinus operations using varying techniques (microscope, endoscope or headlamp only).
Results
Spine and trunk deviation from neutral position (upright standing) was strongest in the sagittal plane. Awkward distortions were primarily observed in the cervical and lumbar spine. The analysis of work characteristics revealed static postures in 65–90% of sinus operations. Isometric positions were mainly related to microscopic surgery.
Conclusions
The data from this explorative individual-case study indicate that prevalence and magnitude of forced isometric and awkward postures are strongly associated with work-related spinal stress in sinus surgery. The new measurement device enables not only the recommendation of individual preventive strategies but also the objective evaluation of ergonomics.
Avoid common mistakes on your manuscript.
Etwa 80% der Bevölkerung der Industrienationen haben wenigstens einmal im Leben Rückenschmerzen [24, 25]. Die höchsten Prävalenzraten treten bei Personen im „mittleren“ Lebensalter auf. Lumbale und zervikale Schmerzen zählen zur häufigsten Ursache für Arbeitsunfähigkeit [7, 17]. Besonders gravierend ist die Tatsache, dass die überwiegend unspezifische Schmerzproblematik mit hohen Rezidivraten verbunden ist. Die Vermeidung von längeren Schmerzepisoden ist entscheidend, um das hohe Chronifizierungspotenzial zu reduzieren und Arbeitsunfähigkeiten zu verringern.
Tätigkeitsspezifische Risikofaktoren für Wirbelsäulenbeschwerden sind v. a. für biomechanische Belastungskenngrößen dokumentiert: Besonders das Hantieren mit schweren Lasten, aber auch ungünstige Körperhaltungen (gebückt, verdreht, statisch, dynamisch) provozieren vermehrt Schmerzen [13, 14]. Darüber hinaus sind zahlreiche Kofaktoren bekannt, die überwiegend unter „psychosoziale“ Stressoren subsumiert werden [15]. Diese scheinen insbesondere an wiederholten Schmerzepisoden beteiligt zu sein [30].
Um Empfehlungen zur Belastungsreduktion ableiten zu können, wurden zahlreiche Analyseverfahren (messtechnische Systeme, Beobachtungsverfahren, Befragungen) entwickelt. Allerdings steht aufgrund der spezifischen Ausrichtung der Berufskrankheitenverordnung (BK-Nr. 2108 und 2109) die Lastenhandhabung im Fokus dieser Verfahren, obwohl aus epidemiologischen Studien bekannt ist, dass Haltungen und Bewegungen von Oberkörper und Wirbelsäule eigenständige Risikofaktoren darstellen [8]. Zudem ist bekannt und hinreichend dokumentiert, dass arbeitsbedingte Rückenschmerzen nicht nur in Berufsgruppen mit Traglasten auftreten [22]. Allerdings gibt es bislang keine geeigneten Verfahren, um Haltung und Bewegung des Rumpfes während der Arbeitstätigkeit valide zu objektivieren. Für zahlreiche Berufsgruppen können daher Interventions- und Präventionsstrategien nur unzureichend begründet werden. Dies gilt auch für die operativen Arbeitsgebiete.
Wirbelsäulenbelastung bei Operationstätigkeiten
Derzeit gibt es noch keine verlässlichen Zahlen zur Rückenschmerzprävalenz von Operateuren. Dennoch ist von einer starken Verbreitung und hohen Intensität der Beschwerden auszugehen [5]. Aufgrund der unzureichenden Analysemöglichkeiten liefern die wenigen vorhandenen Studien lediglich qualitative Ergebnisse von Befragungen oder Beobachtungsanalysen [5]. Diese deuten darauf hin, dass „ungünstige“, „einseitige“, „verdrehte“ und/oder „monotone“ Körperhaltungen mit Wirbelsäulenbeschwerden von Operateuren zusammenhängen [5, 28]. Spezielle Belastungs- und Risikofaktoren der Wirbelsäule konnten dagegen nicht umfassend quantifiziert werden: Die existierenden Analyseverfahren fokussieren hauptsächlich auf die obere Extremität (Hände, Arme, Schultern) und auf ergonomische Aspekte der Operationsinstrumente [2, 6, 9, 20]. Belastungen im Bereich der Halswirbelsäule konnten beispielsweise bislang nicht erfasst werden.
Während die Lagerung des Patienten große Beachtung findet, um gesundheitlichen Schäden durch die Operationslage vorzubeugen, werden präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Haltungsschäden des Personals in der Operationsplanung nur selten berücksichtigt. Da eine ausreichende Quantifizierung von Haltungen und Bewegungen des Oberkörpers während Operationstätigkeiten bis dato nicht möglich war [23, 29], ist das Auftreten und die Ausprägung relevanter tätigkeitsbezogener Belastungskenngrößen (Position, Dynamik, Dauer) noch weitgehend unbekannt. Die diesbezüglich fehlende Genauigkeit bisher vorhandener Messverfahren erschwert einerseits den Vergleich unterschiedlicher Tätigkeiten innerhalb einer Berufsgruppe bzw. mit anderen exponierten Berufsgruppen. Andererseits sind für gezielte Maßnahmen im Bereich der Prävention und Ergonomie exakte Kenntnisse der Risikoverhältnisse bzw. Tätigkeitsanforderungen notwendig [27].
Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde erstmals mit Hilfe eines miniaturisierten dreidimensionalen Analyseverfahrens („3-D-SpineMoveGuard“) ein zeitlich hoch aufgelöstes, dreidimensionales Haltungs- und Bewegungsprofil der Wirbelsäule bei Operationstätigkeiten im HNO-Bereich erstellt. Die häufig durchgeführte Operation im Bereich der Nase und Nasennebenhöhlen erfordert eine leicht vornübergebeugte und nach links verdrehte Körperhaltung. Hierdurch kann die Blickachse des Operateurs mit der Mittellinie des Patienten in Übereinstimmung gebracht werden. Das Operationsmikroskop fixiert hierbei den Operateur in einer Position, während endoskopische Techniken das Herabbeugen an die Nasenregion des Patienten erfordert. Die Nutzung der Stirnlampe bietet die Möglichkeit zur freieren Auswahl der Körperhaltung, belastet jedoch durch ihr Gewicht und Lichtleiterzug die Halswirbelsäule zusätzlich. Bislang ist allerdings unklar, welche Auswirkungen die unterschiedlichen Arbeitsweisen auf die Wirbelsäulenbelastung haben und ob Unterschiede objektivierbar sind.
Ziel war es daher, Oberkörperhaltungen und Wirbelsäulenbewegungen bei Nasennebenhöhlen-Operationen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Operationstechniken zu vergleichen. Auf diese Weise soll exemplarisch die Bedeutung kinematischer Risikofaktoren bei Operationstätigkeiten untersucht werden.
Studie und Methoden
Die vorliegende Studie wurde der Ethikkommission der Deutschen Sporthochschule Köln vorgestellt und durch ein positives Votum genehmigt. Sämtliche Datenschutzbestimmungen für wissenschaftliche Studien werden nach Maßgabe und Genehmigung des Landesdatenschutzbeauftragten Nordrhein-Westfalen eingehalten.
Datenerhebung
Zur Analyse von Haltung und Bewegung der Wirbelsäule und des Oberkörpers erfolgte die Datenerfassung mit Hilfe des Analyseverfahrens „SpineMoveGuard“ (3-D-SMG). Das 3-D-SMG ist ein weiterentwickeltes Messsystem zur Ermittlung eines dreidimensionalen Haltungs- und Bewegungsprofils der Wirbelsäule sowie der sagittalen Rumpfneigung. Die umfangreiche Analysesoftware „JSpinal“ ermöglicht eine zeitlich aufgelöste Bewertung der haltungsbezogenen Wirbelsäulenbelastung.
Dreidimensionales Messsystem „SpineMoveGuard“
Grundlage des Systems „SpineMoveGuard“ (3-D-SMG) ist der ultraschallbasierte sonoSens®-Monitor (Fa. Friendly Sensors AG, Jena). Die Messtechnik des Verfahrens ist bereits anderweitig ausführlich dokumentiert [3, 12, 16] und wird daher nur kurz skizziert. Vier miniaturisierte Ultraschallempfänger- und -senderpaare werden auf anatomisch definierten Stellen des Rückens geklebt, sodass Hals- (HWS), Brust- (BWS) und Lendenwirbelsäulensegmente (LWS) messtechnisch erfasst werden können. Als Messgröße wird mit einer Frequenz von 10 Hz die Distanz zwischen Sender- und Empfängerpaar kontinuierlich ermittelt. Längenänderungen gehen mit einer kürzeren bzw. längeren Ultraschalllaufzeit zwischen Sender- und Empfängerpaar einher. Die Daten des 12-kanaligen Messsystems repräsentieren ein 3-D-Modell (Sagittal-, Frontal- und Horizontalebene) der äußerlich erfassten Wirbelsäulenform.
Neben der Erfassung von Längenänderungen der Wirbelsäule ist zur Quantifizierung von Wirbelsäulenbelastungen auch die zeitsynchrone Bestimmung der sagittalen Oberkörperneigung erforderlich. Hierzu wird ein sagittaler Neigungssensor verwendet, der unabhängig von Wirbelsäulenbewegungen die Neigungspositionen des Oberkörpers in Winkelgrad erfasst. Mit Hilfe des 3-D-SMG können über einen Zeitraum von 10 h kontinuierlich Haltung und Bewegung des Oberkörpers dreidimensional und hoch aufgelöst aufgezeichnet werden.
Software „JSpinal“
Zur Bewertung der zeitlich hoch aufgelösten Daten werden die Messwerte mit der neu entwickelten Analysesoftware „JSpinal“ bearbeitet. Hierdurch ist es möglich, segmentbezogen
-
Ultraschallrohdaten mit einer Referenzposition (z. B. aufrecht stehen) in Beziehung zu setzen,
-
Ultraschallrohdaten (mm) in relative Längenindizes (Längenänderungen im Verhältnis zur Referenzposition: sagittaler Längenindex (SLI), frontaler Längenindex (FLI), horizontaler Längenindex (HLI)) umzurechnen und damit interindividuell vergleichbar zu machen,
-
die Richtung der Bewegung bzw. Position der Haltung (Flexion/Extension, rechts/links) anhand der Längenindizes bewerten zu können,
-
eine statische/schematische Datenanalyse durchzuführen, um die Häufigkeit von Wirbelsäulen- und Oberkörperpositionen abzubilden,
-
eine dynamische Datenanalyse durchzuführen, um Dauer, Häufigkeit und Amplitude von Bewegungen sowie Dauer, Häufigkeit und Wirbelsäulenposition von Isometriephasen zu quantifizieren und
-
eine zeitlich aufgelöste Bewertung der Daten vorzunehmen, um Haltungsänderungen im zeitlichen Verlauf einer Tätigkeit zu erkennen.
Untersuchungsablauf
Nach Instrumentierung des 3-D-SMG am Operateur wurden zur Ermittlung der maximal willkürlich erreichbaren Bewegungsamplituden standardisierte Körperhaltungen in sagittaler, frontaler und horizontaler Körperebene eingenommen [3]. Des Weiteren erfolgte die kurzzeitige (30 s) Einnahme der Referenzposition „aufrecht stehen“ (Körperhaltung gemäß Handbuch der Ergonomie). Die Daten dieser Referenzposition wurden zur Berechnung segmentbezogener, relativer Längenindizes verwendet.
Nach Beendigung der Referenzdatenermittlung erfolgte die Datenaufzeichnung (etwa 5 h) im Operationssaal. Sechs operative Eingriffe im Bereich der Nase (Septumplastik und Conchotomie) und Nasennebenhöhlen bds. wurden dokumentiert:
-
Alle Operationen wurden in klassischer Körperhaltung durchgeführt (seitlich stehend neben dem Patienten, Kopf über dem Rumpf des Patienten, Blickrichtung in der medianen Patientenachse).
-
Insgesamt wurden 6 Operationen mit unterschiedlichen Sehhilfen (2-mal Mikroskop, 2-mal Endoskop, 2-mal Stirnlampe) durchgeführt (Abb. 1).
-
Alle Operationen wurden durch einen mit allen Techniken vertrauten Operateur (n=1) durchgeführt, um die Vergleichbarkeit der Op.-Techniken zu verbessern und die benötigten Op.-Zeiten konstanter zu halten.
-
Anamnese und MRT-Untersuchung der Wirbelsäule ergaben keine Vorerkrankungen der HWS bzw. pathologische Auffälligkeiten.
Datenbewertung und Statistik
In die Analyse wurden nur Aufzeichnungsphasen der Operationstätigkeiten ohne Arbeitspausen aufgenommen. Aufgrund der exemplarischen Einzelfallanalyse wurde keine prüfende Statistik durchgeführt. Die deskriptiven Analysen wurden mit SPSS© 17.0 durchgeführt. Die Daten wurden als Häufigkeits- und Perzentilverteilungen (5., 25., 50., 75., 95.) dargestellt.
Ergebnisse
Im folgenden Abschnitt werden das Spektrum und die Dynamik der Wirbelsäulen- und Oberkörperpositionen während der gesamten Operationstätigkeit sowie differenziert für einzelne Operationstechniken dargestellt (Abb. 1 a–c).
Maximale willkürliche Haltungsamplituden
In Tab. 1 ist segmentbezogen und indexspezifisch das maximal willkürlich erreichbare Haltungsspektrum dargestellt. Die Daten dokumentieren einerseits die Symmetrie/Asymmetrie des individuellen Haltungsspektrums, andererseits dienen die Amplituden als Referenzwerte für das Haltungs- und Bewegungsspektrum während der Operationstätigkeiten (Abb. 2, Tab. 2).
Haltungs- und Bewegungsspektrum der Wirbelsäule
In Abb. 2 wird differenziert für die Wirbelsäulensegmente (HWS, BWS, LWS) sowie innerhalb der 3 Bewegungsebenen (SLI, FLI, HLI) das Haltungs- und Bewegungsprofil während der Operationstätigkeiten gezeigt. Im Abgleich mit den maximal willkürlich erreichten Haltungsamplituden (Tab. 1) kann die Intensität der Abweichung von der Neutral-Null-Position (aufrecht stehen) beurteilt werden. Das sagittale Aktionsspektrum ist am stärksten ausgeprägt. Die geringsten Abweichungen von der aufrechten Körperhaltung ergeben sich für Rotationen (HLI). Darüber hinaus ist zu erkennen, dass im Mittel (Median) die sagittale LWS-Position einer aufrecht stehenden Körperhaltung entspricht – bei einer gleichzeitigen Rumpfvorneigung von im Mittel (Median) 10°. BWS und HWS (SLI) sind während der gesamten Operationstätigkeiten fast ständig leicht flektiert.
Eine Differenzierung des Haltungsspektrums zwischen den einzelnen Operationstechniken ist anhand der Perzentilverteilungen (Abb. 3, Tab. 2) möglich. Insgesamt ergeben sich die größten Differenzen innerhalb der Sagittalebene (SLI). Während die Mikroskopietätigkeiten in einer nahezu aufrechten Körperhaltung verrichtet werden können, ist für die Operationstätigkeiten mit dem Endoskop eine dauerhafte Flexion der Wirbelsäule wie auch des Oberkörpers erforderlich. Operative Eingriffe, die lediglich durch eine Stirnlampe visuell unterstützt werden, werden ebenfalls in vorgeneigter Körperhaltung – mit Ausnahme der LWS – durchgeführt. Interessanterweise differiert das Haltungsspektrum auch in der Frontalebene (FLI – Seitneigungen) zwischen Mikroskopie (leichte Seitneigung links) und Endoskopie/Stirnlampe (leichte Seitneigung rechts). Für Rotationen (HLI) können keine systematischen Abweichungen ausgemacht werden.
Neben der isolierten Betrachtung von Wirbelsäulenstellungen innerhalb einer Körperebene kann darüber hinaus ebenfalls quantifiziert werden, wie häufig mehrdimensional verdrehte Oberkörperhaltungen aufgetreten sind. Die Tab. 3 zeigt zusammenfassend und segmentbezogen sowie getrennt für die Operationstätigkeiten die nach Amplituden (von klein bis groß) gestuften Kombinationshäufigkeiten. Während im HWS-Segment kaum Differenzen zwischen den 3 Bedingungen auszumachen sind, ergibt sich im Bereich von BWS und LWS eine klare Stufung: Mikroskopisch unterstützte Eingriffe werden in klein- bis mittelamplitudig verdrehten Positionen durchgeführt, während Eingriffe mit Endoskop bzw. Stirnlampe überwiegend mit mittel- bis großamplitudigen Haltungskombinationen erfolgen.
Bewegungsdynamik vs. Isometrie
Die automatisierte Bewegungsanalyse führt zu einem einheitlichen Ergebnis für die Bewegungsamplituden – und zwar in allen Segmenten – wie auch für die 3 Operationstechniken (Tab. 4). Im Mittel (Median) liegt die Bewegungsamplitude bei etwa 1,3% und ist damit als klein (<2%) zu bewerten. Bei etwa 5% der Tätigkeiten (95. Perzentil) treten mittel- bis großamplitudige Bewegungen auf. Zusammenfassend ist die Bewegungsdynamik als kleinamplitudig bzw. gering zu bewerten.
Die weiterführende Bewegungsanalyse summiert die Häufigkeiten von Isometriephasen sowie Bewegungsphasen. Der Anteil der Isometriephasen umfasst etwa 70%, während dynamische Anteile nur etwa ein Drittel der Operationstätigkeiten ausmachen. Die stärkste Ausprägung von Zwangshaltungen liegt bei mikroskopischen Eingriffen vor (90% der Operationszeit). Mit etwa 65% überwiegen statische Arbeitshaltungen auch bei endoskopischen Operationen. Im Vergleich zu den anderen Operationstechniken fällt dieser Anteil hier aber deutlich geringer aus. Aus Tab. 5 und Tab. 6 geht hervor, dass besonders bei mikroskopischen Operationen die Häufigkeit wie auch die Dauer der Isometriephasen sehr hoch ist (s. 75. und 95. Perzentile in Tab. 6).
Diskussion
Die Ergebnisse der Einzelfalluntersuchung sind selbstverständlich nicht repräsentativ und können beispielsweise interindividuelle Unterschiede nicht abbilden. Primäres Ziel der vorliegenden Untersuchung war hingegen die Analyse der kinematischen Wirbelsäulenbelastungen während typischer Operationstätigkeiten bei Nasennebenhöhleneingriffen. Bisher gibt es keine derartigen Haltungs- und Bewegungsprofile, obwohl die hohe Relevanz für Wirbelsäulenbelastungen seit langem bekannt ist.
Die erstmals während HNO-Operationstätigkeiten erhobenen Daten geben wichtige Hinweise zur kinematischen Belastungscharakteristik, zu Bewertungsmöglichkeiten für unterschiedliche Arbeitstechniken sowie für präventive Maßnahmen. Damit konnten die wesentlichen kinematischen Belastungskenngrößen für die Wirbelsäule detailliert und objektiv quantifiziert werden. Charakteristisch für die untersuchten Operationstätigkeiten sind Dauerzwangshaltungen in teilweise stark verdrehten Oberkörperpositionen. Die zeitgleich mit der oberen Extremität durchzuführenden feinmotorischen Arbeiten verstärken zusätzlich die Zwangshaltungscharakteristik im Schulter-Nacken-Bereich [21, 29]. Die Analysen deuten darauf hin, dass die gesundheitlich ungünstigen biomechanischen Belastungsfaktoren eher durch die ermittelten Dauerzwangshaltungen und nicht, wie in anderen beruflichen Bereichen, durch Lastenhandhabung bedingt sind [1, 6].
Statische Muskelarbeit, die u. a. durch Dauerzwangshaltungen bedingt sein kann, führt zu einer verminderten Durchblutung der Muskulatur. Die für die Durchblutung kritische Okklusionskraft liegt je nach Muskel zwischen 30 und 70% der maximalen willkürlichen Kraft. Strömungswirksame Durchflussbehinderungen treten bei statischer Arbeit bei vergleichsweise geringen Kräften und bereits innerhalb der ersten Arbeitsminute auf [18]. In der Folge kumulieren im extrazellulären Raum vermehrt Metabolite, die aufgrund der reduzierten Blutzirkulation nur bedingt abtransportiert werden können [4, 18]. Neben den perfussions- und stoffwechselbedingten Volumen- und Konzentrationsverschiebungen können auch die einseitigen mechanischen Gewebekompressionen an der akuten Belastungs- und Schmerzgenese beteiligt sein [4, 26]. Über interstitielle Nervenendigungen (Chemo- und Mechanorezeptoren) langsamer afferenter Nervenfasern (Gruppe III und IV) können nicht nur Kreislauf- und Atemantriebe, sondern auch reflektorisch Schmerzphänomene und muskuläre Tonusänderungen ausgelöst werden [4, 18, 26]. Die durch ungünstige Körperhaltungen hervorgerufenen muskulären Verspannungen und Beschwerden werden häufig unter dem myofaszialen Schmerzsyndrom subsumiert [11]. Des Weiteren werden häufige und länger andauernde asymmetrische Wirbelsäulenstellungen als Belastungskenngröße für die Bandscheibenstrukturen diskutiert. Die isometrische Belastung kann somit zu einer reduzierten Stoffwechselrate des Bandscheibengewebes mit möglichen degenerativen Veränderungen führen. In der Folge können durch asymmetrische/exzentrische Bandscheibenbelastungen auch Mikrotraumata entstehen [10, 19].
Während bislang in den Studien zur Ergonomie im Operationssaal überwiegend die Operationsinstrumente sowie der Operationstisch im Fokus standen, belegen die vorliegenden Daten erstmals die hohe spezifische Wirbelsäulenbelastung bei Operationen. Aufgrund der hohen Präzision des 3-D-SMG-Verfahrens lassen sich sogar Haltungs- und Bewegungsprofile während unterschiedlicher Operationstechniken differenziert abbilden. Damit besteht die Möglichkeit, in Zukunft ergonomische Maßnahmen am Arbeitsplatz besser zu quantifizieren und bewerten zu können. Auf Grundlage der Voruntersuchungen sollen zukünftig anhand eines größeren und gemäß DIN 33419 definierten Studienkollektivs weitere Analysen durchgeführt werden. Hiermit können dann arbeitsplatzbedingte Belastungskenngrößen von individuellen Verhaltensmustern abgegrenzt werden. Darüber hinaus sollte eine berufsgruppenspezifische Befragung zur psychosozialen Dimension von Rückenschmerzen durchgeführt werden.
Bereits jetzt bieten sich jedoch aufgrund der vorliegenden Ergebnisse konkrete Hinweise für bewegungs-/sporttherapeutische Interventionen an: Sinnvoll scheinen für Operateure z. B. dynamische, auflockernde Bewegungen der Wirbelsäule zwischen den statischen Tätigkeiten zu sein. Statische Übungen, wie sie teilweise in klassischen Rückenschulprogrammen angeboten werden, sind u. U. kontraindiziert. Operateure könnten stattdessen beispielsweise kleine gymnastische Übungen immer wieder in den Operationsablauf integrieren (z. B. alle 2–3 min den Kopf und Rumpf aufrichten und zur Gegenseite rotieren). Dies gilt besonders für den Schulter-HWS-Bereich. Die genannte Maßnahme wurde zur Vermeidung von Verspannungen der HWS am Ende des Arbeitstags bereits in einer HNO-Klinik angewendet und vom Personal als positiv empfunden. Eine Verlängerung der Operationszeit ist durch die kurzen gymnastischen Übungen nicht eingetreten.
Fazit für die Praxis
Die dreidimensionalen Belastungsprofile während HNO-typischen Operationstätigkeiten zeigen, dass
-
Wirbelsäulenbelastungen v. a. durch die kaum zu beeinflussenden Operationsbedingungen (liegender Patient, feinmotorische Eingriffe, eingeengtes Blickfeld usw.) verursacht werden, die durchaus zur Entwicklung tätigkeitsbedingter Wirbelsäulenbeschwerden führen können,
-
die Wirbelsäulenbelastungen auch von der angewendeten Eingriffstechnik (z. B. Mikroskopie, Endoskopie oder Stirnlampe) abhängig sind,
-
der Nutzen ergonomischer Maßnahmen (Reduzierung der Wirbelsäulenbelastung) mit dem entwickelten Verfahren quantifiziert werden kann und
-
aus dem ermittelten Belastungsprofil erste Hinweise für therapeutische Interventions- und Präventionsmaßnahmen abgeleitet werden können.
Zur berufsgruppenspezifischen Bewertung der Wirbelsäulenbelastung und zur Empfehlung geeigneter präventiver Maßnahmen sind weiterführende Studien mit größeren Probandenkollektiven notwendig.
Literatur
Albayrak A, Veelen MA van, Prins JF et al (2007) A newly designed ergonomic body support for surgeons. Surg Endosc 21:1835–1840
Ayad T, Péloquin L, Prince F (2005) Ergonomics in endoscopic sinus surgery: systematic review of the literature. J Otolaryngol 34:333–340
Baum K, Hoy S, Essfeld D (1997) Continuous monitoring of spine geometry: a new approach to study back pain in space. Int J Sports Med 18:331–333
Baum K, Selle K, Leyk D, Essfeld D (1995) Comparison of blood pressure and heart rate responses to isometric exercise and passive muscle stretch in humans. Eur J Appl Physiol 70:240–245
Berguer R (1999) Surgery and ergonomics. Arch Surg 134:1011–1016
Berguer R, Smith WD, Chung YH (2001) Performing laparoscopic surgery is significantly more stressful for the surgeon than open surgery. Surg Endosc 15:1204–1207
BKK Bundesverband (2006) BKK Gesundheitsreport 2006. Demographischer und wirtschaftlicher Wandel – gesundheitliche Folgen. Essen
Davis KG, Marras WS (2000) The effects of motion on trunk biomechanics. Clin Biomech 15:703–717
Emam TA, Frank TG, Hanna GB, Cuschieri A (2001) Influence of handle design on the surgeon’s upper limb movements, muscle recruitment, and fatigue during endoscopic suturing. Surg Endosc 15:667–672
Esola MA, McClure PW, Fitzgerald KG, Siegler S (1996) Analysis of lumbar spine and hip motion during forward bending in subjects with and without a history of low back pain. Spine 21:71–78
Fricton JR, Kroening R, Haley D, Siegert R (1985) Myofascial pain syndrome of the head and neck: a review of clinical characteristics of 164 patients. Oral Surg Oral Med Oral Pathol 60:615–623
Friedrich M (2002) Measuring lumbar sagittal posture in sewgae workers using an ultrasonic device. J Musculoskelet Res 6:135–145
Harkness EF, Macfarlane GJ, Nahit ES et al (2003) Risk factors for new onset low back pain amongst cohorts of newly employed workers. Rheumatology 42:959–968
Hoogendoorn WE, Bongers PM, Vet HCW et al (2000) Flexion and rotation of the trunk and lifting at work are risk factors for low back pain: Results of a prospective cohort study. Spine 25:3087–3092
Hoogendoorn WE, Poppel MNM van, Bongers PM et al (2000) Systematic review of psychosocial factors at work and private life as risk factors for back pain. Spine 25:2115–2125
Koop S, Friedrich M, Pfaff G, Langbein U (2003) Beeinflussung des funktionellen Bewegungsraumes von Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule durch Aufbissbehelfe. Man Med 41:39–51
Kumar S (2001) Theories of musculoskeletal injury causation. Ergonomics 44:17–47
Leyk D (1999) Kreislauf und Sport: Einstellung und Kontrolle der peripheren Durchblutung. Sport und Buch Strauß. Köln
Li L, Patel N, Solomonow D et al (2007) Neuromuscular response to cyclic lumbar twisting. Hum Factors 49:820–829
Manasnayakorn S, Cuschieri A, Hanna GB (2009) Ergonomic assessment of optimum operating table height for hand-assisted laparoscopic surgery. Surg Endosc 23:783–789
Matern U, Waller P (1999) Instruments for minimal invasive surgery. Principles of ergonomic handles. Surg Endosc 13:174–182
Michaelis M, Hofmann F, Bolm-Audorff U et al (2007) Risikobranchen und –berufe für die Entwicklung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule – Ergebnisse der Deutschen Wirbelsäulenstudie. Zbl Arbeitsmed 57:277–286
Person JG, Hodgson AJ, Nagy AG (2001) Automated high-frequenzy posture sampling for ergonomic assessment of laparoscopic surgery. Surg Endosc 15:997–1003
Schmidt CO, Kohlmann T (2005) Was wissen wir über das Symptom Rückenschmerz. Epidemiologische Ergebnisse zu Prävalenz, Inzidenz, Verlauf, Risikofaktoren. Z Orthop 143:292–298
Schneider S, Schmitt H, Zoller S, Schiltenwolf M (2005): Workplace stress, lifestyle and social factors as correlates of back pain: a representative study of the German working population. Int Arch Occup Environ Health 78:253–269
Sjøgaard G, Lundberg U, Kadefors R (2000) The role of muscle activity and mental load in the development of pain and degenerative processes at the muscle cell level during computer work. Eur J Appl Physiol 83:99–105
Stone R, McCloy R (2004) Ergonomics in medicine and surgery. BMJ 328:1115–1118
Veelen MA van, Goossens RHM (2005) Ergonomics in surgery. In: Waaed D de, Brookhuis KA, Egmond R van, Boersem T (eds) Human factors in design, safety and management. Sharker Publisihing, Maastrich, Netherlands, pp 387–395
Vereczkei A, Bubb H, Feussner H (2003) Laparoscopic surgery and ergonomics. It’s time to think of ourselves as well. Surg Endosc 17:1680–1682
Waddell G, Burton AK (2001) Occupational health guidelines for the management of low back pain at work: evidence review. Occup Med 51:124–135
Danksagung
Gefördert durch BMVg M/SAB1/4/A/009.
Interessenkonflikt
Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Wunderlich, M., Jacob, R., Stelzig, Y. et al. Analyse der Wirbelsäulenbelastung bei Operationstätigkeiten in der HNO-Heilkunde. HNO 58, 791–798 (2010). https://doi.org/10.1007/s00106-010-2091-0
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00106-010-2091-0