Zusammenfassung
Hintergrund
Während sich die Verteilung und die Bedeutung einzelner Infektionskrankheiten durch Migrationsbewegungen und importierte Infektionen in Europa verändern, ist der Umfang der Weiterverbreitung von importierten Infektionen innerhalb Europas unbekannt. Asylsuchende können besonders vulnerabel für Infektionen und das Auftreten von Krankheiten sein.
Ziel der Arbeit
Das Ziel ist die Auswertung der Informationen zur Weiterverbreitung von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende, um relevante Infektionskrankheiten und geeignete Public-Health-Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung zu identifizieren.
Methoden
Die Meldedaten gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) von 2004 bis 2014 wurden systematisch auf Ausbrüche untersucht, bei denen als Infektionsumfeld Gemeinschaftsunterkünfte von Asylsuchenden angegeben wurden. Diese Ausbrüche wurden deskriptiv in Hinblick auf den auslösenden Erreger und die Ausbruchsgröße sowie Fallcharakteristika ausgewertet.
Ergebnisse
Von 2004 bis 2014 wurden insgesamt 119 Ausbrüche mit 615 Fällen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende gemäß IfSG übermittelt. Für zwei Masernausbrüche ist eine Verbindung mit Fällen außerhalb der Unterkunft für Asylsuchende dokumentiert. Die Fälle wurden in absteigender Häufigkeit verursacht durch Windpocken (30 %), Masern (20 %), Skabies (19 %), Rotavirus-Gastroenteritis (8 %), sowie andere Krankheiten (jeweils <5 %). Für 210 von 311 Fällen in Ausbrüchen im Jahr 2014 wurde ein Infektionsort angegeben, 87 % hatten die Infektion in Deutschland erworben.
Diskussion
Ausbrüche von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende nehmen zu, insbesondere Windpocken, Masern und Skabies. Eine Ausdehnung der Ausbrüche über die Gemeinschaftsunterkunft hinaus ist nur in Einzelfällen beschrieben. Die auslösenden Infektionskrankheiten sind häufig in Deutschland erworben. Der überwiegende Anteil von Fällen wäre entsprechend durch Maßnahmen der Primärprävention in Deutschland vermeidbar.
Abstract
Background
Migration and imported infections are changing the distribution of infectious diseases in Europe. However little is known about the extent of transmission of imported diseases within Europe. Asylum seekers are of increasing importance for infectious disease epidemiology and can be particularly vulnerable for infections and disease progression due to stressful conditions of migration and incomplete vaccination status.
Objectives
The aim is to analyse transmission of infectious diseases in centralized homes for asylum seekers in national infectious disease surveillance data to identify relevant infectious diseases and possible public health measures to reduce transmission.
Methods
German national notification data was systematically analysed from 2004 to 2014 for outbreaks reported to have occurred within centralized homes for asylum seekers followed by descriptive analysis of outbreak- and case-characteristics.
Results
From 2004 to 2014 the number of outbreaks in centralized homes for asylum seekers per year increased, a total of 119 outbreaks with 615 cases were reported. Cases in these outbreaks were caused by chicken pox (30 %), measles (20 %), scabies (19 %), rota-virus-gastroenteritis (8 %) and others (each <5 %). Of 119 outbreaks, two outbreaks of measles in centralized homes were connected to outbreaks outside the centralized homes. For 210 of 311 cases in 2014 the place of infection was reported, 87 % of those with known place of infection were infected in Germany.
Conclusions
Infectious disease outbreaks in centralized homes for asylum seekers are reported increasingly often in Germany. Chicken pox, measles and scabies were the most frequent outbreak causing diseases. Spread of such outbreaks outside centralized homes for asylum seekers was rare and infectious diseases are mainly acquired in Germany. The majority of outbreaks in centralized homes for asylum seekers would be preventable with vaccinations at arrival and appropriate hygiene measures.
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Globale Migrationsbewegungen beeinflussen die Epidemiologie von Krankheiten weltweit [1]. Die Gesundheitscharakteristika verschiedener Gruppen von MigrantenFootnote 1 in Hinblick auf Infektionskrankheiten sind heterogen und gekennzeichnet durch die Epidemiologie im Herkunftsland, die Umstände während der Flucht oder Migration und die Epidemiologie im Zielland sowie durch die Dauer des Aufenthalts im Herkunftsland, in Transitländern und im Zielland [1–3].
Während sich Verteilung und Bedeutung einzelner Infektionskrankheiten durch Migrationsbewegungen und damit verbundene importierte Infektionen in Europa verändern, ist der Umfang der Übertragung und Weiterverbreitung von importierten Infektionen innerhalb Europas unbekannt [4]. Häufiger als Übertragungen von importierten Infektionen [5, 6] sind bisher Ausbrüche durch in Europa erworbene Infektionen unter Migranten beschrieben worden [4, 7–11].
Asylsuchende, die eine zunehmend große und infektionsepidemiologisch relevante Gruppe unter den Migranten in Deutschland darstellen [12, 13], können, durch die Migration unter belastenden Bedingungen, einen möglicherweise unvollständigen Impfschutz und der teilweise engen räumlichen Situationen in den Aufnahmeeinrichtungen besonders vulnerabel für Infektionen und das Auftreten von Krankheiten sein.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist deshalb die Auswertung der Informationen zur Weiterverbreitung von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende, die im Rahmen der bundesweiten infektionsepidemiologischen Surveillance gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) erhoben werden, um relevante Infektionskrankheiten und geeignete Public-Health-Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung zu identifizieren.
Methoden
Meldewesen und Aufenthaltsstatus
In § 6 Abs. 1 Nr. 1 und § 7 Abs. 1 IfSG ist festgelegt, welche Krankheiten und welche Nachweise von Krankheitserregern bundesweit meldepflichtig sind. Weiterhin ist das gehäufte Auftreten von Infektionskrankheiten bzw. Erregernachweisen gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 sowie § 7 Abs. 2 IfSG zu melden. Weitere Informationen zu dem gemeldeten Fall werden in unterschiedlichem Umfang von den Gesundheitsämtern erhoben und übermittelt. Während der Migrationshintergrund oder Aufenthaltsstatus für die meisten Einzelfallmeldungen bisher nicht systematisch erfasst wurde [14], kann für Ausbrüche von Infektionskrankheiten das wahrscheinliche Infektionsumfeld übermittelt werden – dabei kann systematisch seit 2004 auch die Unterbringung in einer „Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber und Flüchtlinge“ erfasst werden. Die Erfassung des Status „Asylsuchend“ war entsprechend nicht für sporadische Fälle von Infektionskrankheiten möglich, sondern nur für epidemiologisch zusammenhängende Fälle, die als Ausbruch in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende an das Robert Koch-Institut (RKI) übermittelt worden sind.
Suchstrategie
Die Meldedaten gemäß IfSG wurden systematisch auf Ausbrüche von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende in den Jahren 2004 bis 2014 (Datenstand 1. März 2015) untersucht. Zu diesem Zweck wurden erstens alle übermittelten Ausbrüche systematisch auf die Angaben Infektionsumfeld „Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber und Flüchtlinge“ durchsucht. Weiterhin wurden zweitens alle Kommentare zu Ausbrüchen, die als Ober- oder Teilausbrüche mit einem der gefundenen Ausbrüche verbunden waren, auf mögliche Zugehörigkeit zu einem Ausbruch in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende untersucht. Alle Kommentare zu Ausbrüchen und Fällen in Ausbrüchen wurden drittens systematisch auf die Suchtermini „*Flücht*“ und „*Asyl*“ durchsucht.
Im Rahmen einer weitergehenden Nachkontrolle aller Ausbrüche wurden in einem vierten Schritt all jene Ausbrüche ausgeschlossen, bei denen als Infektionsumfeld „Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber und Flüchtlinge“ angegeben war, die Annotation zum Ausbruch jedoch eindeutig auf ein anderes Infektionsumfeld hindeutete, sodass von Fehlklassifizierung ausgegangen werden muss (Beispiel Annotation „Bewohner eines Obdachlosenheims“). Außerdem wurden all jene Ausbrüche ausgeschlossen, deren Annotationen oder Annotationen zu Fällen zwar „*Flücht*“ und „*Asyl*“ enthielten, jedoch nicht eindeutig einem Ausbruchsgeschehen in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende zugeordnet werden konnten (Beispiel Annotation „Flüchtling“ ohne weitere Informationen, ob es sich um einen einzelnen oder mehrere betroffene Flüchtlinge handelt und ob es um einen Ausbruch in einer Gemeinschaftsunterkunft geht). Weiterhin wurden all jene Fälle ausgeschlossen, die Teilausbrüche von anderen Ausbrüchen bilden und zu Doppelzählungen geführt hätten. Zuletzt wurden Ausbrüche, die weniger als zwei Fälle beinhalteten, ausgeschlossen.
Definitionen
Ein Ausbruch ist definiert als die Verknüpfung im Meldesystem von mindestens zwei Fällen, die epidemiologisch zusammenhängen. Für zusammenhängende Ausbrüche und alle darin enthaltenen Fälle kann ein übergeordneter Ausbruch angelegt werden, wenn sich ein epidemiologischer Zusammenhang zwischen den Fällen der Ausbrüche ergibt. Für Ausbrüche, die als unbestimmte Ausbrüche übermittelt worden sind, wurde die auslösende Krankheit wenn möglich aus Freitextannotationen und Ausbruchsbeschreibungen ermittelt. Ein Ausbruch wird in dem Meldejahr gezählt und ausgewertet, in dem sein Meldebeginn liegt. Der Meldebeginn ist der Meldezeitpunkt des zuerst gemeldeten Falls, unabhängig davon, ob dieser die Referenzdefinition erfüllt. Bei der Ermittlung der Fallzahl eines Ausbruchs (Anzahl der enthaltenen Fälle) wurden nur die Fälle gezählt, die die Referenzdefinition gemäß Falldefinitionen des RKIs [15] erfüllen, es sei denn, es gibt keine Referenzdefinition des RKIs für die betreffenden Meldekategorien (z. B. Skabies, Läusebefall, Borkenflechte; außerdem Windpocken vor 2013 [16]); in diesem Fall wurden alle übermittelten Fälle gezählt.
Die Ausbruchsdauer wurde als Zeitdifferenz zwischen dem Erkrankungsbeginn (oder wenn nicht verfügbar: Meldedatum) des frühesten und des spätesten Falls, der die Referenzdefinition erfüllt und bei dem ein solches Datum vorlag, definiert.
Auswertung
Die Gesamtzahl der Ausbrüche pro Jahr sowie der Anteil der Ausbrüche in Gemeinschaftsunterkünften von Asylsuchenden an allen Ausbrüchen pro Jahr wurden grafisch dargestellt. Es werden bei der Darstellung des prozentualen Anteils nur Ausbrüche berücksichtigt, die auch in den jährlich im infektionsepidemiologischen Jahrbuch [17] veröffentlichten Zahlen von Ausbrüchen berücksichtigt werden (das bedeutet Ausbrüche von nicht meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserregern werden bei der Darstellung des Prozentwertes nicht berücksichtigt, z. B. Skabies, Läusebefall, Borkenflechte und Windpocken-Fälle, die in der Kategorie weitere bedrohliche Krankheiten gemeldet worden sind).
Die Fälle in den Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende wurden aufgeschlüsselt nach Krankheit und über die Zeit grafisch dargestellt. Der Anteil im Ausland erworbener Infektionen, Hospitalisierungen und Todesfälle unter den dargestellten Fällen wurde ausgewertet. Die Ausbruchsgröße und -dauer der zwei Krankheiten, die am häufigsten als Fälle in den Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende aufgetreten sind, wurde für das Jahr 2014 mit allen übermittelten Ausbrüchen 2014 verglichen. Für die Ausbruchsdauer wurden in Analogie zu den Auswertungen im infektionsepidemiologischen Jahrbuch nur Ausbrüche berücksichtigt, die fünf oder mehr Fälle beinhalteten.
Ergebnisse
Gemäß IfSG übermittelte Ausbrüche in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende
In den Jahren 2004 bis 2014 wurden insgesamt 119 Ausbrüche mit 615 Fällen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende gemäß IfSG an das RKI übermittelt (siehe Abb. 1).
29 % der Ausbrüche wurden durch Windpocken verursacht, 18 % durch Skabies, 12 % durch Masern, jeweils 8 % durch Tuberkulose und Rotavirus-Gastroenteritis, 4 % durch Salmonellose, jeweils 3 % durch Norovirus-Gastroenteritis und Influenza, die übrigen Krankheiten verursachten jeweils weniger als 3 % der Ausbrüche, zusammen 15 %.
Im Jahr 2014 sind 60 Ausbrüche von Infektionskrankheiten übermittelt worden und damit mehr als in den vorangegangenen zehn Jahren zusammen. Der Anteil von Ausbrüchen in Gemeinschaftseinrichtungen für Asylsuchende an allen übermittelten Ausbrüchen ist von <0,1 % im Jahr 2004 auf 1 % im Jahr 2014 gestiegen (siehe Abb. 2).
Für zwei Masernausbrüche in den Jahren 2013 und 2014 ist eine Verbindung mit später auftretenden Fällen außerhalb der Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende dokumentiert. Alle anderen 117 Ausbrüche wurden im Meldesystem des RKIs nicht mit Fällen außerhalb der Einrichtung in Verbindung gebracht.
Fälle in gemäß IfSG übermittelten Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende
Die Anzahl der Fälle in Ausbrüchen in Gemeinschaftseinrichtungen für Asylsuchende ist im Verlauf von 11 Fällen im Jahr 2004 auf 331 Fälle im Jahr 2014 gestiegen (siehe Abb. 2). Die Fälle in den Jahren von 2004 bis 2014 wurden in absteigender Häufigkeit verursacht durch Windpocken (30 %), Masern (20 %), Skabies (19 %), Rotavirus-Gastroenteritis (8 %), Salmonellose (4 %), Tuberkulose (3 %), Norovirus-Gastroenteritis (2 %) sowie andere und nicht erhobene Krankheiten (jeweils <2 %, zusammen 14 %) (siehe Abb. 3).
Von allen Fällen in Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende im Jahr 2014 (n = 331) wurden 27 % durch Windpocken verursacht, 25 % durch Masern sowie 22 % durch Skabies (siehe Tab. 1). 24 % aller Fälle in Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende 2014 wurden hospitalisiert (siehe Tab. 1).
Es wurde unter den 331 Fällen im Jahr 2014 kein Todesfall im Rahmen von Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende übermittelt. Die Dauer der Ausbrüche bei den häufigsten Krankheiten unter den Ausbrüchen 2014 in den Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende – Masern und Windpocken – war im Mittelwert länger als bei den übrigen 2014 gemeldeten Ausbrüchen (siehe Tab. 2).
Übertragungen von importierten Infektionskrankheiten
Für 210 Fälle in Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende im Jahr 2014 wurde ein wahrscheinlicher Infektionsort übermittelt, darunter hatten 87 % die Infektion in Deutschland erworben; für die übrigen 13 % wurde mindestens ein möglicher Infektionsort außerhalb Deutschlands übermittelt (siehe Tab. 1). Masern und Windpocken stellten zusammen 86 % der importierten Krankheiten dar. Bei den importierten nicht-impfpräventablen Krankheiten handelte es sich um a) zwei epidemiologisch zusammenhängende Fälle von Giardiasis, die beide importiert und symptomatisch waren und zu denen keine Folgefälle übermittelt wurden, b) einen Fall von Shigellose, der in einer Gemeinschaftsunterkunft zu einem Ausbruch mit insgesamt zwei betroffenen Fällen geführt hat, und c) einen Fall mit Hepatitis C, die sexuell in einer Gemeinschaftsunterkunft an eine weitere Person übertragen worden ist. Unter den Fällen bei denen der Infektionsort unbekannt war (n = 121) waren die häufigsten Krankheiten Skabies (n = 78), Windpocken (n = 21) und Masern (n = 5).
Diskussion
Sowohl die Gesamtanzahl als auch der Anteil der gemäß IfSG übermittelten Ausbrüche von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften von Asylsuchenden pro Jahr an allen Ausbrüchen hat sich im Verlauf von 2004 bis 2014 verzehnfacht. Mit einem Anteil von etwa 1 % aller Ausbrüche im Jahr 2014, aber nur etwa 0,2 % der Bevölkerung (2014: 173.072 Erstanträge auf Asyl) [12] sind Asylsuchende mit Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften überproportional häufig von Ausbrüchen von Infektionskrankheiten betroffen. Während im Jahr 2012 etwa 31 Fälle in Ausbrüchen pro 100.000 Asylsuchende (2012: 64.539 Erstanträge auf Asyl [12]) übermittelt worden sind, wurden 2013 etwa 69 Fälle in Ausbrüchen pro 100.000 Asylsuchende (2013: 109.580 Erstanträge auf Asyl [12]) übermittelt und im Jahr 2014 etwa 180 Fälle in Ausbrüchen pro 100.000 Asylsuchende (2014: 173.072 Erstanträge auf Asyl [12]). Diese erhöhte Betroffenheit kann in Zusammenhang mit der abnehmenden Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens in wichtigen Herkunftsländern [18, 19], niedrigeren Impfquoten und unzureichenden Impfangeboten in Deutschland, den schwierigen Lebensbedingungen während der Flucht und der zunehmenden Unterbringung in behelfsmäßigen und vollen Unterkünften in Deutschland stehen. Die steigende Anzahl von Ausbrüchen – im Jahr 2014 sind mehr Ausbrüche übermittelt worden als in den vorangegangenen zehn Jahren zusammen – deutet auf eine zunehmende Relevanz von Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften als Public-Health-Problem sowie auf einen zunehmenden Arbeitsaufwand für die zuständigen Gesundheitsämter hin. Die noch unbereinigten Meldezahlen für die ersten neun Monate des Jahres 2015 deuten auf einen weiteren Anstieg der übermittelten Ausbrüche von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende hin (unveröffentlichte Daten, RKI).
Die Hälfte der übermittelten Fälle in Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende ist durch impfpräventable Krankheiten hervorgerufen. Unter den übermittelten Fällen war der Anteil von Hospitalisierungen mit 43 % der Masernfälle und 17 % der Windpocken-Fälle sehr hoch; ob die Ursache der Schwere der Erkrankung oder den fehlenden Isolierungsmöglichkeiten in den Gemeinschaftseinrichtung geschuldet ist, kann aus den vorliegenden Daten nicht ermittelt werden. Die Immunität gegen Windpocken war in einer Untersuchung in Mecklenburg-Vorpommern bei Asylsuchenden deutlich niedriger als in der Allgemeinbevölkerung [20]. Die derzeitigen Impfempfehlungen des RKIs für Asylsuchende sehen eine frühzeitige Impfung gegen Varizellen bei Kindern bis 12 Jahre mit fehlender oder unbekannter Immunität vor [21].
Während alle Masernausbrüche 2014 nur einen Anteil von 1 % der übermittelten Ausbrüche darstellen [17], zeigte sich eine deutliche größere Bedeutung in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende und eine neue Herausforderung für die Masernelimination [22]. Da Masern eine sehr hohe Kontagiosität aufweisen und 95 % der ungeschützten Infizierten erkranken, wird international das Verabreichen einer Masernimpfung als prioritäre Maßnahme in humanitären Notsituationen, in denen nicht von einer Herdimmunität ausgegangen werden kann, empfohlen [23]. Frühzeitige niedrigschwellige Impfangebote gemäß den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) sind Maßnahmen, die Ausbruchsgeschehen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende in Deutschland effektiv verhindern und Folgekosten durch Komplikationen und Hospitalisierungen senken könnten.
Skabies-Ausbrüche nehmen in ihrer Anzahl zu und waren ursächlich für mehr als ein Fünftel aller Fälle in Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende im Jahr 2014. Fluchterfahrungen und Aufenthalt in Transitlagern sowie enge und improvisierte Unterbringungen in Deutschland können die Ursache für dieses vermehrte Auftreten von Skabies sein. Die Aufklärung über Symptome und Übertragungswege sowie das niedrigschwellige Angebot von Therapien können geeignete Möglichkeiten sein, die Weiterverbreitung zu beschränken.
Rotavirus-Gastroenteritis, Salmonellose und andere gastrointestinale Krankheiten bilden die dritte Krankheitsgruppe, die zusammen ebenfalls etwa ein Fünftel aller Fälle in Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende im Jahr 2014 verursacht hat. Durch eine systematische Aufklärung über Symptome und Hygienemaßnahmen sowie niedrigschwellige medizinische Betreuung, ebenso optimierte Hygiene- und Unterbringungsmaßnahmen, sollte das Risiko von Übertragungen minimiert werden.
Im Rahmen von Ausbrüchen wurden 2014 fünf Fälle von Tuberkulose in zwei Ausbrüchen übermittelt. Ein Ausbruch wurde durch einen symptomatischen Fall von Lungentuberkulose entdeckt, ein anderer durch das Röntgenscreening gemäß § 62 Asylverfahrensgesetz und § 36 Abs. 4 IfSG identifiziert. Ob die Fälle tatsächlich ursächlich zusammenhängen und die Übertragung in der Gemeinschaftsunterkunft oder schon vorher stattgefunden hat, kann aufgrund der begrenzten Information und der fehlenden molekularepidemiologischen Analysen nicht festgestellt werden. Die niedrige Anzahl von Ausbrüchen von Tuberkulose in Gemeinschaftseinrichtungen für Asylsuchende kann ein Effekt der präventiven Wirksamkeit des Screenings auf ansteckungsfähige Lungentuberkulose im Rahmen der Erstuntersuchung bei Aufnahme in eine Gemeinschaftseinrichtung gemäß § 62 Asylverfahrensgesetz und § 36 Abs. 4 IfSG sein. Bei 409 im Rahmen der Screeninguntersuchung identifizierten Tuberkulosefällen 2014 [24] wurde nur für einen Fall eine Übertragung an eine weitere Person in Deutschland übermittelt. Da die Screeninguntersuchung jedoch nur einen Zeitpunkt in einem dynamischen Erkrankungsverlauf abbildet, ist der niedrigschwellige Zugang zu medizinischer Versorgung Voraussetzung für das frühzeitige Erkennen weiterer möglicher Fälle von offener Lungentuberkulose und die Verhinderung der Weiterverbreitung [25].
Die Weiterverbreitung von sexuell und durch Blut übertragbare Krankheiten wie Hepatitis B und C wurden seit 2004 nur in einem Fall für eine sexuelle Hepatitis-Übertragung in einer Gemeinschaftseinrichtung für Asylsuchende beschrieben; ob die Übertragung in der Gemeinschaftsunterkunft oder schon vorher intrafamiliär stattgefunden hat, ist nicht bekannt.
Eine Verbreitung von Krankheiten in die Allgemeinbevölkerung durch Ausbrüche in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende ist nur in 1,7 % aller Ausbrüche, insgesamt bisher zweimal dokumentiert worden – bei beiden Vorgängen handelt es sich um Verknüpfungen von Fällen von Masern in der Gemeinschaftsunterkunft mit Fällen von Masern außerhalb der Einrichtung. Eine Übertragung von anderen Krankheiten, die als Ausbruch in Gemeinschaftsunterkünften begonnen haben, ist seit Beginn dieser Erfassung 2004 nicht übermittelt worden.
Unter allen Fällen in Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende, bei denen eine Angabe zum wahrscheinlichen Infektionsland verfügbar war, wurde 2014 bei 13 % ein wahrscheinlicher Expositionsort außerhalb Deutschlands angegeben. Während die importierten impfpräventablen Fälle den größeren Anteil unter den importierten Fällen ausmachten und zum Teil große Ausbrüche mit bis zu 48 Fällen in Gemeinschaftsunterkünften verursacht haben, wurden durch andere importierte Krankheiten (Shigellose und Hepatitis C) insgesamt zwei Folgefälle in Gemeinschaftsunterkünften im Jahr 2014 übermittelt.
Limitationen
Die dargestellten Daten beschreiben ausschließlich Fälle von Infektionskrankheiten, die epidemiologisch mit mindestens einem weiteren Fall zusammenhängen, und keine sporadischen Fälle. Sie können entsprechend nur die Weiterverbreitung von Fällen in Deutschland abbilden, nicht jedoch die Inzidenz (Gesamtzahl aller Fälle über einen bestimmten Zeitraum pro Anzahl Asylsuchende) bestimmter Infektionskrankheiten bei Asylsuchenden. Um zukünftig bessere Informationen zu Inzidenzen von Infektionskrankheiten bei Asylsuchenden zur Verfügung stellen zu können, werden seit Oktober 2015 zusätzliche Angaben bei Asylsuchenden von den Gesundheitsämtern übermittelt.
Die dargestellten Ausbrüche und Fälle sind zudem als absolute Anzahl dargestellt, da ein adäquater Nenner im Sinne der Anzahl der Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende nicht verfügbar ist. Die in der Diskussion beschriebene Gegenüberstellung der Anzahl der Ausbrüche zur Anzahl von Asylsuchenden ist insofern imperfekt und nur als Näherungswert zu sehen, da die Aufenthaltsdauer der Asylsuchenden in Gemeinschaftsunterkünften variiert und teilweise auch Asylsuchende, die in den vorangegangenen Jahren einen Asylantrag gestellt haben, noch in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, dadurch ist eine Überschätzung der Inzidenz bei der Verwendung der Asyl-Erstanträge als Nenner wahrscheinlich.
Weiterhin sind die Meldedaten gemäß IfSG von Untererfassung betroffen. Es werden nur diejenigen Erkrankungen oder Infektionen erfasst, die im medizinischen Versorgungssystem, also in der Regel von niedergelassenen Ärzten, Ärzten in Krankenhäusern oder Laboratorien erkannt werden. Ob sich jemand in medizinische Versorgung begibt, hängt unter anderem von der Schwere der Erkrankung und von der Erreichbarkeit der medizinischen Versorgung ab, diese ist insbesondere für Asylsuchende nicht immer barrierefrei erreichbar. Weiterhin hängen die diagnostischen Mittel, die Arzt oder Labore anwenden, mit der Schwere der Erkrankungen, aber auch mit der Abrechenbarkeit von Diagnostik und Therapie zusammen; für Asylsuchende sind diese Leistungen gemäß §§ 4 und 6 Asylbewerberleistungsgesetz eingeschränkt und können zu einer größeren Untererfassung führen.
Die Vollständigkeit der übermittelten Daten ist weiterhin, nebst anderem, abhängig von der Möglichkeit des Gesundheitsamtes, Informationen zu erheben und diese in der Meldesoftware zu dokumentieren und zu übermitteln; Ersteres ist sowohl von den personellen und zeitlichen Kapazitäten des Gesundheitsamtes abhängig als auch von möglichen Sprachbarrieren. Wenn die Untererfassung nicht während des gesamten betrachteten Zeitraums und für alle Krankheiten ähnlich ist, kann es weiterhin zu Verzerrungen hinsichtlich der Bedeutung einzelner Krankheiten kommen. Die Meldepflicht für Varizellen ist erst im März 2013 eingeführt worden [16], entsprechend ist die Untererfassung für Windpocken vor 2013 größer als in den folgenden Jahren. Die Umstellung aller Gesundheitsämter auf die Meldesoftware, die Windpocken-Fälle entsprechend übermitteln kann, ist noch nicht abgeschlossen. Eine zunehmende Anzahl übermittelter Windpocken-Ausbrüche durch zunehmende Verbreitung übermittlungsfähiger Software ist deshalb auch außerhalb von Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende in den Meldedaten zu verzeichnen.
In der Summe ist davon auszugehen, dass die Ausbrüche, die im Meldesystem als Ausbrüche von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende übermittelt sind, eher eine Mindestanzahl von Ausbrüchen repräsentieren als eine wirkliche Abbildung des Ausbruchsgeschehens in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende.
Schlussfolgerungen
Ausbrüche von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende nehmen zu. Von besonderer Bedeutung sind dabei Ausbrüche von Windpocken, Masern und Skabies. Eine Ausdehnung der Ausbrüche über die Gemeinschaftsunterkunft hinaus ist nur in Einzelfällen beschrieben. Die auslösenden Infektionskrankheiten sind selten importiert und häufig in Deutschland erworben. Der überwiegende Anteil von Fällen in Ausbrüchen in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende wäre entsprechend durch Maßnahmen der Primärprävention in Deutschland einschließlich Impfungen, Aufklärung und Hygienemaßnahmen vermeidbar.
Notes
Im vorliegenden Beitrag wird aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung nur die männliche (Berufs-/Personen-) Bezeichnung verwendet. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen gemeint.
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Danksagung
Die Autoren danken Hermann Claus für die methodische Beratung und die Entwicklung automatisierter Suchabfragen im Meldesystem. Die Autoren danken Michaela Diercke, Hermann Claus, Walter Haas, Anette Siedler und Klaus Stark für die wertvollen Kommentierungen des Manuskripts.
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A. Kühne und A. Gilsdorf geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Kühne, A., Gilsdorf, A. Ausbrüche von Infektionskrankheiten in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende 2004–2014 in Deutschland. Bundesgesundheitsbl 59, 570–577 (2016). https://doi.org/10.1007/s00103-016-2332-9
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