Wichtigste Neuerung auf dem Gebiet der Transfusionsmedizin war für alle transfundierenden Ärzte im Jahr 2008 die Verabschiedung der vierten Gesamtnovelle der Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten durch den Gesamtvorstand der Bundesärztekammer. Die erste Auflage der Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten wurde 1995 veröffentlicht. Weitere umfassend revidierte Auflagen erfolgten 2001 und 2003. Im Jahr 2002 wurde eine Teilrevision der zweiten Auflage herausgegeben.

Neue Ausgestaltung

Die Neuauflage der Leitlinien, die jetzt in Querschnitts-Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten umbenannt wurden, zeichnet sich durch eine Fokussierung auf Schlüsselempfehlungen aus. Erstmals seit dem Bestehen der Hämotherapie-Leitlinien wurde die Ausgestaltung gegenüber den vorhergehenden Ausgaben weiter systematisiert. In den jeweiligen Kapiteln werden klare Empfehlungen für die Auswahl und die Indikation zur Anwendung der jeweiligen Blutprodukte ausgesprochen, und diese Empfehlungen werden hinsichtlich ihrer Stärke und ihres Evidenzlevels klassifiziert. Die Klassifikation der Empfehlungen erfolgte durch die Mitglieder des Arbeitskreises im Rahmen eines strukturierten Konsensusverfahrens. Der Arbeitskreis entschied sich dabei bewusst dafür, von der Vorgehensweise bei der Erstellung von evidenzbasierten S2-Leitlinien abzuweichen und stellte die im wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer (BÄK) bewährten Konsensverfahren, insbesondere das umfangreiche Anhörungsverfahren der betroffenen Fachgesellschaften (u. a. der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, DGAI), in den Mittelpunkt der methodischen Verfahrensweise. Einzelheiten zur methodischen Vorgehenswiese bei der Erstellung der Querschnittleitlinien sind in einem gesonderten Leitlinienreport dargestellt (http://www.baek/.de; Leitlinien – Leitlinienreport).

Die Kennzeichnung der Qualität von Daten und Studien, auf denen die Empfehlungen basieren, erfolgte nach dem für die Leitlinien des American College of Chest Physicians (ACCP) zur Thromboseprophylaxe und -therapie entwickelten Konzept [1]. Die Auswahl der berücksichtigten Literatur erfolgte aufgrund der Expertise der Mitglieder des Arbeitskreises in den von ihnen verantworteten Kapiteln; eine systematische Literaturrecherche, wie sie bei der Erstellung von S2-Leitlinien üblich ist, wird für die nächste Überarbeitung der Querschnittleitlinien angestrebt. Die Empfehlungen werden wie folgt gekennzeichnet (Tab. 1):

Tab. 1 Klassifizierung der Empfehlungen zur Anwendung von Blutprodukten
  • Kennzeichnung des Grades der Empfehlung:

    • Grad 1: Empfehlungen, bei denen der Arbeitskreis aufgrund der vorliegenden Daten überzeugt war, dass bei ihrer Befolgung der Nutzen für den Patienten größer ist als eine mögliche Gefährdung;

    • Grad 2: Empfehlungen, bei denen keine klaren Daten über das Nutzen-Risiko-Verhältnis vorliegen.

  • Kennzeichnung des Evidenzlevels:

    • Qualität A: ausreichend große, prospektive, randomisierte Studien;

    • Qualität B: mehrere prospektive Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen oder mit methodischen Unzulänglichkeiten;

    • Qualität C: Fallbeobachtungen und nichtrandomisierte Studien;

    • Qualität C+: eindeutige und durch mehrere Untersuchungen bestätigte Schlussfolgerungen aus Fallbeobachtungen und nichtrandomisierten Studien.

In der Regel sollte der Evidenzgrad den Empfehlungsgrad bestimmen. Eine mittlere Evidenz sollte demnach zu einem mittleren Empfehlungsgrad führen. Aufgrund der oben genannten Systematik kann es jedoch zu einem begründeten Auf- oder Abwerten des Empfehlungsgrades gegenüber dem Evidenzgrad kommen (Tab. 1).

Bei der Formulierung der Empfehlungen wurde darauf geachtet, dass sie handlungsorientiert und leicht verständlich sind. Die Empfehlungen wurden daher vierstufig differenziert. Die Klassifizierung wurde durch die folgenden Modalverben sprachlich zum Ausdruck gebracht (Tab. 1):

  • soll: starke Empfehlung,

  • sollte: mittelstarke Empfehlung,

  • kann: schwache Empfehlung und

  • könnte: sehr schwache Empfehlung.

Die Querschnitts-Leitlinien geben in insgesamt 11 Kapiteln entsprechend der zuvor genannten Systematik Empfehlungen zur Therapie mit Erythrozytenkonzentraten (EK), Thrombozytenkonzentraten, Granulozytenkonzentraten, Plasma zur therapeutischen Anwendung, Humanalbumin, Faktor-VIII-Konzentraten, Faktor-VIII-/Von-Willebrand-Faktor-Konzentraten, Faktor-IX-Konzentraten, aktivierten Prothrombinkomplexkonzentraten, Prokoagulatoren, Inhibitoren, humanen Immunglobulinen und zur autologen Hämotherapie.

Kapitel 11 stellt sehr ausführlich unerwünschte Wirkungen bei der Anwendung der zuvor genannten Produkte dar. In einem Unterkapitel werden spezifische Empfehlungen zur Vermeidung von transfusionsassoziierten Zytomegalievirus- (CMV-)Infektionen gegeben (Abschn. 11.4.2). Zwei Maßnahmen sind prinzipiell wirksam, um das CMV-Übertragungsrisiko drastisch zu vermindern:

  • der Einsatz von zellulären Blutkomponenten von CMV-seronegativen Spendern und

  • die Leukozytendepletion zellulärer Blutkomponenten.

Die in Deutschland bei allen EK und Thrombozytenkonzentraten vorgeschriebene Leukozytendepletion bewirkt eine Abreicherung der zellständigen, latenten CMV und damit eine Reduktion der Inzidenz transfusionsassoziierter CMV-Infektionen bei gefährdeten Patientengruppen um ca. 90% [2]. Die Frage, ob das verbleibende Risiko durch Verwendung seronegativ-getesteter Blutspenden weiter gesenkt werden könnte, kann derzeit nicht abschließend beantwortet werden. Beim Einsatz einer der beiden Präventivmaßnahmen wird das Restrisiko mit 1,5–3% für Risikopatienten nach Stammzelltransplantation angegeben [2]. Der Arbeitskreis kam daher zu folgender Empfehlung:

Die Auswahl CMV-seronegativer Blutspender für die Gewinnung von leukozytendepletierten Blutkomponenten zur Vermeidung einer CMV-Infektion wird nicht empfohlen (2 C).

Kap. 1 „Erythrozytenkonzentrate“

Die wichtigsten Empfehlungen aus Kap. 1 „Erythrozytenkonzentrate“, das für das Fachgebiet der Anästhesiologie von besonderer Bedeutung ist, sollen im Folgenden dargestellt werden. Dabei wird auf die den Empfehlungen zugrunde liegenden Daten eingegangen.

In einer kurzen Einführung werden zunächst die unterschiedlichen verfügbaren Erythrozytenpräparate charakterisiert (leukozytendepletiertes EK in Additivlösung, gewaschenes EK, kryokonserviertes EK, bestrahltes leukozytendepletiertes EK). Anschließend werden die in den Richtlinien der BÄK genau aufgeführten Qualitätskriterien [3], die vor jeder Transfusion eingehalten werden müssen, kursorisch aufgeführt.

Ausführlicher werden die physiologischen Funktionen von EK und die Folgen der Lagerung von Eyrthrozyten beschrieben sowie hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz bewertet.

Lagerungsschäden

Beginnend unmittelbar nach der Spende kommt es in EK während der Lagerung außerhalb des Organismus zu zeitabhängigen Veränderungen, die sowohl die Erythrozyten als auch den Plasmaüberstand betreffen ([4, 5, 6, 7]; Tab. 2). Die lagerungsbedingten Veränderungen der Erythrozyten sind zum Teil in vivo innerhalb von 48–72 h nach Transfusion reversibel (z. B. 2,3-Diphosphoglyzerat-Gehalt; [8]).

Tab. 2 Veränderungen in Erythrozytenkonzentraten während der Lagerung außerhalb des Organismus

Während experimentelle Daten den Zusammenhang zwischen der Dauer der EK-Lagerung und der Gewebeoxygenierung belegen [9, 10], kamen klinische Studien zu widersprüchlichen Ergebnissen [11, 12]. Die 2,3-Diphosphoglyzerat-Depletion scheint hinsichtlich der Gewebeoxygenierung zumindest nach Transfusion nur weniger EK von geringer Bedeutung zu sein [13]. Bei operativen Patienten und kritisch Kranken zeigten einige Studien eine Assoziation zwischen der Lagerungsdauer transfundierter EK und der Mortalität, der Morbidität, der Liegedauer sowie der Infektionsrate [6, 14, 15, 16, 17, 18, 19]. Insbesondere bei Intensivpatienten fanden zahlreiche, allerdings meist Observationsstudien eine Assoziation zwischen der Anzahl der transfundierten EK und der Inzidenz nosokomialer Infektionen [20]. Neue Daten von herzchirurgischen Patienten weisen daraufhin, dass die Transfusion länger als 14 Tage gelagerter EK in dieser Patientengruppe mit erhöhten Komplikations- und Mortalitätsraten assoziiert ist [21]. Einen Zusammenhang zwischen der EK-Lagerungsdauer und dem Wachstum von Tumoren beschreibt eine aktuelle experimentelle Untersuchung [22].

Die klinische Bedeutung der Lagerungsschäden kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ein großer Teil dieser Studien vor Einführung der Leukozytendepletion (in Deutschland seit 2001) durchgeführt wurde, bleibt die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die heutige Situation unklar. Zumindest eine – erst nach Abschluss der Datensammlung für die Querschnitts-Leitlinien publizierte – große Observationsstudie an Intensivpatienten fand keinen Zusammenhang zwischen der Erythrozytentransfusion und der Mortalität; in dieser Studie waren 75% der transfundierten EK leukozytendepletiert [23]. Daher formulierte der Arbeitskreis hinsichtlich der Verwendbarkeitsdauer von EK die in Tab. 3 aufgeführten Empfehlungen.

Tab. 3 Anwendung von Erythrozytenkonzentraten (EK) in Abhängigkeit von ihrer Lagerungsdauer

Allgemeine Grundsätze

Im Abschn. 1.5 „Anwendung, Dosierung, Art der Anwendung“ werden Indikationen zur Transfusion von EK sowie allgemeine Grundsätze der Transfusion behandelt.

Hier wird erstmals in Leitlinien das eigentliche therapeutische Ziel der Transfusion von Erythrozyten formuliert: die Vermeidung (oder Therapie) einer manifesten anämischen Hypoxie. Dementsprechend heißt es im Text:

„Die Gabe von EK ist angezeigt, wenn Patienten ohne Transfusion durch eine anämische Hypoxie aller Voraussicht nach einen gesundheitlichen Schaden erleiden würden und eine andere, zumindest gleichwertige Therapie nicht möglich ist“. (Abschn. 1.5.1.1 „Allgemeine Grundsätze“)

Weiterhin wird klar gestellt, dass aufgrund der unspezifischen klinischen Symptome einer Anämie bei der rationalen Indikationsstellung zur Transfusion neben der gemessenen Hämoglobin- (Hb-)Konzentration zusätzliche Kriterien herangezogen werden müssen (Infobox 1).

Da die gemessene Hb-Konzentration allein kein suffizientes Kriterium zur Diagnose einer anämischen Hypoxie ist, werden in den Querschnitts-Leitlinien erstmals klinische Symptome aufgeführt, die bei laborchemisch gesicherter Anämie und erhaltener Normovolämie auf eine anämische Hypoxie hinweisen können (physiologische Transfusionstrigger, Infobox 2, [24, 25, 26, 27]). Treten diese klinischen Symptome bei akuter Anämie auf, muss zum Ausschluss einer manifesten hypoxischen Anämie in der Regel transfundiert werden.

Gerade in der perioperativen Medizin und Intensivmedizin kommt den zuletzt genannten Kriterien bei der Indikationsstellung zur Transfusion erhebliche Bedeutung zu. Die frühzeitige Detektion der meisten physiologischen Transfusionstrigger erfordert ein entsprechendes Monitoring [z. B. kontinuierliches Elektrokardiogramm (EKG), zentraler Venenkatheter (ZVK), transösophageale Echokardiographie (TEE) etc.], das perioperativ sowie auf der Intensivstation häufig verfügbar ist und dann auch herangezogen werden sollte.

Ein weiterer wichtiger Grundsatz hat erstmals Eingang in Leitlinien gefunden: Aufgrund der aktuellen Datenlage wird festgestellt, dass eine restriktive Indikationsstellung zur Erythrozytentransfusion die Exposition mit Fremdblut vermindert und bei den meisten Patientengruppen nicht mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko einhergeht [28, 29, 30]. Für kritisch Kranke wird im Folgenden spezifiziert, dass sowohl kritisch kranke Erwachsene als auch Kinder hinsichtlich Morbidität und Mortalität von restriktiven Transfusionsstrategien, die Hb-Konzentrationen zwischen 7 und 9 g/dl (4,3 mmol/l und 5,6 mmol/l) als Zielwerte vorsehen, profitieren [31, 32]. An dieser Stelle muss ergänzt werden, dass auch die aktuellen Empfehlungen zur Therapie der Sepsis eine Hb-Konzentration in diesem Bereich bei Patienten ohne kardiovaskuläre Risiken als adäquat ansehen und die Gabe von EK erst beim Unterschreiten dieser Werte empfehlen [33, 34]. Allerdings werden für die initiale Stabilisierung des septischen Schocks höhere Hb-Zielwerte postuliert (Hb 10 g/dl, 6,2 mmol/l; [33]).

Akute Anämie

In den Abschn. 1.5.1.2 und 1.5.1.3 wird hinsichtlich der Indikation zur Erythrozytentransfusion zwischen akuter und chronischer Anämie differenziert.

Bei akuter Anämie wird ausdrücklich die Voraussetzung einer Normovolä mie für die Kompensationsfähigkeit des verminderten Sauerstoffgehalts im Blut betont. Unter normovolämischen Bedingungen tolerieren Patienten mit normaler Herz-Kreislauf-Funktion einen Abfall der Hb-Konzentration auf ca. 5 g/dl (3,1 mmol/l) ohne eine kritische Verminderung der globalen Sauerstoffversorgung [35, 36].

Erstmals wird aufgrund von klinischen Beobachtungen und unter Berücksichtigung von Risikofaktoren ein kritischer Grenzwert der absoluten Indikation zur Substitution mit EK genannt: eine Hb-Konzentration 5,0–4,5 g/dl (3,1–2,8 mmol/l) wird als absoluter Grenzwert der Transfusionsbedürftigkeit angenommen [35, 37, 38].

Die rechtzeitige Transfusion von Erythrozyten wird als lebenserhaltend eingestuft, wenn eine aktive Blutung und Zeichen der Hypoxie vorliegen (physiologische Transfusionstrigger) sowie im hämorrhagischen Schock. Bei massivem Blutverlust und nichtgestillter Blutung (z. B. polytraumatisierter Patient, gastrointestinale Blutung) wird in der Akutphase empfohlen, neben EK auch Plasmen, Gerinnungsprodukte und Thrombozyten nach festen Schemata zu geben [39, 40]. Dabei sind aufgrund der günstigen Effekte höherer Hämatokrit- (HKT-)Werte auf die primäre Hämostase Hb-Konzentrationen im Bereich von 10 g/dl (6,2 mmol/l, HKT 30%; [41]) anzustreben. Als Sofortmaßnahme bei akuter Blutung wird aufgrund der sofortigen Verbesserung der Gewebeoxygenierung durch Anstieg des physikalisch im Blut gelösten Sauerstoffs die Gabe von bzw. die Beatmung mit reinem Sauerstoff empfohlen [42].

Ein ganzer Absatz der Querschnitts-Leitlinien widmet sich der Indikation zur Transfusion bei kardiovaskulären Risikopatienten mit akuter Anämie. Kernaussage ist, dass bei bekannter koronarer Herzkrankheit, Herzinsuffizienz oder zerebrovaskulärer Erkrankung keine ausreichenden Daten vorliegen, um eine Grenze der Transfusionsbedürftigkeit eindeutig festzulegen. Trotz der limitierten Datenlage werden für umschriebene Situationen Orientierungswerte für die Transfusionsindikation gegeben:

  • Hämodynamisch stabile kardiovaskuläre Risikopatienten ohne Anzeichen einer anämischen Hypoxie – ohne „physiologische Transfusiontrigger“ – profitieren bei Hb-Konzentrationen zwischen 8 und 10 g/dl (5 und 6,2 mmol/l) nicht von Erythrozytentransfusionen [43, 44, 45].

  • Hb-Konzentrationen von 7–8 g/dl (4,3–5 mmol/l) werden von stabilen kardiovaskulären Risikopatienten ohne bleibende hypoxische Schädigungen toleriert.

  • Ein Absinken der Hb-Konzentration unter 7 g/dl (4,3 mmol/l) geht mit einer Zunahme der Morbidität und Mortalität einher [31, 37, 41, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53].

Aufgrund der aktuellen Datenlage muss geschlossen werden, dass die „liberale“ Transfusion von Eyrthrozyten auch bei kardialen Risikopatienten die Prognose nicht verbessert [54].

Die Aussagen der Querschnitts-Leitlinien der BÄK sollen an dieser Stelle durch Empfehlungen anderer Fachgesellschaften zur Transfusionsindikation bei kardiochirurgischen Patienten ergänzt werden: Aufgrund der nachgewiesenen Risiken und des zweifelhaften „benefit“ sollte auch bei diesen Patienten die Indikation zur Transfusion restriktiv gestellt werden [54]. Die Society of Thoracic Surgeons und die Society of Cardiovascular Anesthesiologists empfehlen dementsprechend, dass nach kardiochirurgischen Eingriffen die Transfusion von Erythrozyten bei Hb-Konzentrationen unter 6 g/dl (3,7 mmol/l) lebensrettend und indiziert ist (Klasse-C-Empfehlung); bei Hb-Konzentrationen unter 7 g/dl (4,3 mmol/l) scheinen Transfusionen für die meisten Patienten indiziert („vernünftig“), auch wenn diese Empfehlung nicht mit einen hohen Evidenzgrad belegt werden kann (Klasse-C-Empfehlung; [55]). Stabile kardiochirurgische Patienten mit adäquater kardialer Revaskularisation und ausreichender kardialer Pumpfunktion scheinen bei Hb-Konzentrationen von 7–10 g/dl (4,3–6,2 mmol/l) nicht generell von Erythrozytentransfusionen zu profitieren; in diesem Hb-Bereich muss die Indikationsstellung stets individuell unter Berücksichtigung der aktuellen klinischen Situation getroffen werden (z. B. physiologische Transfusionstrigger, Volumenstatuts, pulmonale, kardiale, renale und zerebrovaskuläre Funktion, Risiko der Nachblutung). Bei Hb-Konzentrationen über 10 g/dl (6,2 mmol/l) verbessern Transfusionen die Gewebeoxygenierung nicht, und eine Transfusion ist auch bei kardiochirurgischen Patienten so gut wie nie indiziert [55].

Die klinisch wissenschaftliche Diskussion um die individuelle Indikationsstellung zur Transfusion von Erythrozyten bei akuter Anämie wird in den Querschnitts-Leitlinien in einer Tabelle (dort Tab. 1.5.1.2.2) zusammengefasst, in der unter Berücksichtigung der aktuellen Hb-Konzentration, der Kompensationsfähigkeit, kardiovaskulärer Risikofaktoren und klinischer Hinweise auf eine manifeste anämische Hypoxie (physiologischer Transfusionstrigger) unter Angabe des Evidenzlevels konkrete Empfehlungen ausgesprochen werden (Tab. 4).

Tab. 4 Empfehlungen zur Transfusion von Erythrozyten bei akuter Anämie unter Berücksichtigung der aktuellen Hämoglobinkonzentration, der Kompensationsfähigkeit, des Vorhandenseins kardiovaskulärer Risikofaktoren und klinischer Hinweise auf eine manifeste anämische Hypoxie

Chronische Anämie

Für Patienten mit chronischer Anämie wird zunächst festgestellt, dass langfristige Adaptationsvorgänge unter Normalbedingungen die Gewebeoxygenierung sichern, sich aber der klinische Verlauf der Erkrankung durch die Anämie trotzdem verschlechtern kann (z. B. bei Herzinsuffizienz; [56, 57, 58, 59, 60]. Entsprechend ist bei Hb-Konzentrationen bis zu 8,0–7,0 g/dl (5,0–4,3 mmol/l) ohne Vorliegen kardiovaskulärer Risikofaktoren eine EK-Transfusion nicht indiziert, solange keine anämischen Symptome auftreten. Bei kardiovaskulären Risikopatienten mit chronischer Anämie, insbesondere bei solchen mit schwerer Herzinsuffizienz, ist ein Anheben der Hb-Werte bis in den Normbereich mit einer Verbesserung der Lebensqualität und Belastungsfähigkeit sowie mit einer Verminderung von Mortalität, Morbidität und Krankenhausbehandlungen assoziiert [56, 57].

Im Weiteren wird auf die Transfusionsindikationen bei speziellen Formen der chronischen Anämie wie die Anämie infolge primärer oder sekundärer Knochenmarkinsuffizienz, die nichtimmunologisch bedingten, hämolytischen Anämien und autoimmunhämolytischen Anämien (AIHA) vom Wärmetyp eingegangen.

Für die perioperative Medizin ist von Bedeutung, dass bei Patienten mit chronischer Anämie während akuter Blutverluste dieselben Kompensationsmechanismen wirksam werden wie bei Patienten ohne chronische Anämie. Eine vorbestehende chronische Anämie impliziert also nicht die bessere Toleranz noch niedrigerer Hb-Konzentrationen. Daraus folgt für die Praxis, dass Patienten mit chronischer Anämie bei einem zusätzlichen akuten Abfall der Hb-Konzentration nach denselben Grundsätzen behandelt werden müssen, wie Patienten ohne vorbestehende chronische Anämie.

Besonderheiten der EK-Transfusion im Kindesalter

In einem Extraabschnitt (Abschn. 1.5.5) wird auf Besonderheiten der EK-Transfusion bei Kindern eingegangen. Da zur Festlegung von Indikationen und/oder zur Ermittlung einer optimalen EK-Dosierung in dieser Altersgruppe nur wenige aktuelle Übersichten und Leitlinien existieren, bleibt der Evidenzgrad der Empfehlungen meist gering [61, 62, 63, 64, 65].

Hinsichtlich der Transfusionsindikation wird zwischen Früh- und Neugeborenen, Kindern jünger als 4 Monate und älteren Kindern differenziert.

Bei Früh- und Neugeborenen wird empfohlen, dass, anders als beim Erwachsenen, zur akuten Behandlung eines blutungsbedingten Volumenmangels bereits initial EK gegeben werden sollen. Weitere Transfusionskriterien sind in Tab. 5 zusammengefasst [64, 65, 66, 67].

Tab. 5 Indikationen zur Erythrozytenkonzentrattransfusion bei Früh-/Neugeborenen und Säuglingen bis zum vierten Lebensmonat

Bei Kindern älter als 4 Monate und akutem Blutverlust kann – wie beim Erwachsenen – bei normaler Herz-Kreislauf-Funktion ein Abfall der Hb-Konzentration bis auf 7–6 g/dl (4,3–3,7 mmol/l, HKT 21–18%) durch alleinige Volumensubstitution kompensiert werden. Analog zum Erwachsenen sollte bei instabilen Kreislaufverhältnissen eine Hb-Konzentration von ca. 10 g/dl (6,2 mmol/l) angestrebt werden. Ansonsten werden die in Tab. 6 aufgeführten Transfusionskriterien empfohlen.

Tab. 6 Indikationen zur Erythrozytenkonzentrattransfusion bei Kindern nach dem vierten Lebensmonat

Anders als beim Erwachsenen wird die Dosierung der Erythrozyten nicht in Einheiten bemessen, sondern muss gerade bei sehr kleinen Kindern berechnet werden. Das Transfusionsvolumen lässt sich annäherungsweise wie folgt errechnen:

(Equ1)

aBlutvolumen bei Neugeborenen: ca. 90 ml/kgKG, Blutvolumen bei älteren Kindern: ca. 80 ml/kgKG.

Das übliche Transfusionsvolumen bei Kindern, speziell Früh- und Neugeborenen, liegt bei 5–15 ml/kgKG [67]. Höhere Dosierungen sind beim hypovolämischen Schock, bei Austauschtransfusionen und Operationen mit kardiopulmonalem Bypass erforderlich. Die Gabe von 3 ml EK/kgKG erhöht die Hb-Konzentration um ca. 1 g/dl (0,6 mmol/l).

Fazit

Die Querschnitts-Leitlinien stellen hinsichtlich der Systematik ihrer Erstellung, der Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz und der klaren Bewertung der Empfehlungen eine wesentliche Weiterentwicklung der bisherigen Leitlinien dar. Die Herausgeber und Autoren der Querschnitts-Leitlinien haben größten Wert darauf gelegt, den aktuellen Stand des Wissens zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses abzubilden. Leitlinien können aber nicht permanent überarbeitet werden und somit nicht immer aktuell sein. Bei der Anwendung der Querschnitts-Leitlinien in der täglichen Praxis können neue, nichtbeantwortete Fragen auftreten. Im Interesse der Optimierung sind daher alle Nutzer aufgerufen, ihre Erfahrungen im Umgang mit diesen Leitlinien dem Arbeitskreis zur Verfügung zu stellen. Im Fall neuer relevanter Erkenntnisse, die eine Überarbeitung der Querschnitts-Leitlinien erforderlich machen, kann eine kurzfristige Aktualisierung und Information der Öffentlichkeit über das Deutsche Ärzteblatt erfolgen. Der aktuelle Stand der Querschnitts-Leitlinien ist im Internetauftritt der Bundesärztekammer (http://www.baek.haemotherapie.de) abrufbar.