Zwar konnte durch vielfältige Maßnahmen in den letzten 30 Jahren die Letalitätsrate nach einem Trauma in Deutschland praktisch halbiert werden. Dennoch stellt das Trauma in den westlichen Industriestaaten nach wie vor die häufigste Todesursache bis zum 40. Lebensjahr dar [1]. Das Trauma ist demnach ein ernst zu nehmendes Problem unserer Gesellschaft.

Traumaversorgung

Als Ziel der medizinischen Versorgung dieser Patienten werden von Regel et al. [2] eine weitere Verringerung der Letalität und die weitere Verbesserung der körperlichen sowie sozialen Rehabilitation formuliert. Innerhalb dieses hochkomplexen Versorgungsprozesses wird der innerklinischen Primärversorgung im Schockraum eine zentrale Bedeutung beigemessen. Dabei haben bereits in den frühen 1980er Jahren Schweiberer et al. [3] als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Patientenversorgung postuliert, dass ein schnelles Erkennen aller bedrohlicher Verletzungen, das rasche Erfassen der traumatischen Gesamtbelastung und das Setzen der richtigen Prioritäten von essentieller Bedeutung sind. Diese Strategie hat nach wie vor Gültigkeit, zeigen doch verschiedene Untersuchungen [4, 5, 6], dass sich unbegründete Abweichungen vom Behandlungsprozess mit der Gefahr schwerwiegender Komplikationen auch heute noch regelhaft nachweisen lassen. Derartige Managementfehler werden für bis zu 65% der vermeidbaren Todesfälle verantwortlich gemacht – oder anders formuliert: Managementfehler können zu einer Verfünffachung der Letalitätsrate führen [7]. Im Vordergrund stehen in diesem Zusammenhang insbesondere (vermeidbare) Fehler beim Atemwegsmanagement, bei der Blutungskontrolle und beim Management des „instabilen“ Patienten [8]. Umgekehrt konnte gezeigt werden, dass das Behandlungsergebnis schwer Traumatisierter durch ein standardisiertes und strukturiertes Schockraummanagement verbessert werden kann [9].

Das Konzept

Genau an diesem Punkt, einem standardisierten und strukturierten Schockraummanagement, greift der Advanced Trauma Life Support (ATLS®) an. Wie Thies et al. [10] richtigerweise feststellen, handelt es sich dabei zunächst einmal um ein Ausbildungskonzept – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es handelt sich dabei bewusst um ein klares Konzept, das eindeutige diagnostische und therapeutische Prioritäten für die frühe innerklinische Phase der Traumaversorgung definiert. Die wesentlichste Idee dabei ist, dass der Zustand des Patienten anhand der Vitalfunktionen sehr rasch eingeschätzt und die lebensbedrohliche Verletzung zuerst behandelt wird („treat first what kills first“: zuerst behandeln, was zuerst den Tod bedingt). Das Konzept besteht aus einer Erstuntersuchung („primary survey“) des Patienten, die sich an den Vitalfunktionen orientiert und bei Bedarf durch lebenserhaltende Erstmaßnahmen ergänzt wird, dem sogenannten ABCDE-Konzept:

  • A: „airway with cervical spine protection“,

  • B: „breathing,

  • C: „circulation, stop the bleeding“,

  • D: „disability or neurologic status“,

  • E: „exposure (undress) and enviroment (temperature control)“.

Auf diese Erstuntersuchung folgt eine Zweituntersuchung („secondary survey“) mit dem Ziel alle relevanten anatomischen Verletzungen zu erkennen. Dabei werden die Untersuchungen durch weitere diagnostische Schritte, „adjuncts“, ergänzt. Anschließend erfolgt die abschließende Therapie. Das Konzept sieht vor, dass stets überprüft wird, ob die lokalen Ressourcen der Klinik zur Diagnostik und/oder Therapie ausreichend sind. Zudem wird ständig eine „Reevaluation“ des Patienten mithilfe des ABCDE-Konzeptes durchgeführt. Diese Inhalte werden in einem kompakten zweitägigen Kurs für Ärzte vermittelt. Die Kursteilnehmer gehen dabei nicht unvorbereitet in diese Ausbildung; Voraussetzung zur Teilnahme an dem Kurs ist u. a. vielmehr die Vorbereitung der theoretischen Grundlagen anhand des Kursmanuals (ca. 400 Seiten). Die Kursinhalte werden zum einen durch interaktive Unterrichtseinheiten und Demonstrationen, zum anderen mithilfe praktischer Übungen vermittelt. Zusätzlich werden Diskussionen in der Gruppe geführt und die einzelnen Fertigkeiten („skills“) in komplexen Szenarien an simulierten Patienten in das ATLS®-Konzept eingebunden. Die internationale Zertifizierung nach ATLS® wird nach einem schriftlichen Testat und einer praktischen Prüfung am Simulationspatienten vergeben.

Ausgehend von den USA, in denen das ATLS-Konzept in den 1970er Jahren entwickelt wurde, hat es zwischenzeitlich eine weltweite Verbreitung und Akzeptanz gefunden – über 400.000 Ärzte in über 46 Ländern sind nach ATLS® zertifiziert. In zahlreichen europäischen Ländern ist das Konzept eingeführt und teilweise Pflichtbestandteil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung (z. B. Großbritannien [11], Schweiz [12] und Niederlande [13]). Seit Ende der 1990er Jahre wird es auch in Deutschland gelehrt, nachdem die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) vom American College of Surgeons (ACS) autorisiert wurde, ATLS®-Kurse in Deutschland zu organisieren und abzuhalten [9].

Ein Konzept auch für Deutschland?

Thies et al. [10] halten eine Standardisierung der Frühversorgung polytraumatisierter Patienten zunächst „prinzipiell für wünschenswert“, zweifeln aber zunächst „ob dies in der Praxis auch möglich ist“. Als Gründe hierfür führen sie explizit die Problematik der „Heterogenität der Patientengruppe“, die Problematik der „Interdisziplinarität des Behandlungsteams“, die Problematik der „Dynamik der medizinischen Entwicklung“ sowie die „fehlende wissenschaftliche Unterbauung“ von verschiedenen Behandlungsstrategien an.

Mit anderen Autoren [9, 14] sind wir hingegen der Auffassung, dass eine gewisse Standardisierung nicht nur wünschenswert, sondern absolut notwendig ist. Weiterhin sind wir der Auffassung, dass eine derartige Standardisierung auch tatsächlich realisierbar ist. Hierbei kann – aus unserer Sicht – das ATLS®-Konzept sehr wohl auch in Deutschland einen wesentlichen Beitrag leisten. Allerdings muss dabei die Frage erlaubt sein: Was dürfen wir überhaupt erwarten? Kann durch Einführung eines derartigen (oder auch eines anderen geeignet erscheinenden) Konzeptes beispielsweise tatsächlich die Mortalitätsrate gesenkt werden? Aus unserer Sicht ist dies zu bezweifeln – mithilfe einer einzelnen Maßnahme erscheint es in dem so hochkomplexen Prozess der Schwerstverletztenversorgung mit einer Vielzahl an (noch nicht standardisierten bzw. nichtstandardisierbaren) Variablen nicht möglich diesen Nachweis zu führen. Allerdings ist es sehr wohl möglich nachzuweisen, dass sich die Qualität der Schockraumversorgung mit Einführung eines derartigen Konzeptes signifikant verbessern lässt [13].

Zunächst ist einmal zu klären, welche Rolle dem ATLS®-Konzept hier zugerechnet wird. In diesem Zusammenhang muss noch einmal klar betont werden, dass ATLS® primär ein Ausbildungskonzept ist – den Anspruch einer „Leitlinie“ hat ATLS® nicht und kann es auch gar nicht haben. Als ein Ausbildungskonzept mit weltweiter Verbreitung und Akzeptanz, kann es unmöglich die Speerspitze der deutschen bzw. europäischen Forschung und den letzten Stand der medizinischen Maximalversorgung abbilden. In diesem Konzept kommen vielmehr lediglich Basisprozeduren mit weltweiter Akzeptanz zur Anwendung. Dies ist aus unserer Sicht jedoch kein Nachteil, sondern vielmehr ein Vorteil, nämlich: Das Konzept ATLS® als „gemeinsame (interdisziplinäre und nationale sowie internationale) medizinische Sprache“, die im Rahmen der Versorgung schwerst traumatisierter Patienten universell und flexibel einsetzbar ist. So wie die englische Sprache weltweit als „gemeinsame Sprache“ zur Kommunikation genutzt wird, so kann ATLS® als „gemeinsame medizinische Sprache“ genutzt werden. Dabei stellt ATLS® den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ dar. Beispielhaft kann dies im übertragenen Sinne mit der Dokumentationspraxis an unseren Kliniken verglichen werden, die sich am nationalen Traumaregister der DGU beteiligen: In der Regel werden weit mehr Daten im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung schwerst Traumatisierter erhoben, als dies der „nationale Standard“, nämlich das Traumaregister der DGU, fordert. Dieser nationale Standard stellt als „Kerndatensatz“ diesbezüglich lediglich den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ dar [15]. In diesem Sinne kann auch das Konzept ATLS® universell und flexibel in den jeweiligen Schockraumalgorithmus integriert werden. Dies kann im Fall einer Klinik der Grundversorgung, die nur im Ausnahmefall die Primärversorgung schwerst Traumatisierter durchzuführen hat und lediglich über begrenzte personelle, diagnostische sowie therapeutische Ressourcen und damit auch nur über begrenzte Erfahrung im Umgang mit diesen Patienten verfügt, ein Schockraumalgorithmus sein, der sich in diesem Sinne eher „streng“ am ATLS®-Konzept orientiert (z. B. hinsichtlich der radiologischen Diagnostik), während es im überregionalen Traumazentrum eher ein Schockraumalgorithmus sein kann, bei dem die Prinzipen von ATLS® implementiert sind und sämtliche Mitglieder des interdisziplinär besetzten Schockraumteams die „ATLS®-Sprache beherrschen“, aber selbstverständlich die (diagnostischen und therapeutischen) Ressourcen einer solchen Klinik voll genutzt werden. Begründete „Abweichungen“ vom ATLS®-Konzept sind erlaubt und auch erwünscht (Abb. 1a, b). Dies wird bereits vielfach erfolgreich praktiziert. Beispielhaft sollen in diesem Zusammenhang die positiven Erfahrungen von Wurmb et al. [16] aus dem Würzburger Universitätsklinikum genannt werden. Dabei möchten wir an dieser Stelle auch auf einen Umstand hinweisen, der bei dieser Diskussion häufig übersehen wird, oder zumindest wenig Beachtung findet: Die klinische Primärversorgung von Traumapatienten erfolgt in Deutschland keineswegs überwiegend oder gar ausschließlich an Traumazentren, sondern vielmehr in etwa 60% der Fälle in Kliniken der Regelversorgung und lediglich in etwa 40% der Fälle in Schwerpunktzentren [2].

Abb. 1
figure 1

Advanced Trauma Life Support® orientierter Schockraumalgorithmus am Bundeswehrkrankenhaus Ulm (überregionales Traumazentrum); Stand 07.2007. a „Primary survey“, b erweiterte Diagnostik. BGA Blutgasanalyse, CT Computertomographie, etCO 2 endtidaler Kohlendioxidgehalt, FAST „focused abdominal sonography for trauma“, S a O 2 arterielle Sauerstoffsättigung, X-Ray Röntgen

Diese „Universalität“ und „Flexibilität“ des ATLS®-Konzeptes einerseits sowie die Möglichkeit, es national und international einsetzen zu können, gab letztendlich auch den entscheidenden Ausschlag dafür, dass auch der Sanitätsdienst der Bundeswehr sich dieses Konzeptes, insbesondere bei der Traumaversorgung im Auslandseinsatz, bedient [17, 18]. Bei derartigen Missionen kommt eine ganze Reihe von Faktoren zum Tragen, die beim Traumamanagement in Deutschland nahezu unbekannt sind. Hierzu gehört zunächst der „multinationale“ Charakter derartiger Einsätze. Im Gegensatz zu Deutschland ist das medizinische Team nicht nur interdisziplinär, sondern v. a. international zusammengesetzt: So kann es durchaus der Fall sein, dass sämtliche Mitglieder des Schockraumteams aus jeweils völlig unterschiedlichen Ländern dieser Welt kommen, was wiederum mit einer vielfältigen Problematik – wie beispielsweise Sprach- bzw. Verständigungsproblemen sowie eben fehlenden oder zumindest unterschiedlichen Versorgungsalgorithmen – kombiniert sein kann. Zudem erfolgt die Teamfindung meist im Einsatzland, da das medizinische Personal erst kurz vor dem Einsatz zusammengestellt wird [18]. Ganz abgesehen davon, sind die Versorgungsmöglichkeiten je nach Einsatzszenario und -situation z. T. sehr unterschiedlich: So steht beispielsweise auf der Ebene einer Rettungsstation gar keine „konventionelle“ Röntgenkomponente zur Verfügung, auf der Ebene eines Rettungszentrums besteht die Möglichkeit der „konventionellen“ Röntgendiagnostik und auf Ebene eines Feldlazaretts auch die Möglichkeit einer CT-Diagnostik. Dementsprechend muss ein Versorgungsalgorithmus flexibel und universell einsetzbar sein.

Dies leitet auch auf einen weiteren Aspekt in dieser Diskussion hin. Weltweit kam es in den letzten Jahren zu einem dramatischen Anstieg von Terroranschlägen, mit der Folge, dass das Problem der „combat related injuries“ zunehmend auch in die zivilen Kliniken transferiert wird. Im Gegensatz zu Deutschland verfügen zahlreiche Länder inzwischen (zwangsweise) über ausreichend Erfahrung im medizinischen Management solcher Ereignisse [19, 21]. Da in der Mehrzahl dieser Länder eine ATLS®-basierte Versorgung durchgeführt wird, könnten diese Erfahrungen rasch und unkompliziert auch an den zivilen deutschen Kliniken und Traumazentren integriert und umgesetzt werden.

Seit Ende der 1990er Jahre ist die DGU vom ACS autorisiert, ATLS®-Kurse in Deutschland durchzuführen [9]. Dabei wird durch das National Board sehr auf Inter- bzw. Multidisziplinarität geachtet. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich der Kursinstruktoren und Kursdirektoren. In jedem Kurs gehören hierzu nicht nur Chirurgen, sondern immer auch Anästhesisten – und damit die beiden Fachabteilungen, die maßgeblich an der frühen innerklinischen Traumaversorgung und dem Schockraummanagement im engeren Sinne beteiligt sind.

Hinsichtlich des Einwands der fehlenden wissenschaftlichen Unterbauung des ATLS-Konzeptes muss angemerkt werden, dass das Konzept in den 1970er Jahren entwickelt wurde. Aktualisierungen werden, entsprechend den ACS-Richtlinien, in vierjährlichen Abständen durchgeführt und bedürfen nun einer streng evidenzbasierten Grundlage. Dies wiederum hat Vor- aber auch Nachteile, beispielsweise hinsichtlich der Schnelligkeit, mit der Änderungen im Algorithmus in die Praxis umgesetzt werden können. Mit der Teilnahme am ATLS®-Konzept durch die DGU hat Deutschland die Möglichkeit nationale „Bedürfnisse“ über das National Board einfließen zu lassen, was auch schon geschehen ist. Dem Eindruck eines starren, streng auf amerikanische Verhältnisse ausgerichteten Konzeptes, bei dem keinerlei fachliche Einflussmöglichkeiten bestehen, muss aus unserer Sicht klar widersprochen werden – auch hier gilt:

… „Es kommt darauf an, was man daraus macht“ …

Fazit für die Praxis

Festzuhalten bleibt, dass das ATLS®-Konzept nach wie vor das einzige international – ja weltweit – anerkannte Konzept zur strukturierten Versorgung schwer traumatisierter Patienten darstellt. Trotz vieler Schwächen erscheint es uns – gerade aufgrund seiner einfachen und klaren Struktur – universell sowie flexibel einsetzbar und v. a. unter Berücksichtigung lokaler, regionaler oder gar nationaler sowie internationaler Besonderheiten im Sinne einer „common language of trauma“ problemlos in bestehende Schockraumalgorithmen integrierbar. Nicht mehr, aber auch nicht weniger soll und kann ATLS® aus unserer Sicht sein. Im diesen Sinne sehen wir ATLS® als ein Konzept, das auch für Europa geeignet ist.