Zusammenfassung
Schulen müssen als paradigmatische Orte institutioneller staatlicher Bildung, an denen Lernende auf ihr späteres Leben in der Gesellschaft vorbereitet und zu konstruktiven Mitgliedern eines demokratischen Gemeinwesens erzogen werden sollen, einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, Schüler*innen zu einem reflektierten und verantwortungsvollen Umgang mit konfligierenden Ansichten anderer Personen zu befähigen. In dem vorliegenden Beitrag wird vor dem Hintergrund aktueller philosophischer Debatten zur Erkenntnistheorie der Meinungsverschiedenheiten diskutiert, wie eine solche Befähigung fachlich angemessen gelingen und im Rahmen des Philosophie- und Ethikunterrichts didaktisch konkret realisiert werden kann.
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Notes
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Mit doxastisch sind hier all jene Reaktionen bezeichnet, die in einer Bildung, Aufgabe oder Modifikation eigener Überzeugungen und anderer propositionaler Einstellungen bestehen.
- 2.
Die (englischsprachige) Originalversion dieses Falls findet sich bei Christensen (2007).
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Als ergiebige Materialsammlung und Inspirationsquelle für die Entwicklung eigener Gedankenexperimente sei hier auf Frances (2014) verwiesen, wo insgesamt 55 Fallbeispiele von Meinungsverschiedenheiten übersichtlich präsentiert und hinsichtlich ihrer jeweiligen epistemischen Implikationen diskutiert werden.
- 4.
Bei Newcombs Problem handelt es sich um ein klassisches entscheidungtheoretisches Problem, das sich vor dem Hintergrund folgender fiktiver Entscheidungssituation ergibt: Ein Subjekt (S) sieht sich zwei Schachteln gegenüber. In der ersten Schachtel (Schachtel 1) befinden sich in jedem Fall 1000 Euro, in der zweiten Schachtel (Schachtel 2) befinden sich entweder 1.000.000 Euro oder gar nichts. S hat die Wahl entweder (i) nur Schachtel 2 oder (ii) beide Schachteln zu nehmen. Entscheidend ist nun, dass ein Supercomputer bereits im Vorhinein eine geheime Vorhersage darüber gemacht hat, welche Wahl S treffen wird, und auf der Grundlage dieser Vorhersage wird über die Bestückung von Schachtel 2 entschieden: Sieht der Supercomputer voraus, dass S nur Schachtel 2 wählen wird, wird diese Schachtel mit 1.000.000 Euro bestückt. Sieht er allerdings voraus, dass S beide Schachteln wählen wird, bleibt Schachtel 2 leer. Meistens sind die Vorhersagen des Supercomputers korrekt. Wie sollte sich S – gegeben, dass es mit all diesen Informationen vertraut ist – hier entscheiden? Wenn Sie der Meinung sind, dass S beide Schachteln wählen sollte, gehören Sie zum Lager der ‚Two-Boxer‘. Sind Sie jedoch der Meinung, dass S lediglich Schachtel 2 wählen sollte, gehören Sie zum Lager der ‚One-Boxer‘. Für eine ausführlichere Erläuterung des Problems vgl. etwa Weirich (2020, Abschn. 2.1).
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Balg, D. (2023). Wie sollten wir auf Meinungsverschiedenheiten reagieren?. In: Bussmann, B., Mayr, P. (eds) Theoretisches Philosophieren und Lebensweltorientierung. Philosophische Bildung in Schule und Hochschule. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67309-6_6
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